Stand: 08.02.24 06:00 Uhr

Millionen Deutsche: Kein Recht auf Heimat?

von Robert Bongen, Armin Ghassim und Sulaiman Tadmory
Heilerziehungspfleger Mohamed © NDR

Mohamed ist im Ruhrpott aufgewachsen und Pfleger. Voll akzeptiert fühlt er sich trotzdem nicht.

"Ich habe keinen Bock mehr", ruft Mohamed in die Kamera, zweimal. In seinem TikTok-Video spürt man seine Wut und Verzweiflung: "Ich habe die Nase voll! Ich leiste meinen Beitrag, bin in der Pflege, helfe deutschen Menschen mit Behinderung. Und das reicht immer noch nicht." Mohamed ist 28 Jahre alt, im Ruhrpott aufgewachsen und arbeitet als Heilerziehungspfleger. 

"Ich liebe dieses Land. Ich fühle mich als Deutscher", sagt Mohamed im Interview mit Panorama. "Die Leute sehen aber immer den Ausländer in mir, habe ich das Gefühl. Und sie warten nur darauf, dass ich einen Fehler mache", sagt er. Wenn er den Fehler dann nicht mache, sei alles okay. "Dann gehöre ich dazu. Dann habe ich super mitgemacht. Aber sie warten auf diesen Fehler, sie lauern darauf, um sagen zu können: Na, da seht ihr‘s. Er ist kein Teil von uns."

Deutscher Pass: Kein Recht auf Heimat?
51 Prozent aller Deutschen mit Migrationshintergrund bereiten Pläne zu Massenabschiebungen große oder sehr große Angst. Das hat eine repräsentative Umfrage im Auftrag des ARD-Magazins Panorama ergeben.

Nie ganz akzeptiert

Es ist dieses Gefühl - zwar in Deutschland seine Heimat zu haben, aber trotzdem nicht endgültig dazu zu gehören -, das Mohamed aktuell mit vielen anderen Deutschen mit ausländischen Wurzeln teilt. Gerade angesichts der "Massenabschiebungspläne", die kürzlich bei einem Treffen von Rechtsextremisten - unter ihnen auch AfD-Politiker und Mitglieder der Werte Union - in Potsdam diskutiert wurden. Denn da ging es Informationen des Recherchenetzwerks "Correctiv" zufolge auch um "nicht-assimilierte" deutsche Staatsbürger.

2022 lebten 23,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Das entspricht einem Anteil an der Bevölkerung von 28,7 Prozent. Fast genau die Hälfte hat die deutsche Staatsangehörigkeit, rund zwölf Millionen Menschen. Ein Großteil davon ist bereits in Deutschland geboren.

Staatsangehörigkeit besonders geschützt

Ulrich Karpenstein © NDR

Eine Umsetzung der Pläne des Potsdamer Treffens setze einen Staatsstreich voraus, sagt Jurist Karpenstein.

Die deutsche Staatsangehörigkeit ist im Grundgesetz besonders geschützt. So heißt es im Artikel 16: "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden." Diese Bestimmung ist unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Praxis der Zwangsausbürgerungen ins Grundgesetz eingefügt worden.

Sie gelte im Kern auch für Menschen mit einer doppelten Staatsangehörigkeit, betont der Verfassungsrechtler Ulrich Karpenstein, Vizepräsident des Deutschen Anwaltsvereins, im Interview mit Panorama. Das Grundgesetz ermöglicht zwar eine Ausnahme bei Doppelstaatlern, sieht aber für den Entzug der Staatsangehörigkeit bei ihnen nur sehr wenige Möglichkeiten, etwa wenn es zu Terror-Handlungen im Ausland kommt.

Selbst wenn man der Liste eine weitere Möglichkeit hinzufügen würde, "darf sie auf keinen Fall, so wie es bei diesem Potsdamer Treffen diskutiert wurde, an die Hautfarbe geknüpft werden. Sie darf auch nicht an die Herkunft geknüpft werden, sie darf auch nicht an eine wie auch immer zu definierende Assimilation geknüpft werden", sagt Karpenstein. "Die geäußerten Pläne sind ganz klar verfassungswidrig. Da müsste man sich über das Grundgesetz und auch internationale Menschenrechtskonventionen hinwegsetzen", betont er. Das setze einen Staatsstreich voraus.

Rund die Hälfte der Deutschen hat Angst

Dennoch - oder gerade deshalb - machen die in Potsdam diskutierten "Massenabschiebungspläne" selbst Deutschen ohne Migrationshintergrund Angst. In einer repräsentativen infratest dimap-Umfrage im Auftrag von Panorama sagten 51 Prozent der Befragten mit Migrationsgeschichte und 48 Prozent der Befragten ohne, dass ihnen die Pläne große oder sehr große Angst bereiteten. Im Westen ist die Angst etwas größer (49 Prozent groß/sehr groß) als im Osten (42 Prozent).

In den Altersgruppen gibt es keine signifikanten Unterschiede, nur bei den 35- bis 49-Jährigen ist die Angst mit 41 Prozent etwas geringer. Besonders ausgeprägt ist die Angst bei den Anhängern der Grünen und der SPD mit 69 bzw. 61 Prozent. Von den AfD-Anhängern haben nur acht Prozent Angst, 76 Prozent hingegen antworteten, ihre Angst sei weniger groß oder nicht vorhanden.  

Abschiebungspläne rechter Kreise Februar 2024

Hintergrund zur Umfrage von Infratest dimap

Das Umfrageinstitut Infratest dimap befragte im Auftrag von Panorama vom 29. bis 31. Januar insgesamt 1303 zufällig ausgesuchte, wahlberechtigte Personen ab 18 Jahren in Deutschland. Die Fehlertoleranz beträgt zwischen 2 Prozentpunkten (bei 10 Prozent Anteilswert) und 3 Prozentpunkten (bei 50 Prozent Anteilswert).

Abwiegeln und Aufpeitschen

Die AfD hat sich von der Zusammenkunft in Potsdam distanziert und von einem privaten Treffen gesprochen. Ihr Konzept der sogenannten "Remigration" umfasse alle Maßnahmen und Anreize zu einer rechtsstaatlichen und gesetzeskonformen Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer in ihre Heimat, erklärte die Partei jüngst in einem Positionspapier: "Verfassungswidrige Forderungen wie (…) die Abschiebung deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund stoßen auf unsere entschiedene Ablehnung."

Die AfD lehnt Abschiebungen von Deutschen also ab? Noch am Vormittag des 10. Januar 2024, kurz nachdem die Inhalte des Treffens in Potsdam durch "Correctiv" öffentlich geworden waren, las sich das in einem Posting bei X (früher Twitter) noch etwas anders: Da forderte die AfD, die Hürden zum Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft zu senken und erklärte, dass man nicht nur Ausländer konsequent abschieben, "sondern auch Kriminellen, Gefährdern, Terroristen und Vergewaltigern den Pass entziehen" wolle. "Der Automatismus, Straftäter deshalb nicht abzuschieben, weil sie eben auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, ist aufzuheben", wird die AfD-Bundessprecherin Alice Weidel zitiert.

Dies legt zumindest den Schluss nahe, dass es das Ziel der AfD ist, im Zweifel auch Deutsche mit Migrationshintergrund auszubürgern. Nach geltender Rechtslage sind solche Abschiebungen nicht möglich. Verfassungsrechtler wie Ulrich Karpenstein halten auch eine entsprechende Gesetzesänderung vor dem Hintergrund von Artikel 16 Grundgesetz für verfassungswidrig.

AfD-Politiker: Was "erträglich" ist, ist Verhandlungssache

René Springer © picture alliance/dpa Foto: Christoph Soeder

Der AfD-Abgeordnete Springer sagt, man wolle Gesetze verschärfen, sich aber an die Verfassung halten.

Der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer sagt gegenüber Panorama: "Wir stehen als Alternative für Deutschland ganz klar zum Grundgesetz, was nicht heißt, dass wir nicht auch Gesetze verschärfen, da, wo es erforderlich ist, wenn wir in Regierungsverantwortung sind." Diese Verschärfung werde durch den Souverän beschlossen, im Deutschen Bundestag: "Da wird man verhandeln müssen, was für uns erträglich ist und was eben nicht mehr. Und an welcher Stelle man die Hürden senkt, um die Rücknahme von Einbürgerungen zu ermöglichen."

Höcke sieht sich falsch verstanden

Einen Eindruck, was für die AfD "erträglich" ist, bekam man im Dezember beim AfD-Stammtisch in Gera. Dort stellte ein Besucher dem thüringischen AfD-Landeschef Björn Höcke die Frage, was denn eigentlich mit den Millionen sei "ich nenne sie jetzt trotzdem noch Ausländer, die aber längst den deutschen Pass haben, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben".

Höcke antwortete im Verlauf unter anderem: "Wir werden auch ohne Probleme mit 20, 30 Prozent weniger Menschen in Deutschland leben können, das halte ich für ökologisch sogar sinnvoll tatsächlich."

20 bis 30 Prozent? Dass er damit ziemlich genau den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland nennt - 28,7 Prozent, also auch die mit deutschem Pass - wahrscheinlich reiner Zufall. Auf Panorama-Anfrage teilte Höcke mit, das hätten wir falsch verstanden. Die Zahl ergebe sich aus der demografischen Katastrophe, in der sich Deutschland befinde.

Korrekturhinweis: Die Angst vor Massenabschiebungsplänen ist - anders als es in einer früheren Version hieß - bei Befragten im Westen größer (49 Prozent) als im Osten (42 Prozent). Wir haben die Stelle korrigiert.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 08.02.2024 | 21:45 Uhr