Stand: 09.06.23 16:43 Uhr

AfD-Umfragehoch: Nicht einer, sondern acht Gründe

von Sebastian Friedrich

Die AfD liegt derzeit bundesweit bei 18 Prozent - und damit zusammen mit der SPD auf Platz zwei hinter CDU/CSU. In den vergangenen Tagen ist in Politik und Medien eine Debatte über die Ursachen für das aktuelle Umfragehoch entbrannt.

Auf einem AfD-Landesparteitag hängt ein Plakat mit dem Schriftzug «Alternative für Deutschland». © picture alliance/dpa Foto: Stefan Sauer

Dabei dominieren Erklärungsansätze, die durch die Brille der eigenen politischen Agenda nach dem einen Grund für die Zustimmung der AfD suchen: Die einen sehen im Regierungshandeln der Ampel-Koalition die Hauptursache, andere wollen das Phänomen zuvorderst zu einem ostdeutschen erklären. Wiederum andere sind der Ansicht, eine angeblich um sich greifende "Wokeness" sei verantwortlich.

Es mag verführerisch sein, die aktuelle Stärke der in weiten Teilen rechtsradikalen AfD auf einen Begriff bringen zu wollen. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich aber verschiedene Ursachen für das Umfragehoch der Partei. Acht Gründe fallen dabei ins Auge:

1. Schwäche der Ampel-Koalition

Zunächst einmal profitiert die AfD tatsächlich von der schlechten Stimmung gegenüber der Ampel-Koalition. Laut dem Umfrageinstitut infratest dimap ist die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung so hoch wie seit fünf Jahren nicht mehr. Damals - im Sommer 2018 - stand die schwarz-rote Koalition unter Angela Merkel ähnlich stark in der Kritik. Und auch damals konnte vor allem die AfD davon profitieren, sie stand im September 2018 in Umfragen schon einmal bei 18 Prozent.

Aktuell sind vier von fünf Wahlberechtigten weniger oder gar nicht zufrieden mit der Arbeit der Ampel-Koalition. Am unzufriedensten sind AfD-Wähler, bei denen die Quote bei 98 Prozent liegt. Zwei Drittel der AfD-Wähler wollen ihre Stimme der Partei geben, weil sie von den anderen Parteien enttäuscht sind, nur ein Drittel, weil es von der AfD überzeugt ist. Es scheint der Partei also zu gelingen, einen Teil der von der Regierung Enttäuschten an sich zu binden.

2. Ängste vor Krieg, Rezession und Inflation

Den größten Sprung in den Umfragen konnte die AfD nicht in den vergangenen Wochen machen, sondern schon im vergangenen Sommer. Im Juli 2022 lag die Partei noch bei elf Prozent, im September 2022 bereits bei 15 Prozent. Damals standen Ängste vor einer Ausweitung des Kriegs gegen die Ukraine, vor einer Rezession und vor unbezahlbaren Heizkosten im Mittelpunkt der politischen Debatte. Der AfD scheint es zu gelingen, überdurchschnittlich von diesen Ängsten zu profitieren.

Darauf deuten auch die infratest-Zahlen hin. Die Wählerschaft der AfD schätzt ihre eigene soziale Situation schlechter ein als die Anhänger anderer Parteien: 46 Prozent der AfD-Anhänger bewerten die eigene wirtschaftliche Lage als "weniger gut" oder "schlecht". Bei den Anhängern der Union sind es 29, bei denen der Grünen gerade einmal 14 Prozent.

3. Nationalistische Antworten auf die soziale Frage

Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD im Thüringer Landtag © Sebastian Kahnert/dpa

Obwohl in der Bundespartei formal ohne Ämter, prägt er die AfD maßgeblich: Björn Höcke.

Gleichzeitig zeigen die Daten von infratest dimap, dass das Thema Zuwanderung für AfD-Wähler mit Abstand die größte Rolle spielt - das muss aber kein Widerspruch zum gerade genannten Grund sein. Die AfD versucht seit Jahren, sozioökonomische Themen zu kulturalisieren, indem sie etwa Probleme wie Ungleichheit mit Migrationspolitik koppelt. Sie begreift die soziale Frage also nicht als eine "zwischen oben und unten", sondern als eine "zwischen innen und außen", wie es AfD-Politiker Björn Höcke selbst schon häufiger ausgedrückt hat. Das scheint bei einem Teil der Bevölkerung zu verfangen.

4. Unterstützung durch die Union

Unterstützung bei der Kulturalisierung sozialer Probleme erfährt die AfD dabei in letzter Zeit von der Union. Vielleicht inspiriert durch die Strategie der US-Republikaner positioniert sich die stärkste Oppositionspartei verstärkt gegen Gendersternchen, "Wokeness" und "politische Korrektheit". CDU-Chef Friedrich Merz erklärte im vergangenen Sommer "Cancel Culture" zur größten Bedrohung für die Meinungsfreiheit und machte erst vor wenigen Tagen angeblich gendergerechte Sprache im öffentlich-rechtlichen Rundfunk für das Erstarken der AfD verantwortlich.

Merz wollte die Stimmen der AfD halbieren, damit war er im Wahlkampf um den CDU-Parteivorsitz angetreten. Er verfolgt offenbar die Strategie, der AfD im Kampf gegen vermeintliche "Wokeness" nicht das Feld überlassen zu wollen. Doch das scheint nicht zu funktionieren: CDU und CSU stehen zwar in den Umfragen momentan auf Platz eins, stagnieren aber seit langem und können von der schlechten Stimmung gegenüber der Ampel-Koalition kaum profitieren. Anstatt die AfD mit ihrer Strategie zu schwächen, scheint die Union die rechte Konkurrenz eher zu stärken, indem sie diskursiv deren Feld bestellt. Die Ernte fährt allerdings die AfD ein, deren Kerngeschäft nationalistische Identitätspolitik, also der rechte Kulturkampf, ist.

5. Alleinstellungsmerkmal "Friedenspartei"

Ein weiter Grund ist in der öffentlichen Diskussion um den Krieg gegen die Ukraine zu suchen. 55 Prozent sind laut infratest dimap aktuell der Ansicht, dass die Bundesregierung auf diplomatischem Wege zu wenig tue, um den Krieg zu beenden. Zugleich finden immer weniger, dass die bisherige Unterstützung der Ukraine mit Waffen nicht ausreiche. Die AfD profitiert offenbar davon, denn auch bei der Frage nach dem Umgang mit dem Krieg unterscheidet sich die AfD-Wählerschaft stark von denen der Ampel-Parteien und der Union: Bei SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU sind zwischen 32 und 43 Prozent dafür, dass Deutschland Kampfflugzeuge an die Ukraine liefern soll - bei der AfD sind es nur sieben Prozent.

6. Erfolgsmeldungen aus Ostdeutschland

Besonders stark ist die AfD im Osten, wo sie inzwischen sogar mit Abstand auf Platz eins liegt. Dennoch wäre es falsch, die AfD primär zu einem hauptsächlich ostdeutschen Phänomen zu erklären, denn auch bei der Bundestagswahl hatte sie bereits überdurchschnittlichen Erfolg im bevölkerungsarmen Osten - dennoch kamen zwei von drei Wählerstimmen aus den westdeutschen Bundesländern.

Es gelingt der AfD im Osten deutlich besser als im Rest des Landes nicht nur Wähler anzusprechen, sondern auch in den vorpolitischen Raum vorzustoßen, in Vereinen und Initiativen vor Ort präsenter zu sein. Ostdeutschland fungiert als Kraftzentrum für die besonders rechtsstehenden Vertreter der Partei, aber inzwischen auch für die AfD insgesamt. Hier kann sie sich als stärkste Kraft der Region beständig im Gespräch halten. Hinzu kommt: Jeder einzelne bundesweite Beitrag, der sich in den vergangenen Wochen mit der Rolle der AfD im Osten befasst hat, ist für die Partei allen voran eines: eine Erfolgsmeldung.

7. Machtkämpfe nicht mehr auf offener Bühne

Der Partei kommt außerdem zugute, dass nach dem Austritt von Ex-Parteichef Jörg Meuthen und der Neuwahl des Bundesvorstands vor einem Jahr, deutlich weniger von den parteiinternen Macht- und Richtungskämpfen nach außen dringt. Das heißt nicht, dass es nicht weiterhin Streit gibt, nur findet dieser disziplinierter, leiser und subtiler statt. Für die Kernwählerschaft der AfD mag für die Wahlentscheidung nachrangig sein, wie geschlossen die Partei auftritt. Für Wechsel- oder Nichtwähler aber dürfte das Bild, das die Partei nach außen abgibt, einen deutlich höheren Stellenwert einnehmen.

8. Normalisierung

Die AfD wird zunehmend als normale Partei wahrgenommen. Das zeigen etwa Erhebungen zur Frage, ob man die AfD auf keinen Fall wählen würde. Laut dem Meinungsforschungsinstitut INSA hatten 2020 diese Frage noch 74 Prozent bejaht. Heute sind es nur noch 55 Prozent. Dem stehen laut INSA 24,5 Prozent gegenüber, die sich grundsätzlich vorstellen könnten, die AfD zu wählen.

Ein weiteres Indiz für die Normalisierung der Partei: Immer mehr Menschen halten die AfD für eine "normale demokratische Partei": Heute sind es laut dem Institut für Demoskopie Allensbach 27 Prozent, im Jahr 2016 waren es noch 17 Prozent. Dabei findet diese Normalisierung zu einem Zeitpunkt statt, an dem die Partei so weit rechts steht wie nie zuvor.

Es ist es auch nicht ausgeschlossen, dass die Werte für die AfD noch weiter steigen werden. Einerseits zeigen Umfragen seit Gründung, dass die Partei ein maximales Wählerpotenzial von - je nach Umfrage - 20 bis 25 Prozent hat. Demnach hätte sie ihr Potenzial bereits weitgehend ausgeschöpft. Aber sollte der Normalisierungsprozess anhalten, könnte auch das Wählerpotential für die in weiten Teilen rechtsradikale Partei zunehmen.

Dieses Thema im Programm:

Panorama | 09.06.2023 | 13:49 Uhr