Fehlende Willkommenskultur verschärft Fachkräftemangel

von Sebastian Bellwinkel

Der Fachkräftemangel lähmt die deutsche Wirtschaft und gefährdet unseren Wohlstand. Wirtschaftswissenschaftler rechnen vor: Wir müssten netto etwa 400.000 Arbeitskräfte aus aller Welt anwerben - jedes Jahr. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr Reformen angestoßen und das ihrer Ansicht nach "modernste Einwanderungsrecht der Welt" geschaffen - bestehend aus einem neuen Fachkräfte-Einwanderungsgesetz und der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Doch Experten warnen: Es brauche genauso dringend eine echte Willkommenskultur in der Gesellschaft, in Behörden, in der Politik.

Fehlende Willkommenskultur verschärft Fachkräftemangel
Die Bundesregierung bemüht sich, Fachkräfte aus aller Welt anzuwerben. Doch Deutschland fehlt eine echte Willkommenskultur.

Bundesregierung wirbt weltweit um Fachkräfte

Das ganze vergangene Jahr über haben sich die Mitglieder der Bundesregierung bemüht, dringend benötigte Fachkräfte in der ganzen Welt zu umgarnen. Arbeitsminister Heil warb in Ghana ebenso wie in Brasilien: Pflegekräfte, IT-Experten, Ingenieure, kommt nach Deutschland! Genauso händeringend wirbt die Bundesregierung im Netz. Auf Seiten wie "Make it in Germany" stellt sie erfolgreiche Migrationskarrieren vor, macht Appetit auf mehr.

Dabei erscheint alles unkompliziert und einfach. "Mein Traum ist wahr geworden", wird ein strahlender Ägypter namens Fadi Shanan zitiert, der jetzt als Biomedizintechniker in einem Berliner Unternehmen Hard- und Software für Operationssäle entwickelt.

Fadi Shanan © NDR

Zunächst bekam Fadi Shanan auf seine Bewerbungen nur Absagen.

Doch so einfach wie behauptet war sein Weg nicht. Vor zehn Jahren hat er sich das erste Mal in seinem "Traumland" Deutschland beworben - auf Englisch, so ist es in seiner Branche international üblich. "Ich habe gut 500 Bewerbungen geschickt - die Antwort war immer nein", sagt er rückblickend. So wie er bewerben sich in Deutschland Zehntausende in der Weltsprache Englisch.

Nur fünf Prozent englischsprachige Stellenausschreibungen

Eigentlich dürfte das, so denkt man, kein Problem sein, wenn Deutschland internationale Fachkräfte will. Ist es aber, sagt der deutsche Karriereberater Chris Pyak. Dieser hat dem Ägypter Shanan schließlich geholfen, doch noch Vorstellungsgespräche im vermeintlich gelobten Land zu bekommen. Nur fünf Prozent der deutschen Unternehmen schreiben ihre Stellen auf Englisch aus, sagt Fachmann Pyak.

Chris Pyak © NDR

Chris Pyak kritisiert die hiesige Willkommenskultur deutlich.

Aus seiner Sicht symptomatisch für die hiesige Willkommenskultur: "Es herrscht halt immer noch die Vorstellung, wir sind der Nabel der Welt und alle wollen zu uns kommen. Das ist schon lange nicht mehr so." Jeder, mit dem er es zu tun habe, interessiere sich für Deutschland - aber eben als eine von vielen Optionen. "Die Bewerber würden genauso in die Niederlande gehen, nach Frankreich oder Singapur. Und wenn das alles für sie gleichwertig ist, gehen sie dann hin und lernen auf gut Glück Deutsch, Holländisch und Chinesisch? Nein, sie warten, bis sie einen Arbeitsvertrag unterschrieben haben. Und dann fangen sie an, die Regionalsprache zu lernen", sagt Pyak.

Hoher Anteil an Diskriminierungserfahrungen

Doch die Deutsche-Michel-Mentalität ist Shanan nicht nur in den 500 Absagen begegnet, sondern bis heute auch regelmäßig beim Besuch von Behörden. Egal, ob es um Aufenthaltstitel geht oder banale Dinge des Alltags. "Manchmal habe ich Angst davor. Klar, ich verstehe und spreche die deutsche Sprache noch nicht so gut, aber ich versuche es. Neulich im Bürgeramt, es ging um den Führerschein. Die Mitarbeiterin dort war, ehrlich gesagt, respektlos. Ich hatte Mühe, sie zu verstehen, sie verdrehte nur die Augen. Kein Entgegenkommen. Warum nur? Ich war der einzige da, keine Warteschlange, kein Stress." Damit ist er kein Einzelfall.

Eine Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung Tübingen kommt zu dem Ergebnis: Zwei von drei hochqualifizierten Fachkräften aus außereuropäischen Ländern haben aufgrund ihrer Herkunft bei uns solche Diskriminierungserfahrungen gemacht, die Hälfte davon in Behörden, ein Drittel im Arbeitsleben.

Repräsentative Befragung unter ausländischen Fachkräften bezüglich ihrer Erwartungen bei einer Bewerbung in Deutschland. © NDR

Die Befragung unter ausländischen Fachkräften kommt zu eindeutigen Ergebnissen.

Die Folgen hat das Team des Arbeitsmarktforschers Thomas Liebig untersucht. Der Experte von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat weltweit 30.000 repräsentativ ausgewählte Menschen zu ihren Erwartungen bei einer Bewerbung in Deutschland befragt. Rund drei Fünftel der ausländischen Fachkräfte nannten als wichtiges Kriterium: Das Land meiner Träume ist positiv gegenüber Einwanderern eingestellt. Deshalb, so der Forscher, seien sie für Berichte über fehlende Willkommenskultur besonders sensibel - sei es in Behörden oder auf der Straße.

Thomas Liebig © NDR

Negative Schlagzeilen bremsen die Zuwanderung aus, mahnt Thomas Liebig.

"Heutzutage, gerade durch die sozialen Medien, gehen negative Geschichten sehr, sehr schnell rum unter den Zuwanderern und haben einen realen Einfluss. Wenn es zu Demonstrationen kommt, ausländerfeindlichen Ausschreitungen - das wird sehr stark wahrgenommen, und zwar gerade auch bei der Gruppe, um die es hier geht: die, die sich aussuchen können, wo sie hingehen."

Scholz fordert Bewusstseinswandel

Schon im vergangenen Sommer dräute dem Bundeskanzler, dass ein paar geänderte Gesetze womöglich nicht reichen werden, um die Migration dringend benötigter Fachkräfte anzukurbeln. Beim Ostdeutschen Wirtschaftsforum forderte Olaf Scholz einen "Bewusstseinswandel" im ganzen Land: "Nämlich die Einsicht, dass ausländische Fachkräfte nicht nur gebraucht werden, sondern wirklich willkommen sind." 

Doch so sehr sich zahlreiche Unternehmer:innen auch um ein besseres Klima bemühen - angesichts der prognostizierten AfD-Wahlergebnisse um 30 Prozent bei den anstehenden Landtagswahlen in ostdeutschen Bundesländern droht sich das Problem für die deutsche Wirtschaft weiter zu verschärfen. Denn schon in der Vergangenheit, berichtet Karriereberater Pyak, haben ausländische Fachkräfte die Reißleine gezogen - und Deutschland wieder verlassen.

"Dann gehe ich halt woanders hin"

Einer seiner Fälle sei eine indische Wissenschaftlerin gewesen, die von einem Unternehmen in Süddeutschland eingestellt worden sei, um ein neues Produkt zu entwickeln. "Mit dem Tag ihrer Einstellung wurden sechs Laborassistentinnen eingestellt, denn die brauchten sie, um das Labor zu betreiben. In ihrem süddeutschen Dorf hat die indische Forscherin aber nur Ablehnung und Vorurteile erlebt. So sehr, dass sie nach einem Jahr entnervt hingeschmissen hat und gesagt hat: Dann gehe ich halt woanders hin. Und mit ihrer Kündigung haben auch alle sechs Laborassistentinnen direkt ihren Job verloren." Die Inderin arbeite nun erfolgreich in der Schweiz.

Fadi Shanan, der aus Ägypten stammende Biomedizintechniker, macht sich auch seine Gedanken. Sein Bruder lebe in Kanada. Und dort herrsche in Sachen Zuwanderung eine tatsächliche Willkommenskultur. "Wenn ich das Gefühl bekomme, nicht mehr willkommen zu sein - dann gehe ich auch."  

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Das Erste | Panorama | 18.01.2024 | 21:45 Uhr