Stand: 11.06.20 12:41 Uhr

Göttingen: Vorverurteilung nach Corona-Ausbruch?

von Philipp Hennig, Jörg Hilbert

Nach dem neuen Corona-Ausbruch in Göttingen Anfang Juni waren die vermeintlich Schuldigen schnell gefunden: "Großfamilien" auch aus dem Hochhauskomplex "Iduna Zentrum". Sie sollten verantwortlich sein für die Infektionswelle. Mittlerweile gibt es mehr als 200 Corona Infektionen in der Stadt und dem Landkreis Göttingen.

Göttingen: Vorverurteilung nach Corona-Ausbruch?
Zahlreiche Bewohner eines Hochhauses haben sich mit Corona infiziert und werden für die neue Infektionswelle in Göttingen verantwortlich gemacht. Die Anwohner fühlen sich diskriminiert.

Nach Mitteilung der Stadt stünden die Infektionen "mit mehreren größeren privaten Feierlichkeiten" im Zusammenhang. Betroffen seien überwiegend "Mitglieder mehrerer Großfamilien". Schnell rückten das Zuckerfest am 24. Mai und muslimische Roma-Familien in den Fokus der Berichterstattung. Presse und Internetkommentatoren schlachten das Thema seitdem genüsslich aus. Tenor: Feiernde Muslime, die sich an keine Regeln halten. Später legt die Stadt noch einmal nach: Man gehe Hinweisen auf ein Treffen in einer Shisha-Bar nach. Obwohl die Stadt später erklärte, dass es keine Belege für Infektionen in der Shisha-Bar gäbe, war die Geschichte schon in der Welt.

Dünne Beleglage

Kelmend Saciri © ARD/NDR Foto: Screenshot

Kelmend Saciri fühlt sich durch die Vorwürfe diskriminiert. Er erklärt, dass keine große Familienfeier stattgefunden habe.

Panorama hat mit Mitgliedern einer betroffenen Familie gesprochen, die im "Iduna Zentrum" wohnt. Mehr als 600 Menschen leben im Hochhauskomplex, dicht an dicht. Ein idealer Ort für das Virus. Auch Kelmend Saciri hat mehrere Infizierte in seiner Familie. Den Vorwurf, seine Familie habe privat groß gefeiert, weist der muslimische Roma gegenüber Panorama zurück: "Die haben in der Zeitung geschrieben über eine große Feier. Da war überhaupt nichts. Da war keine große Feier. Wie können wir eine große Feier machen in einer Wohnung mit 71 Quadratmetern? Oder mit 50 Quadratmetern?"

Auch der Prediger der betroffenen Moschee, in der das Gebet zum Zuckerfest, also dem Ende des Fastenmonats Ramadan, stattgefunden hat, beteuert, sich an alle Regeln gehalten zu haben. "Wir haben gesagt, derjenige, der keine Maske hat, kommt nicht rein. Wir machen die Hygienevorschriften noch stärker, als sie staatlich festgelegt sind", erklärt Prediger Mahmoud Abdel Aziz gegenüber Panorama. Am Tag des Zuckerfestes habe man die Betenden in zwei Gruppen aufgeteilt, um weniger Menschen zum selben Zeitpunkt in der Moschee zu haben.

Mahmoud Abdel Aziz © ARD/NDR Foto: Screenshot

Die Hygienemaßnahmen würden in der Moschee strikt umgesetzt, sagt Prediger Mahmoud Abdel Aziz.

Auf einer Pressekonferenz am vergangenen Samstag verteidigt die Stadt Göttingen ihre Schuldzuweisung. Auf Nachfrage von Panorama erklärt Petra Broistedt, Leiterin des Krisenstabs in Göttingen: "Da gibt es dann einige, die sich auf Feiern angesteckt haben, die nach Hause gegangen sind, ihre Familien wieder angesteckt haben. Möglicherweise auch die Nachbarn angesteckt haben, weil sie nicht wussten, dass sie infiziert sind".

Quarantänebrecher als Auslöser?

Die Stadt beruft sich nach eigenen Angaben auf Aussagen der im Rahmen der Kontaktverfolgung Befragten. Handfeste Belege für Feiern scheint es nicht zu geben. Trotzdem ist der Vorwurf jetzt in der Öffentlichkeit. Viele Bewohner des "Iduna Zentrums" fühlen sich diskriminiert. Sie haben einen ganz anderen Verdacht, wer das Virus im Hochhauskomplex verbreitet haben könnte.

Und auch die Stadt Göttingen bestreitet auf Nachfrage nicht, dass es bereits am 17. Mai einen nachgewiesenen Corona-Fall im Iduna Zentrum gab. Der Infizierte wurde unter Quarantäne gestellt, an die er sich aber offenbar nicht hielt. "Diese Person wurde mehrfach bei Regelverstößen gesichtet", betont Prediger Mahmoud Abdel Aziz.

Petra Broistedt © ARD/NDR Foto: Screenshot

Petra Broistedt, Leiterin des Krisenstabs in Göttingen, verteidigt die Schuldzuweisungen der Stadt Göttingen.

Erst am 29. Mai wird der Mann schließlich von der Polizei abgeführt. Mehr als eine Woche vor dem Zuckerfest hat er also Menschen in dem Hochhauskomplex anstecken können.

Dennoch erklärt die Stadt ein Mitglied einer muslimischen Roma-Familie zum "Patienten Null" und damit zum Ursprung der Infektionswelle. Dieser Bewohner war nach dem Zuckerfest mit schwerwiegenden Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Aber vielleicht war er gar nicht der "Patient Null"?

Auf Nachfrage von Panorama erklärt nun Petra Broistedt, Leiterin des Krisenstabs: "Ich kann Ihnen heute weder bestätigen noch dementieren, dass dieser erste Quarantänebrecher, die Person war, die den Menschen, der jetzt im Krankenhaus liegt, infiziert hat. Das kann sein, das kann aber auch nicht sein."

Wer wen wann und wo infiziert hat, wird sich vermutlich nie herausfinden lassen. Aber die unbelegte Geschichte von den feiernden Großfamilien lässt sich wohl nicht mehr einfangen. Sie hat ihr dankbares Publikum gefunden.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 11.06.2020 | 21:45 Uhr