Klimaalarm: Politiker immer stiller, Wissenschaftler immer schriller

von Stefan Buchen

Saul Luciano Lliuya ist ein Geschädigter des Klimawandels. Das behauptet der Landwirt aus den peruanischen Anden zumindest. Er wohnt unterhalb eines Gletschers. Der Gletscher taut, und das Schmelzwasser hat einen Bergsee entstehen lassen, der nun überzulaufen droht. Niemand weiß, wie lange die Befestigungen des Seeufers, die der Landwirt und seine Nachbarn bauen, den sich allmählich auftürmenden Wassermassen werden standhalten können. Saul Luciano Lliuya und Teile seiner Heimatstadt Huaraz leben mit dem Horrorszenario, eines Tages von einer Sturzflut aus Wasser und Schlamm begraben zu werden. Rund 50.000 Einwohner aus Huaraz seien von einer Flutwelle bedroht.

Klimaalarm: Politiker immer stiller, Wissenschaftler immer schriller
Pässe für Klimaflüchtlinge? 30 weitere Jahre Braunkohleförderung? In der Debatte um die Erwärmung der Erde prallen wissenschaftliche Analysen und realpolitische Zwänge aufeinander.

Die Folgen des Klimawandels

Hier geht es nicht um Schicksal, sondern um Schuld und Verantwortung. So sieht es der peruanische Bauer. Denn der Andengletscher über ihm schmelze nicht zufällig, sondern wegen der steigenden Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre. Diese Gase, vor allem Kohlendioxid, haben Menschen mit ihren auf Wachstum und Gewinn zielenden Aktivitäten in die Luft geblasen. Daher rührt, so der wissenschaftliche Konsens, die aktuelle Aufheizung der Erde. Für Saul Luciano Lliuya heißt das: seine Lebensgrundlagen sind durch den von Wirtschaftsunternehmen und Verbrauchern anderswo auf der Welt verursachten Treibhausgasausstoß akut gefährdet.

Klage gegen RWE

Saul Luciano Lliuya

Saul Luciano Lliuya hat Angst vor den Folgen des Klimawandels: ein Gletschersee droht, seine Stadt zu überfluten.

In einer Art Pionierklage versucht der peruanische Landwirt nun, den größten deutschen CO2-Emittenten RWE zur Rechenschaft zu ziehen. Kein anderes deutsches Unternehmen habe in der historischen Gesamtrechnung so viele das Klima aufheizende Gase freigesetzt wie die "Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke". Weltweit sei RWE für 0,47 Prozent des menschengemachten Treibhauseffektes verantwortlich. Das Unternehmen müsse deshalb eine diesem Anteil entsprechende Proportion der Summe bezahlen, die für Schutzmaßnahmen rund um den Gletschersee benötigt werden. Bei einer Gesamtsumme von rund 3,5 Mio. Euro fielen 17.000 Euro auf RWE. Das Landgericht Essen wies die Klage zurück. Die Berufung gegen diese Entscheidung wurde vom Oberlandesgericht Hamm als zulässig eingestuft. Der Energiekonzern RWE wehrt sich gegen die Klage mit dem Kernargument, dass Klimafolgen nicht individuell zugerechnet werden könnten. Es bestehe keine Haftungsgrundlage. Im kommenden Jahr wird am Oberlandesgericht Hamm wohl über den Fall verhandelt.

Das mag alles verrückt klingen. Aber führende Wissenschaftler in Deutschland halten diese Klage für mustergültig. Sie sagen sogar: "Wir brauchen mehr davon!" Die Wissenschaftler, die dies fordern, beraten ganz offiziell die Bundesregierung. Sie bilden den "Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen", kurz WBGU. Die Beiratsvorsitzende Sabine Schlacke, Juraprofessorin an der Uni Münster, sagt, es gehe hier um "das Verursacherprinzip". Der WBGU hat hohes Ansehen. In der Vergangenheit hat der Beirat die Klimapolitik der Bundesregierung entscheidend beeinflusst. Das "Zwei-Grad-Ziel", das in das Klimaabkommen von Paris eingeflossen ist, ging auch aus den Studien des WBGU hervor. 

WBGU-Papier

"Zeit-gerechte Klimapolitik" - so lautet der Titel des Papiers des "Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen" (WBGU).

In ihrem neuen Papier "Zeit-gerechte Klimapolitik" empfehlen die Forscher der Bundesregierung, Klagen von Geschädigten des Klimawandels wie die von Saul Luciano Lliuya künftig finanziell zu unterstützen. Denn häufig fehle solchen Betroffenen das Geld, um sich ein Gerichtsverfahren in Deutschland oder in einem anderen Industrieland leisten zu können. Die Klage des Landwirts aus Peru wird von der NGO "Germanwatch" unterstützt.

Klimapass für Flüchtlinge - alles nur Provokation?

Prozesskostenhilfe aus der deutschen Regierungskasse für Kläger vom anderen Ende der Welt? Für eine Klage gegen einen deutschen Konzern? Das klingt nicht nach einem populären Highlight in einem Parteiprogramm. Wer wird mit so etwas in den Wahlkampf ziehen wollen? Doch damit nicht genug. Außerdem rät der WBGU zur Einführung eines "Klimapasses". Ein solches Reisedokument solle künftig Bewohnern von Staaten ausgestellt werden, die wegen des Klimawandels im wahrsten Sinn des Wortes "untergehen". Die Inhaber eines solchen Klimapasses sollen sich demnach ihr Zufluchtsland frei auswählen dürfen. Dafür solle Berlin sich bei der Weltklimakonferenz im Dezember im polnischen Kattowice einsetzen. 

"Wissenschaftlich begründete Provokationen", nennt WBGU-Mitglied Hans Joachim Schellnhuber die neuen Vorschläge an die Bundesregierung. Was ist da los?, hat sich Panorama gefragt. Wie kommen "die Provokationen" bei der Bundesregierung an, und warum meinen die Wissenschaftler überhaupt, "provozieren" zu müssen?

Georg Schütte

Forschungsstaatssekretär Georg Schütte kann mit den Forderungen des Politik-Papiers des WBGU wenig anfangen.

Die Reaktion der Bundesregierung ist eindeutig. Bei der Vorstellung des WBGU-Papiers hat Forschungsstaatssekretär Georg Schütte sichtlich Mühe, seinen Unwillen in diplomatische Worte zu fassen. Er plädiere "für eine neue Dialogfähigkeit der Wissenschaft". Diese solle sich nicht nur von einem "moralischen Imperativ" leiten lassen. Angesichts der gegenwärtigen politischen Debatte in Deutschland müsse man doch "zunehmend sensibel" sein. Die Bundesregierung wird, wie Panorama aus vertraulicher Quelle erfuhr, die neuen WBGU-Vorschläge bei den Weltklimaverhandlungen in Kattowice nicht vorantreiben.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 29.11.2018 | 21:45 Uhr