Reise durch eine veränderte Republik: Teil 2

Radio: "Die Angst der Deutschen vor den Konsequenzen von militärischen Vergeltungsschlägen ist groß. Nach einer Umfrage von infratest dimap befürchten siebzig Prozent der Befragten, dass sich der Konflikt ausweiten könnte und dann der Weltfrieden in Gefahr sei."

Das Kaiser-Wilhelm-Stift in Kiel ist seit über hundert Jahren ein Altenheim. Das Haus hat zwei Weltkriege überstanden. Derzeit durchlebt es eine ganz neue Krise.



Radio: "Die Attentate seien aus seiner Sicht der erste Krieg des 21. Jahrhunderts, erklärte US-Präsident Bush vor der Presse."

Im Radio reden sie wieder von Krieg. Und das ist ein bisschen wie damals, sagt Alma Bielefeld. Manchmal weiß sie bei all den Meldungen gar nicht mehr, wohin mit ihren Gefühlen. "Also, die Wut kommt hoch. Die Trauer, die will gar nicht weggehen. Es ist einfach schrecklich."

Schwere Tage. Doch wenigstens das Kaffeekränzchen ist noch krisensicher. Hier in der Runde sind sie für ein paar Stunden nicht alleine. Sie tauschen Eindrücke aus, sprechen über die Bilder im Fernsehen. Und immer wieder kommen da die Erinnerungen hoch.

Alma Bielefeld erzählt: "Ich hab' im Moment gedacht, es wäre wieder 1943, Dortmund würde zerstört, die ganze Nacht. Da habe ich Schwester und Bruder verloren."

Und Hilde Friedrichs: "Wir haben das ja alles vor Ort erlebt. Wir haben ja unter Trümmern gesessen und haben unsere Angehörigen beweint. Das haben wir hinter uns."

Die dritte alte Dame Marie Loose: "Also wir sind nicht mehr so sorglos und so sicher. Und nun wird auch noch von Krieg geredet."

Es hat sich etwas verändert bei den Alten, das bemerkt auch Heimleiter Hartig. Erst seien alle aufgeregt gewesen, dann kehrte eine seltsame Stille ein. Normalität? Davon ist das Heim noch weit entfernt.

"Ich denke, die Angst vor allen Dingen, was in der Zukunft kommen wird, das wird bleiben." Heimleiter Hans-Joachim Hartig weiter: "Das Haus ist aus der Lethargie raus, aber noch lange nicht aus der Sorge. Oder vielleicht tauchen die Sorgen jetzt erst richtig auf: Was wird jetzt werden."

Die Heimbewohnerinnen sind sich einig: "Angst vorm Krieg. Wir haben wirklich Angst."

"Angst, Angst, Angst, dass wieder etwas kommen könnte." "Dass auch vielleicht sehr viele Menschen, die gar nichts damit zu tun haben, betroffen sind."

Und so dringt die Krise der Welt hinein in jedes einzelne Altenheimzimmer. Nach dem Kaffeekränzchen ziehen sich die Bewohnerinnen zurück und sind dann wieder allein mit ihren Gedanken und mit ihren Sorgen.

"Hoffentlich eskaliert das Ganze nicht", denkt Hilde Friedrichs. "Man weiß es ja nie. Das ist aber nicht in unserer Macht, wir sind ja lauter Omis, wir sind alle über 80. Was wollen Sie von uns noch erwarten? Da wüsste ich nicht, wie ich da eingreifen sollte. Weiß ich nicht. Ich bin einfach starr."

Radio Skyline aktuell: "Der Frankfurter Flughafen wurde wegen einer Bombendrohung kurzfristig geräumt. Aus dem Maintower mussten die Angestellten ebenfalls evakuiert werden. Nach Polizeiangaben hatte ein unbekannter Anrufer die Explosion einer Bombe angekündigt."

Frankfurt Downtown, Maintower. Büros für über 3.000 Menschen, überwiegend Banker oder Broker. Dem Grauen von Manhattan, sagen die Leute hier, ist man ein bisschen näher, in rund 200 Metern Höhe.

Der Fahrstuhl nach ganz oben, 54. Etage. Hier sitzt auch ein Radiosender, Skyline vom Hessischen Rundfunk, das Wirtschaftsnachrichten-Programm. Klaus Samay war hier oben am Tag, an dem Passagierflugzeuge wie Bomben auf New York gesteuert wurden. Auch der Maintower wurde geräumt - eine reine Vorsichtsmaßnahme.

"Man denkt sicherlich mehr über die Risiken nach, die bestehen", berichtet Klaus Samay. "Wir haben ja hier hinter uns die Einflugschneise. Da kommen die Flugzeuge auf den Frankfurter Flughafen rein. Und im Zweifelsfall kommt hier keiner so ohne weiteres raus. Die Treppenhäuser wären vermutlich voll oder wären verqualmt. Nur, was bleibt einem anderes übrig. Den Gedanken kann man eigentlich nicht weiter denken, den kann man nicht zu Ende denken."

Ein Gedanke, mit dem sich mehrere Tausend Frankfurter aber schon beschäftigen mussten, gezwungenermaßen. Hochhäuser wurden evakuiert nach Bombendrohungen. Insgesamt gab es schon 28 seit New York. Alle Fehlalarm, Trittbrettfahrer. Aber jedesmal wird die Angst ein bisschen größer, sagen die Passanten.

"Ich wünschte, den Tag hätte es nicht gegeben, wie die meisten Leute wahrscheinlich."

"Was soll ich machen, was ist nächste Woche, nächsten Monat?" "Ich bin immer noch zutiefst geschockt, und ich hab' richtige Angst auch."

Angst da oben. Die Sicherheitsvorkehrungen im Maintower sind drastisch verschärft worden, auch wenn die Bombendrohungen bislang nur ganz üble Scherze waren.

"Das Dumme ist nur, das man natürlich nicht unterscheiden kann, wann eine Drohung ernster zu nehmen ist und wann nicht", so die Sorge von Klaus Samay von Radio "Skyline". "Und es ist allemal ärgerlich, wenn Beschäftigte, die dann aus dem Gebäude heraus mussten und sicherlich noch stärker drüber nachgedacht haben, wie riskant eigentlich das Arbeiten in einem Hochhaus sein kann. Und ich weiß von Bewohnern hier in der Umgebung der Hochhäuser, Menschen, die in kleineren Häusern drumrum wohnen, die sorgen sich natürlich, weil ihnen dasselbe passieren könnte wie in New York, dass nämlich einfach ein großes Hochhaus auf sie drauffällt."

Ein Horrorszenario, das sich hoffentlich nie wiederholt. Und wegziehen aus Downtown, sagen die Menschen trotzig, kommt sowieso hier nicht in Frage.

Die deutsche Gemeinde in New York: Wie eine Trutzburg steht sie da, die St. Paul's-Kirche in Manhattan. Seit mehr als hundert Jahren bietet sie Schutzbedürftigen Unterschlupf - früher den Einwanderern, heute den Gestrandeten des New Yorker Attentats. Eine Anlaufstelle also für alle, die ihre Verwandten suchen, nicht mehr genug Geld haben oder nur eine Bleibe brauchen. Der Gesprächsbedarf ist groß in diesen Tagen. Wie alle in New York suchen sie die Nähe der anderen. Denn wohin mit dem Entsetzen und der Trauer.

"Also ich trauer einfach um Leute, die umgekommen sind", so berichtet einer. "Aber ich sage nicht, ich trauer nur für Amerikaner oder nur für Deutsche, wie auch immer. Es tut einfach weh, wenn man sieht, wie die Leute hier umkommen oder was passiert ist."

"Ich denke, alle Leute rufen nach Rache. Und alle Leute, die jetzt um ihre Leute trauern, sehen gar nicht, was durch einen Racheschlag passieren kann, nämlich dass auf der anderen Seite der Welt genau dasselbe passiert anderen Leuten."

Alle fragen sich: Wie reagiert Amerika. Immer wieder hören sie kriegstreiberische Bemerkungen, allzu leichtfertig dahingesagt. Soenke Schmidt-Lange ist Pfarrer der deutschen Gemeinde: "Sie müssen sich vorstellen, dass die meisten Menschen hier im Lande Krieg nicht erlebt haben im eigenen Lande. Und es gibt ja auch nicht allzu viele, die in Vietnam oder in Korea waren. Krieg ist für manche tatsächlich etwas so wie ein großangelegtes Männerspiel. Und das ist es eben nicht."

Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat die Regierung der Vereinigten Staaten vor einer Eskalation der Gewalt gewarnt und zur Besonnenheit gemahnt. Dies sei die größte Bewährungsprobe für den neuen US-Präsidenten George W. Bush.

Auf dem Weg ins hessische Gießen, zur Trutzburg eines überzeugten Pazifisten und Menschenfreundes. Horst-Eberhard Richter, Arzt, Psychoanalytiker und Kultautor der Friedensbewegung. Seine Sorge gilt - nach den unfassbaren Attentaten - jetzt einem möglichen Kreuzzug, der ausgelöst werden könnte:

"Im Moment ist jetzt in der Welt etwas passiert, was so unser Grundvertrauen in die Stabilität der Welt erschüttert hat, dass man dann zunächst nicht schlafen konnte, dass man immer wieder die Bilder angeschaut hat, wie auch nach Tschernobyl, wo man auch dachte, jetzt könnten sich doch alle verbünden auf der Welt, die jetzt diese Gefahr der Kernenergie erkannt haben, dass wir jetzt gemeinsam ein großes, ein Weltproblem verarbeiten in dem Gefühl, wir müssen zusammenhalten."

Sein Wunsch scheint sich zu erfüllen. Grenzenlose Solidarität mit Amerika. Doch das Wir-Gefühl wird torpediert vom Vergeltungsschlag, schlimmer noch: von Rache.

"Rache ist als Gefühl, als Phantasie", so Richter, "zunächst etwas ganz Normales: Man kann sich doch so etwas nicht gefallen lassen, und vor allem die mächtigste Nation des Planeten, die muss ja jetzt irgendwie reagieren. Und wenn man nach diesem Gefühl handelt, dann kommt es immer dazu, dass eigentlich - wie es so schön oder nicht schön heißt, aber korrekt heißt -, dass häufig ein kleineres Unrecht mit einem größeren beantwortet wird."

Seine vage Hoffnung: ein Sieg der Vernunft. Zaghafte Zuversicht auf einer Reise durch die veränderte Republik.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 20.09.2001 | 21:45 Uhr