Reise durch eine veränderte Republik: Teil 1

Der Zeitpunkt ist günstig. Wer immer schon mal was zur inneren Sicherheit loswerden wollte - egal, ob sinnvoll oder nicht - sollte es jetzt tun. Denn die Welt hat sich verändert. Die Politiker überschlagen sich mit Forderungen im Kampf gegen den Terrorismus. Bundesinnenminister Schily denkt beispielsweise über das Aufweichen des Datenschutzes nach. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber will die Bundeswehr jetzt auch für Polizeiaufgaben einsetzen, und sein Innenminister Beckstein möchte jeden einzelnen Zuwanderer vom Verfassungsschutz überprüfen lassen.

Deutschlandreise - Reportagen aus einer veränderten Republik
Panorama zeigt in mehreren Reportagen, wie die Menschen in Deutschland auf die Katastrophe reagieren

Noch vor zehn Tagen hätten all diese Forderungen heftigste Diskussionen ausgelöst. Aber die Kritiker sind leise geworden, ganz leise. Wenn es um innere Sicherheit geht, ist es heute - so scheint es - alles gerechtfertigt. Deutschland hat sich verändert. Selbst Steuererhöhungen sind kein wirklicher Aufreger mehr. Denn wer ärgert sich schon über 4 Pfennig mehr Tabaksteuer, wenn ihm die Weltlage Angst macht. Plötzlich scheint alles wieder möglich - vielleicht sogar Krieg. Deshalb von Panorama: Reportagen aus einer verstörten Republik.

NDR 4, Info: "Das mobile Einsatzkommando stürmte bislang 15 Wohnungen allein in Hamburg."

Einsatz für die harten Jungs der Hamburger Polizei. Das Mobile Einsatzkommando MEK. Immer wenn andere warten, weil die Gefahr zu groß ist, muss das MEK ran. Männer ohne Gesicht. Anonymität als Schutz vor Rache. Sie stürmen zuerst die Wohnungen der Tatverdächtigen, die Bilder aus New York im Kopf.

Einer der Beamten: "Der erste Gedanke war, das ist ähnlich wie eine Apokalypse, und dass das dann gleich in Hamburg mündete später, habe ich nicht für möglich gehalten."

Die Folgen: Dauereinsatz, wenig Schlaf und neue Gegner: Terroristen. Eine andere Dimension für die Profis in Sachen Gefahr?

"Ja, ich denke, dass meine Konzentration in diesen Einsätzen um ein Vielfaches höher ist", berichtet ein MEK-Beamter. "Was ich bislang geglaubt habe, dass sie immer schon hoch sei, erfährt hier eigentlich eine Steigerung, weil wir es - wie gesagt - mit einem völlig anderen Täterbild zu tun haben, einem unbekannten Täterbild aus dem terroristischen Bereich, die eben nicht dem Typus des bisherigen Schwerstkriminellen entsprechen, der polizeilich in Erscheinung getreten ist, wo wir sagen können, er hat die und die Waffen benutzt und eingesetzt. Hier ist die Waffe in den Köpfen der Täter. Sie haben nicht nur diese Apokalypse angerichtet, sondern haben auch apokalyptisches Gedankengut im Kopf, und das kann jederzeit geweckt werden."

Die Bilder suggerieren Routine, die Realität heißt Angst. Jeder Festnahme im Umfeld der Terroristen geht eine Frage voraus: Was erwartet uns in der Wohnung? Sprengfallen, weitere Schläfer, die plötzlich zu Selbstmordattentätern werden? Einsätze jenseits der Normalität.

Thiess Rohweder, der Hamburger MEK-Chef erklärt, warum: "Weil dort schon eine Situation war, dass wir vor einem relativ geringen Informationshintergrund in Wohnungen eindringen mussten, wo man tatsächlich noch die Bilder aus Amerika im Kopf hatte und nicht so richtig wusste, was einen dort erwartet, und dass es den einzelnen Mitarbeitern natürlich genauso geht. Und da ist, sag' ich mal, die Angst und die Sorge, auch wenn sie in Teilbereichen irrational ist. Aber sie ist einfach da. Sie ist erheblich größer gewesen als in den klassischen, normalen Einsätzen, die wir sonst gefahren sind."

Ein anderer Beamter: "Also ich hab' ein sehr großes Bedürfnis, mich mit diesen Glaubensfragen, die diese Menschen beschäftigen, auseinanderzusetzen. Das hilft mir persönlich dabei, durchaus mit der Angst, die jetzt in irgendeiner Form doch auch neu ist, weil die Dimension größer geworden ist, umzugehen, indem ich mir selber versuche zu erklären, was auf mich zukommen kann."

Doch das Unkalkulierbare bleibt. Die Frage: Ist diese Terror erst der Anfang?, hat auch das MEK verändert.

"Ich hatte am Tag des Geschehens das sehr große Bedürfnis, mit Menschen die ich lieb habe, mit denen ich gern zusammen bin, Kontakt zu haben", berichten die MEK-Leute.

"Angst ist nicht zu leugnen. Die Angst geht natürlich auch bis in die Familie hinein. Wenn man dann vor der Tür steht, steht man vor etwas Unbekanntem auch, und dieses Unbekannte ruft schon Sorgen und Ängste in einem hervor. Man stellt Fragen: Was ist noch möglich?"

Diese Frage bleibt für das MEK seit dem Kollaps des World Trade Centers in New York ohne Antwort. Was künftig gilt: Sie werden weiter die ersten sein, die ihre Ängste überwinden müssen.

Radio B 5 aktuell: "Nach den Terroranschlägen in den USA wurden bundesweit zahlreiche politische und kulturelle Veranstaltungen abgesagt. Unterdessen hat der Ältestenrat des Münchener Stadtrats beschlossen, das Oktoberfest in diesem Jahr in eingeschränkter Form stattfinden zu lassen."

In zwei Tagen werden hier wieder Millionen Menschen zum Oktoberfest strömen. Es ist wie immer: Überall letzte Vorbereitungen. Normalerweise wird die Wiesn hier im Schottenhamel-Zelt mit dem berühmten "Ozapft is" eröffnet. Das fällt dieses Jahr aus. Doch die meisten sind froh, dass das Fest überhaupt stattfindet.

"Wir sind auch froh für unsere ganzen Mitarbeiter", sagt Peter Schottenhamel, ein Wiesn-Wirt. "Wir haben eine Vielzahl von Anrufen gehabt, speziell von unseren Bedienungen, die gesagt haben: Um Gottes Willen, wenn die Wiesn nicht stattfindet - wir brauche das Geld, usw. usw. Man darf ja auch nicht vergessen, dass hier draußen ca. 20.000 Menschen arbeiten und Geld verdienen."

Und so malen, hämmern und bauen sie wie jedes Jahr. Ein Passant sagt: "Ja freilich geh' ich auf die Wiesn. Ich will doch sehen, wenn hier was los ist. Das braucht man ja auch, um zu sehen, wie ist denn die Wirkung von den Sachen. Und da muss man ja ein bisschen Überblick haben."

Fühlt er sich sicher? "Ja, ich würde sagen relativ sicher, weil die Welt ist groß. Und, mei, man kann auch überfahren werden auf der Straße, gelt?"

Angst vor einem Anschlag auf die Wiesn - kein Thema. Vorm Zelt werden Holzplanken verlegt. Auch hier bayerische Gelassenheit.

Ein Zimmermann sagt: "Passieren kann's immer, überall, wie man halt sieht, ob ich jetzt in New York bin, im sicheren World Trade Center oder im Pentagon - da fliegt's halt da nei. Aber wenn die Terroristen meinen, sie müssen da auf die Wiesn einen Anschlag machen und 150.000 Bsuffige umbringen - mei - vielleicht bringts das ja. Wenn sie's wollen, dann machen sie's."

Aber trotz Geschäftigkeit und guter Stimmung - so ganz können auch die Oktoberfest-Leute die Geschehnisse der letzten Woche nicht abschütteln. "Ich freu' mich seit 34 Jahr' auf die Wiesn", erzählt die Frau vom Teddystand. "Aber heuer ist es halt, als ob man ein Magengeschwür gekriegt hat. Es ist einfach die Angst. Und dann die Toten da drüben, das geht nicht aus dem Kopf."

Die Bilder aus New York - bei vielen weckt das Erinnerungen. Das Bombenattentat auf das Oktoberfest 1980. 13 Tote, 211 Verletzte. Schreckensbilanz rechtsradikaler Täter.

Ein Mann erinnert sich: "Ich sag's Ihnen ganz ehrlich, ich geh' heuer mit sehr gemischten Gefühlen auf die Wiese, denn ich war 1980 - am Attentatsabend waren wir genau bereits an der Haltestelle gestanden, als die Wahnsinnstat geschah. Es war entsetzlich, ich wollte jahrelang nicht auf die Wiese gehen."

Bombendrohungen gibt es auf der Wiesn jedes Jahr - unzählige. Völlige Sicherheit ist bei knapp 7 Millionen Besuchern ohnehin unmöglich, das wissen alle. Deshalb bleibt Zeit, auch über die Täter in Amerika nachzudenken. Zum Beispiel, wie das so ist mit dem bin Laden.

So denkt ein Besucher: "Einer, der dahinten in Afghanistan, der hat ja, meines Erachtens gar nicht die Technik, dass er ein Handy bedienen hat, haben wir vor fünf, sechs Jahren noch gar nicht gehabt. Also das geht meines Erachtens gar nicht, das geht gar nicht. Aber ich weiß es nicht. Das werden die Amerikaner schon rauskriegen. Und Geheimdienste haben wir genügend."

Radio Lübeck: "Die deutschen Rechtsextremisten haben die Terroranschläge in den USA mehrheitlich begrüßt. Das erklärte der Sprecher des bayerischen Verfassungsschutzes, Hans Joachim Kuntz."

Deutschland, ganz rechts außen. Wir besuchen die NPD in Schleswig-Holstein. Ihre Solidarität mit den arabischen Staaten demonstrieren sie mit dem Palästinensertuch. Tenor ihrer Presseerklärungen: Die USA - selber Schuld an dem Angriff. Motto: Schluss mit der amerikanischen Selbstherrlichkeit.

Peter Borchert, NPD-Landesvorsitzender Schleswig-Holstein: "Die Problematik liegt ja darin, dass die Vereinigten Staaten von Amerika permanent seit Jahrzehnten versuchen, sich in fremde Interessen und in fremde Kulturen einzumischen. Und das, was am 11. September passiert ist, das ist dann die logische Konsequenz dessen. Das heißt: Nicht diejenigen tragen die Verantwortung, die diesen Befreiungsschlag letztendlich fabriziert haben, sondern diejenigen, die das provoziert haben."

Das terroristische Attentat - ein Befreiungsschlag? Die USA als Provokateure? Auf den Internetseiten der Rechtsradikalen nur zynische Kommentare wie "Bushfeuer in Manhattan".

Die Neonazis nutzen den Anschlag, um wieder gegen Ausländer zu hetzen. Offen propagieren sie fremdenfeindliche Parolen: Ausländer raus.

"Keine Zuwanderungs- oder Einwanderungsdiskussion mehr", so Jürgen Gerg von der NPD Schleswig-Holstein, "sondern eine Auswanderungsdiskussion bzw. gar keine Diskussion, sondern Taten. Es müssten, um hier Sicherheit in Deutschland zu schaffen, binnen hundert Tagen normalerweise alle bis auf begründete Ausnahmen das Land verlassen."

Stralsund - Neonazis mit der USA-Fahne. Sie sind hier, um ihren Antiamerikanismus auszuleben, zünden deshalb die US-Flagge an. Ein beherzter Passant geht dazwischen - zu spät, der Synthetikstoff ist nicht mehr zu löschen. "Ich war schockiert am Dienstag, fassungslos über die Katastrophe", sagt der Passant.


Kleinmachnow, ein Vorort von Berlin. Hier besucht Panorama Horst Mahler, den Anwalt der NPD. Auch er hat Verständnis, empfindet sogar Freude. Independence Day live nennt er ihn, also Tag der Unabhängigkeit. Für Mahler war das Attentat ein Befreiungsschlag:

"Es war ein Erschrecken und gleichzeitig auch das Gefühl: Endlich mal, endlich sind sie mal im Herzen getroffen", so Mahler. "Und das wird sie wahrscheinlich auch zum Nachdenken bringen. Und deshalb, sage ich, war das auch eine Aktion, die - so grausam sie ist - rechtens war. Und wenn sie sagen, das war ein Angriff auf die Freiheit, dann sollen sie mal zeigen, welche Freiheit da angegriffen worden ist - die Freiheit des Profitmachens, sicher, Gott sei Dank, das war höchste Zeit."

World Trade Center und Pentagon gelten Mahler als Machtzentren des Geldes, die sich in seiner antisemitischen Logik in jüdischer Hand befinden.

"Es ist überall der Kredit, der den Leuten gegeben wird", sagt er, "und das ist eben auch schon im Alten Testament dem Juden aufgegeben, durch Geldleihe die Weltherrschaft zu erlangen."

Antisemitische Verschwörungstheorien: das Judentum verkörpere das Geld, das Geld sei die Macht und die Machtkonzentration in den USA verantwortlich für den Anschlag. Und obwohl die Täter mutmaßlich Islamisten sind, hetzen die Nazis, die Juden seien Schuld. Verquere Nazilogik.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 20.09.2001 | 21:45 Uhr