Stand: 17.03.22 06:00 Uhr

Kriegskinder: Plötzlich wieder mittendrin

von Robert Bongen, Tina Soliman

"Ich hätte nie gedacht, dass die Menschen in Europa noch einmal Angst vor einem Krieg haben müssen. Davor, einen geliebten Menschen, ihre gewohnte Umgebung zu verlieren, alles das, was sie sich aufgebaut haben. Alles wird auf einmal wieder in Frage gestellt. Und das verbindet mich auch mit den Kindern in der Ukraine von heute", sagt Manfred Hüllen, 82 Jahre alt, aus Hamburg. "Ich weiß, wie es sich anfühlt. Das ist schon eine ganz große Scheiße!"

Kriegskinder: Plötzlich wieder mittendrin
Die Bilder aus der Ukraine reißen bei denjenigen, die als Kind den 2. Weltkrieg erlebt haben, alte Wunden auf.

Diejenigen, die wie Manfred Hüllen als Kind den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, stehen plötzlich wieder mitten im Krieg. Sie sehen die Bilder aus der Ukraine, hören die Sirenen - und alles kommt wieder hoch. Das Gefühlsarchiv war über Jahrzehnte prall gefüllt, aber auch tief verstaut. Nun aber sei alles wieder da. Und die einstigen Kinder erzählen von den furchtbaren Erlebnissen im Krieg, als wären sie gestern passiert.

Manfred Hüllen verlor seine Schwester im Zweiten Weltkrieg

Hüllen war damals fünf Jahre alt, als er seine geliebte Schwester verlor. Noch heute vergehe kein einziger Tag, an dem er sie nicht vermisse. Sie starb, weil ein LKW-Fahrer bei Tieffliegeralarm plötzlich die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor und ins Schleudern kam: "Meine Mutter hatte schwere Verletzungen, und ich hatte eine Gehirnerschütterung und einen Nasenbeinbruch. Meine Schwester lag tot da. Ich dachte, die schläft. Ich habe meiner Mutter immer gesagt: Nun wecke doch die Ursula mal. Die soll wieder wach werden!" 

78 Jahre ist das her. Hüllen dachte, er hätte seine Emotionen einigermaßen im Griff, aber nun ist alles wieder da. "Und da ich glaube, eine gewisse Ahnung vom Krieg zu haben, weiß ich, was auf die Menschen zukommt. Ich weiß genau, was jetzt in der Ukraine passiert." Vor allem wisse er, was Krieg für ein Kind bedeutet. "Es ist das Ende der Kindheit. Der Krieg hat mir meine Kindheit komplett genommen", sagt Hüllen. Als kleiner Junge wollte er damals Tiefflieger abschießen - mit einem Stock.

Ukraine: Kindergeburtstag im Bombenkeller

Ein Kindergeburtstag vor ein paar Tagen in einem Keller mitten in der nordukrainischen Stadt Tschernihiw. Eine Mutter mit einem Geburtstagskuchen. Ihr Sohn Matvei wollte mit seinen Freunden seinen neunten Geburtstag feiern, Fußball spielen. Dann kam der Krieg. Doch seine Mutter wollte ihm wenigstens einen Wunsch erfüllen: einen Schokoladenkuchen. Für einen Moment kann sich das Geburtstagskind freuen.

Kindergeburtstag in einem Luftschutzbunker in Tschernihiw. © NDR/ARD

Kindergeburtstag im Luftschutzkeller.

"Kinder fühlen erst einmal gar nichts, sie sind noch zu klein, aber sie spüren die Angst der Erwachsenen", sagt Ksenia. Sie floh mit ihrer vierjährigen Tochter Olivia aus Dnipro nach Hamburg. Bei Fliegeralarm, wenn die Sirenen heulten, dann sei das kleine Mädchen ganz brav gewesen, als ob sie spürte, dass sie jetzt gehorchen muss, dass es jetzt darauf ankommt, erzählt ihre Mutter.

"Wenn ich Sirenen höre, stellen sich die Nackenhaare hoch"

Bernd Herzog war in Olivias Alter, als in Hamburg Feuer vom Himmel fiel. "Ich kann heute noch keine Sirenen hören. Wenn ich die Sirenen im Fernsehen höre, stellen sich mir die Nackenhaare hoch", sagt der 81-Jährige über die Bombennächte in der Hansestadt. Nur weil er auf dem Weg zum Bunker bummelte, haben er und seine Mutter überlebt. Wenn er die Bilder aus der Ukraine sieht, sei es so, als wenn einer den Schalter umlegt. Sofort sei er wieder mitten im Krieg. Er erinnert sich an den Mann, der seine Mutter und ihn während des Bombenalarms nicht in den Bunker lassen wollte.

"Er stand mit dem Gewehr da, rundherum Frauen mit Kinderwagen und Kinder auf dem Arm, die alle noch in den Bunker wollten. Aber der hat die Bunkertür nicht wieder aufgemacht. 'Es ist ein Befehl', hat er immer geschrien. Und die Frauen haben auch geschrien. Ich kann heute noch keine Frauen ertragen, die schreien und zittern. Er hat uns nicht reingelassen, und wir sind dann hinterm Bunker in eine Ecke gekrochen, in Embryo-Stellung, Hände überm Kopf, Ohren zuhalten. Ein ohrenbetäubender Krach. Bis vollkommene Ruhe war. Und dann sind wir wieder nach vorne gegangen. Und da war alles weg. Der ganze Eingang war weg. Der Mann mit dem Gewehr war weg. Eine Bombe war durchs Dach gegangen und alle im Bunker waren tot. Das habe ich natürlich erst später begriffen", sagt Herzog.

Leid des Kriegs in Echtzeit auf dem Smartphone

Die Kinder erleben, wie die Welt ins Wanken gerät, die Trennung von den Vätern oder Brüdern, und sie wissen nicht, ob sie ihre Nächsten wiedersehen werden. All das beobachten die ukrainischen Kinder und Jugendlichen heutzutage fast live auf ihren Handys. "Das ist doch viel perverser, und deshalb könnten heute die Schäden bei den Kindern größer sein", glaubt Manfred Hüllen, der auch in Schulen über seine Kriegskindheit berichtet. Ungläubig hörten die deutschen Schüler ihm bisher zu, weil sie sich sein Leid nicht vorstellen konnten. Und nun?

Nähe zur Familie geht verloren

Margarita aus der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw hat tagelang kaum geschlafen, sie ist erschöpft und vermisst ihren Vater. Die 15-Jährige ahnt, dass dieser Krieg ihr den Vater nehmen könnte. Sie hat Albträume, traut der Stille nicht - auch wenn sie jetzt in Deutschland ist, in Sicherheit.

Ursula Hipler war in Margaritas Alter, als sie ihre Heimat in Ostpreußen verlassen musste. Die 91-Jährige wurde auf der Flucht von ihrer Familie getrennt und es begann eine vier Jahre lange Odyssee zwischen Flucht und Gefangenschaft.

Die 91-jährige Ursula Hipler floh aus Ostpreußen. © NDR/ARD

Ursula Hipler floh mit ihrer Familie aus Ostpreußen, wurde dann von ihren Eltern getrennt.

Als sie endlich zu ihrer Familie konnte, wäre sie am liebsten vor der Haustür wieder umgedreht. "Weil ich nicht rein wollte. Ich wollte eigentlich weg. Ich habe gedacht, ich gehe doch nicht zu fremden Leuten, ich kenne doch gar keinen. Und das Schlimmste war, als meine Mutter sagte: 'Kannst du bitte den Tisch decken.' Ich wusste nicht mehr, wie man Messer und Gabel hält. Ich hatte Messer und Gabel vier Jahre lang nicht in der Hand. Ich habe nur geheult. Ich habe die ersten Wochen mit Heulen verbracht", erinnert sich Hipler. Auch die Nähe zur Familie - so wie sie einmal war - lässt sich nicht wieder finden.

Hüllen: "Die Herzen der Kinder sind verwundet"

Der Krieg hinterlässt auch emotionale Kriegswaisen. Und: Krieg ist immer auch Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder, sagt Manfred Hüllen: "Kinder sind im Krieg für Erwachsene, die den Krieg zu verantworten haben, die nebensächlichste Sache der Welt." Es tue ihm körperlich weh, die Bilder aus der Ukraine zu sehen: "Die Herzen der Kinder sind verwundet, und zwar nicht nur für einen Moment. Die werden das ihr Leben lang nicht loswerden!"

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 17.03.2022 | 22:05 Uhr