Wie die Flüchtlinge manchem den Kopf verdrehten

von Ben Bolz, Robert Bongen & Fabienne Hurst

Was hat 2015 - das Jahr der Flüchtlingskrise - mit uns gemacht? Viele Menschen mag es in ihren Vorurteilen bestätigt haben -  rechts wie links. Doch einige haben auch ihre Einstellung massiv geändert. Erstaunlich ist es, wenn es Politiker sind, die ins Nachdenken gekommen sind und ihre eigenen Positionen in Frage gestellt haben. Gewollt oder ungewollt.

Hans-Olaf Henkel zum Beispiel. Seine ehemalige Partei ist heute die Partei, in der sich die so genannten "Flüchtlingsgegner" versammeln: die AfD. "Wenn ich gewusst hätte, wie das ausgeht, hätte ich das damals nicht gemacht“, sagt der 75-Jährige. "Ich hätte mich zumindest an der Kreation dieses Monsters nicht beteiligen wollen."

Wie die Flüchtlinge manchem den Kopf verdrehten
Die Flüchtlingskrise hat vieles und viele in Deutschland bewegt. Und so manchen Politiker zum Nachdenken gebracht - bis hin zur Infragestellung der eigenen Positionen.

Das Monster, das ich schuf...

Der ehemalige Chef des Bundes Deutscher Industrieller war im Januar 2014 wegen der Euro-Politik in die AfD eingetreten. Neben Bernd Lucke war er eines der Aushängeschilder der Partei. Dass sich in der AfD auch Rechtspopulisten breit machten, wies er am Anfang noch von sich. Heute sagt er: "Wir haben das zu spät gemerkt. Der zweite Fehler war, dass wir zu spät reagiert haben, als wir es gemerkt hatten.“

Nach dem Sturz von Bernd Lucke verließ Henkel die AfD und schloss sich Luckes neuer Partei an, der Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA). Für die Flüchtlingspolitik der AfD hat er nur noch Verachtung übrig: "Diese völkischen Aussagen von Herrn Höcke sind einfach entsetzlich. Und dass man, wie Herr Pretzell sagt, an den Grenzen unter Umständen auch von der Schusswaffe Gebrauch machen muss, ist widerlich."

Henkel hält die AfD inzwischen für eine "rechtspopulistische, ich möchte fast sagen rechtsextreme Partei". Am meisten mache ihm zu schaffen, dass er am Aufbau der AfD mitgewirkt habe. "Ich fühle mich mit verantwortlich. Und deswegen möchte ich alles tun, um diese Partei am langfristigen Erfolg zu hindern."

Beifall von der falschen Seite

Boris Palmer (Grüne), Oberbürgermeister von Tübingen. © dpa picture alliance Foto: Christoph Schmidt

"Wir schaffen es nicht" - den Grünen-Politiker Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, hat die Flüchtlingskrise ein Stück weit in eine Identitätskrise gestürzt.

Auch den Grünen Boris Palmer hat die Flüchtlingskrise ein Stück weit in eine Identitätskrise gestürzt. Der Oberbürgermeister von Tübingen wurde vom Verfechter des deutschen Asylrechts zu einem Kritiker der Merkelschen Flüchtlingspolitik. Die Zahl der Flüchtenden sei so schnell gestiegen, dass er sich zu einem "Hilferuf" habe durchringen müssen, so Palmer. Der bestand in dem Facebookposting: "Wir schaffen es nicht".  Ausgerechnet ein Grüner, der den menschenfreundlichen Leitspruch der Kanzlerin in Frage stellt. Die Jungen Grünen warfen ihm daraufhin Populismus vor, erwogen gar einen Parteiausschluss. Selbst enge Freunde wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann gingen auf Distanz. "Der Palmer ist ein aufrechter Grüner und ich schätze ihn. Aber da hat er sich etwas verrannt", sagte Kretschmann.

Die harschen Reaktionen aus der Partei habe er mit einkalkuliert, sagt Palmer. "Ich glaube, dass wir uns nicht damit zufrieden geben können, dass wir immer die Guten sind." Schwieriger als die Kritik aus der eigenen Partei sei für ihn der Beifall von der falschen Seite. So lobte ihn etwa die Pegida-Frontfrau Tatjana Festerling als "vernünftigen, klar denkenden und mutigen Politiker."

Deutliche Wortwahl

Doch auch diese Art von Komplimenten hält den Grünen nicht von seiner deutlichen Wortwahl ab. "Man darf sich nicht von verkappten Nazis und irregeleiteten Fremdenfeinden vorschreiben lassen, was man sagt." Etwas vorschreiben lassen will sich der Oberbürgermeister sowieso von niemandem. "Die Freiheit der Gedanken sollte respektiert werden und: Ja, man darf auch als Grüner mal mit Herrn Seehofer einig sein. Was ist denn daran jetzt von vornherein schlimm? Ich finde: nichts."

Fließende Grenzen

Dietmar Bartsch © dpa Foto: Jens Büttner

Dietmar Bartsch von der Linken hat Merkels Haltung beeindruckt: "Sie hat in der Flüchtlingsfrage Haltung bewiesen und hat der populistischen Eingebung widerstanden."

In der Flüchtlingskrise sind die Grenzen eben fließend geworden. Auch zwischen Regierung und Opposition. So hat sich für Dietmar Bartsch, den Fraktionsvorsitzenden der Linken, das Bild von der Kanzlerin durch die Flüchtlingskrise gewandelt. Bisher habe er sie als eine Kanzlerin erlebt, die immer austariere und warte und dann den Weg, der sich herauspräge, gehe."Sie hat in der Flüchtlingsfrage Haltung bewiesen und hat der populistischen Eingebung widerstanden. Das ist schon ein neuer Akzent gewesen, der offensichtlich auch erst nach einer langjährigen Kanzlerschaft hervortreten kann."

Unfreiwilliger Anwalt Merkels

Und so wurde der Linke Dietmar Bartsch - zumindest was die Grundlinie der Flüchtlingspolitik angeht - zum Anwalt der Merkelschen Flüchtlingspolitik, die in der Union doch so umstritten ist. "Ich bin der Auffassung, dass sie dort ihrer inneren Haltung entsprochen hat. Im Übrigen sind das alles normale Entscheidungen. Was denn sonst? Eine Kanzlerin, die sieht, dass es eine humanitäre Katastrophe gibt und nicht handelt, ist nicht akzeptabel. Insofern hat sie Normalität für Humanismus gelten lassen, aber das war nicht so sicher - viele in der Union hätten das nicht getan. In diesem Sinne war es schon eine mutige Entscheidung - und diesen Teil, diesen Teil der Entscheidung kann man dann auch mit Bewunderung konstatieren."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 17.12.2015 | 21:45 Uhr