Kommentar

Stand: 12.04.21 10:06 Uhr

Nordirland: Krawalle gegen die Langeweile

von Philipp Hennig
Vermummte werfen in Belfast Gegenstände auf Polizisten © picture-alliance Foto: Peter Morrison

Tagelang lieferten sich Jugendliche in Belfast Straßenschlachten mit der Polizei.

Als vor ein paar Tagen die ersten Brandsätze in protestantischen Vierteln in Nordirland flogen, folgten - erwartbar und reflexartig - besorgte Reaktionen aus Medien und Politik. Man habe es ja schon lange gewusst: Der Brexit bedrohe den Frieden in Nordirland, die lange Erfolgsgeschichte des Karfreitagsabkommen neige sich dem Ende zu. Beobachter vor Ort reagierten nüchterner. Kurz nach Beginn der Unruhen stellte die Journalistin Suzanne Breen im pro-britischen Belfast Telegraph fest: "Sollte jemals die Geschichte der Krawalle in Nordirland geschrieben werden, verdient dieser keine Erwähnung. Er verblasst in Unbedeutsamkeit, verglichen zu den brennenden Unruhen in republikanischen Gebieten während des Hungerstreiks 1981."

In einem waren sich alle Beobachter diesmal schnell einig: Am Krawall beteiligen sich vor allem männliche Jugendliche zwischen zwölf und 18 Jahren, größtenteils geboren nach dem Karfreitagsabkommen von 1998. Die Wenigsten von ihnen dürften überhaupt wissen, was genau die mit der EU ausgehandelte "Seegrenze" zwischen Nordirland und Großbritannien ist, die viele Medien als einen der Auslöser der Krawalle ausmachten. Schnell kamen zudem Hinweise auf, eine Minderheit loyalistischer Paramilitärs - vermutlich einzelne "Brigaden" der Ulster Defence Association (UDA) - heize die Jugendlichen an.

Die schnelllebige Medienwelt kombinierte vielleicht etwas vorschnell. Brexit und unzufriedene Loyalisten - in Nordirland gehts bald ab, so der überwiegende Tenor. Viele Beobachter vor Ort sprachen dagegen von eher unpolitischen Jugendlichen und ordneten die Krawalle dem Phänomen des "Recreational Rioting" zu, das Wissenschaftler vor allem Anfang der 2000er beobachteten. Eher unpolitische Jugendliche suchten den Krawall, um der Langeweile zu entgehen. Im politisch aufgeladenen Nordirland wurden dabei bevorzugt Interface-Areas angegriffen, also benachbarte Wohngebiete der "anderen" Community. Der Krawall war nicht primär politisch motiviert, es gab nix anderes zu tun. Auch diesmal gab es so einen Angriff in Belfast, in anderen Vierteln griffen Jugendliche die Polizei an.

Der Frieden, den sie meinen

Weil Medien sich nur für Nordirland interessieren, wenn es knallt, überbewerten sie Ereignisse. Dabei wäre gerade eine kritische Analyse des medial gefeierten Friedensprozesses notwendig, um die Situation zu verstehen.

Im Kern garantiert das Karfreitagsabkommen, dass Nordirland so lange Teil des Vereinigten Königreichs bleibt, so lange es eine Mehrheit dafür gibt. Für die Anerkennung dieses Status wurden pro-irische Republikaner und Nationalisten an der politischen Macht beteiligt. Sollten sich die Mehrheitsverhältnisse in Nordirland ändern, sieht das Abkommen zudem eine Abstimmung über den zukünftigen Status vor. Ob und wann so eine Abstimmung jemals erfolgen wird, entscheidet der brititische Staatssekretär für Nordirland.

Der Friedensprozess hat Nordirland entpolitisiert. Während der "Troubles" nahmen sich viele Beteiligte als politische Protagonisten mit klaren Forderungen und Positionen wahr, je nach Standpunkt entweder im größeren Kontext eines Entkolonialisierungsprozesses oder als Verteidiger des Staates. Diese politische Selbstwahrnehmung ist einer Identitätspolitik gewichen. Viele Menschen sehen sich als Teil einer kulturell marginalisierten Gruppe, nicht einer politischen. In einer politischen Umfrage konnten 2014 nur 25 Prozent der Befragten ihre eigene politische Meinung den Kategorien "links" und "rechts" zuordnen. Der loyalistische Orange Order hatte zu seiner Hochzeit 1970 weltweit 80.000 Mitglieder, heute sind es weniger als 30.000.

Gewinner und Verlierer

In seiner herausragenden Analyse des Karfreitagsabkommen "Nordirland zwischen Krieg und Frieden" stellt der linksrepublikanische Autor Liam Ó Ruairc folgende These auf:

Republikaner hätten während der "Troubles" für ein vereintes Irland gekämpft und mit der Anerkennung des Karfreitagsabkommens den Krieg verloren. Loyalisten und Unionisten hätten für den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich gekämpft und den Krieg somit gewonnen. In der Realität aber würden sich inzwischen Republikaner als Gewinner und Loyalisten sich als Verlierer sehen.

Bestärkt wird diese Sichtweise durch ökonomische Realitäten. Die protestantische Arbeiterklasse verdient im Schnitt einen geringeren Stundenlohn als die katholische, ihre Arbeitslosenrate ist höher und Katholiken haben bessere Chancen auf gute Bildung. Die versprochene "Friedensdividende" hat beide Communities nie erreicht, Nordirland gehört zu den ärmsten Teilen des Vereinigten Königreichs. Der größte ökonomische und politische Gewinner des Friedensabkommens ist die neu entstandene, katholische Mittelschicht.

Die Krawalle der vergangenen Tage sind ein Mix aus Langeweile und dem Frust einer abgehängten Community. Aber es gibt keine politischen Forderungen und 2021 ist nicht 1981. Im Gegensatz zur Vergangenheit stehen hinter diesen Aktionen keine größeren politischen Bewegungen. So lange Journalisten sich nur für Nordirland interessieren, wenn es brennt, wird auch in Zukunft jeder Molli zum Startsignal für einen neuen Bürgerkrieg.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 26.03.2019 | 21:15 Uhr