Kommentar

Stand: 29.04.19 15:10 Uhr

Nordirland: Der Brexit ist nicht das Problem

von Philipp Hennig

Spätestens seit dem tragischen Tod der Journalistin Lyra McKee durch einen Querschläger der "Neuen IRA" haben deutsche Journalisten Nordirland wiederentdeckt. Tagelang bestimmten die Ereignisse in Derry die Schlagzeilen. Im Narrativ war man sich weitgehend einig: Die Lage in der britischen Provinz spitzt sich zu, ein Rückfall in die "Troubles" ist nicht mehr ausgeschlossen. Und das alles, weil Irland durch den Brexit eine harte Grenze droht. Für Journalisten eine runde Geschichte. Dabei beruht sie auf einer ganzen Reihe von Fehleinschätzungen.

Die Mär von der steigenden Gewalt

Die Neue IRA an Ostern 2018

Die Neue IRA bei einer Gedenkveranstaltung 2018. Flammt der alte Konflikt in Nordirland wieder auf? Das fragen sich viele Journalisten.

Diese Fehleinschätzungen beginnen schon mit der Wahrnehmung, in Nordirland gäbe es einen Anstieg politischer Gewalt. Das Gegenteil ist der Fall. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 gibt es eine "bewaffnete Kampagne" republikanischer "Dissidenten", deren Intensität seit Anfang der 2000er abgenommen hat. Eine zweistellige Zahl von "konfliktrelevanten Toten" in einem Jahr, nämlich elf, gab es das letzte Mal 2003. Seitdem schwankt die Zahl der von loyalistischen und republikanischen Paramilitärs Getöteten zwischen einem und sechs pro Jahr. Im letzten Jahr wurden drei Menschen getötet. In diesem Jahr stieg die Zahl durch den Tod von Lyra McKee auf zwei, nachdem im Januar Ian Ogle von Mitgliedern der loyalistischen UVF erstochen wurde. Lyra McKee war nicht das erste Opfer der "Neuen IRA", 2013 und 2016 war die Gruppe jeweils für den Tod eines Gefängniswärters verantwortlich. Für einen großen Teil der Opfer sind aber interne Streitigkeiten loyalistischer Paramilitärs verantwortlich, die sich in den letzten Jahren immer mehr von pro-britischen Todesschwadronen zu kriminellen Gangs gewandelt haben.

Eine ähnliche Entwicklung gibt es beim Einsatz von Schusswaffen und Bombenanschlägen. 2005 gab es insgesamt 167 "konfliktrelevante Vorfälle", bei denen Schußwaffen eingesetzt wurden. Seitdem fiel die Zahl auf deutlich unter 100. 2017 wurde 58 mal von paramilitärischen Gruppen geschossen. Die Anzahl der missglückten und erfolgreichen Bombenanschläge fiel von 188 im Jahr 2002 auf 54 im Jahr 2015. Im Jahr des Brexitreferendums 2016 gab es 27 Vorfälle, 2017 waren es 29. Die Gewalt in Nordirland ist also keineswegs neu, das Karfreitagsabkommen hat es nie geschafft, den Konflikt beizulegen. Trotzdem hat der bewaffnete Republikanismus über die letzten Jahre an Zugkraft verloren. Nicht, wie viele Journalisten meinen, gewonnen.

Brexit und die harte Grenze

Nun argumentieren viele Journalisten, dass der drohende Brexit und eine damit einhergehende, harte Grenze auf der irischen Insel den Konflikt erneut anheizen könnten. Auch die britische und irische Regierung warnen in ihren Verhandlungen mit der EU vor den Folgen einer harten Grenze. Doch dafür gibt es wenig belastbare Belege. Der Journalist und Buchautor Ed Moloney, der den Konflikt jahrzehntelang begleitet hat und wohl einer der profundesten Kenner der Materie ist, hat diese These in seinem Artikel "Is There No End To Brexit-Inspired Bullshit On Ireland?" analysiert.

Moloney schreibt, dass die Vertreter dieser These davon ausgehen würden, dass der Nordirlandkonflikt darauf zurückginge, dass die IRA damals die Briten herauswerfen, die Grenze abschaffen und Irland wiedervereinigen wollte. Dementsprechend würde eine neue Grenze eine neue IRA-Generation wieder zu den Waffen greifen lassen. Moloney setzt dem entgegen, dass die Geschichte des Nordirlandkonflikts eine andere sei: Nicht die Grenze, sondern der Charakter des  unionistischen Staates, der Katholiken ausgeschlossen habe, sei für die 30-jährige Gewalt verantwortlich gewesen. Hätten die Unionisten in den 60er Jahren anders auf die Forderungen der katholischen Bevölkerung nach Gleichberechtigung reagiert, wäre es vielleicht nie zum Nordirlandkonflikt gekommen. Historisch ist dem nichts hinzuzufügen.

They haven‘t gone away, you know

Plakat der "Neuen IRA"

IRA-Wandgemälde vor dem Büro der Partei "Saoradh".

Aber einfach verschwinden werden Gruppen wie die "Neue IRA" auch nicht. Wenn viele Journalisten militante Republikaner als abgeschottete "Terrorzellen" ohne Unterstützung beschreiben, ist das schlichtweg falsch. Es ist kein Geheimnis, dass Krawalle wie derjenige, bei dem Lyra McKee starb, von republikanischen Paramilitärs organisiert werden. Der Revolutionär muss sich, das wusste schon Mao, in den "Volksmassen bewegen, wie der Fisch im Wasser". Gruppen wie die "Neue IRA" verfügen lokal durchaus über eine Unterstützungsbasis. Wie groß diese ist, lässt sich schwer beziffern. Weil sie das politische System des Vereinigten Königreichs ablehnen, nehmen republikanische "Dissidenten" nicht an Wahlen teil. Schlaglichter auf den Umfang der Unterstützerbasis werfen daher nur vereinzelte Studien. Im Rahmen der Umfrage "Perceptions of Paramilitarism in Northern Ireland", die im März veröffentlicht wurde, gaben rund 11 Prozent derjenigen, die in hauptsächlich katholischen Wohngebieten leben, an, Paramilitärs würden das Leben in ihrem Viertel sicherer machen. 2010 äußerten 14 Prozent der befragten Katholiken, sie hätten Sympathien für die Gründe, wegen denen militante republikanische Gruppen Anschläge verüben würden.

Die lokale Unterstützung für den militanten Republikanismus korrespondiert dabei mit der sozialen Frage. Während das Karfreitagsabkommen eine katholische Mittelschicht geschaffen hat, deren politischer Vertreter heute Sinn Fein ist, verfügen die "Dissidenten" vor allem in den sozial abgehängten Vierteln über Unterstützung. Die Viertel Creggan und Bogside in Derry, Hochburgen der "Neuen IRA" und der ihr nahestehenden Partei "Saoradh", zählen zu den ärmsten Vierteln des Vereinigten Königreichs. Nach einer Umfrage des Sozialarbeiters Darren O‘Reilly vom Rosemount Resource Center sehen 95 Prozent der befragten Jugendlichen keine Zukunft für sich in der Stadt. Die Zahl der Selbstmorde in Nordirland von 1998 bis heute hat die Zahl der Toten durch den Nordirlandkonflikt schon lange überstiegen. Der Traum von einer "gesamtirischen, sozialistisch-demokratischen Republik" ist für einige auch mehr als 20 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen nicht ausgeträumt, sondern erscheint als die einzige, realistische Perspektive. Auch, weil dieser Teil der marginalisierten katholischen Arbeiter- und Unterklasse von niemandem sonst politisch vertreten wird.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 26.03.2019 | 21:15 Uhr