Kommentar

Stand: 09.09.16 17:06 Uhr

Lieber Herr Söder: Das ist nicht "Ihr" Volk

von Andrej Reisin
Markus Söder | Bild: NDR/Wolfgang Borrs © NDR/Wolfgang Borrs Foto: Wolfgang Borrs

Volksflüsterer: Markus Söder.

Weil rund 180.000 Menschen in Mecklenburg-Vorpommern AfD gewählt haben, und ein paar Tausend weniger die CDU, will die kleine bayerische CSU nun also das Maß der Politik in Deutschland endgültig verschieben. Wer Markus Söder in seinem Tagesthemen-Interview am Montag aufmerksam zuhörte, dem konnte angst und bange werden. Geradezu beschwörend sprach Söder vom "deutschen Volk", auf das man hören müsse. Auf die Frage, wie die CSU-Forderungen durchgesetzt werden sollen, antwortete er, "das geht vor allem mit dem Deutschen Volk" - mit dem Söder offenbar eine intime Kommunikation pflegt - vermutlich über eine Art Standleitung in die bayerische Staatskanzlei. Wozu braucht man da noch ein Parlament und langwierige demokratische Kompromisse?

Gehören drei Viertel der Wähler nicht zum Volk?

Man reibt sich verwundert Augen und Ohren: Selbst in Mecklenburg-Vorpommern haben gut 75 Prozent der Wähler die etablierten Parteien gewählt - obwohl das Bundesland bei Wahlen zu gewissen Extremen neigt: Zuvor wurde mehrfach die NPD in den Landtag gewählt. Auch ist die wirtschaftlich unterentwickelte Region, die unter Bevölkerungsschwund leidet und deren stärkster Zweig der Tourismus ist, keinesfalls sonderlich repräsentativ für den Rest des Landes. Wer gehört also zum "deutschen Volk", von dem da die Rede ist? Folgt man Söders Rhetorik, wären drei Viertel der Wähler in Mecklenburg-Vorpommern offenbar nicht Teil dieses "Volkes", das angeblich eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik befohlen hat. Ist das noch Populismus oder schon Demagogie?

AfD: Original statt Kopie

Angesichts des Forderungskatalogs, den die CSU nun vorgelegt hat, muss man Letzteres befürchten. Statt die Regierungspolitik zu verteidigen, schreibt man in Bayern bei der AfD ab. Glaubt irgendwer in München (oder anderswo) ernsthaft, dass darauf jemand reinfällt? Sich Rechtspopulisten an den Hals zu werfen, hat historisch immer nur eines bewirkt: Rechtspopulisten gestärkt. Die CSU spielt dieses Spiel nun schon seit einem Jahr. Und mit jedem neuen "Erfolg" der bayerischen Irrlichter in Regierungsverantwortung, mit jeder Verschärfung der Asylgesetze, mit jedem Besuch Seehofers in Ungarn, mit jedem Zaun wurde die AfD stärker. Zu Recht: Warum eine schlechte Kopie wählen, wenn man das Original haben kann? So blöd sind die Wähler nicht.

Wäre die Rhetorik vom "Volk", das Söder ins Ohr flüstert, von der "christlich-abendländischen Kultur", die "weltoffen" sein will, indem sie die Grenzen dichtmacht, nicht so gefährlich, man könnte herzlich lachen über die Panik der Rechtsausleger in der Union und ihre politischen Produkte. Sie glauben, sie könnten die AfD wieder klein machen, indem sie deren Positionen übernehmen? In Wirklichkeit werden sie sich mit den Rechtspopulisten um die Wähler rechts von einer modernen Merkel-CDU schlagen müssen.

Die Burka auf Rügen

CDU-Spitzenkandidat Lorenz Caffier im Wahl-Fernsehstudio beim Interview. © dpa bildfunk Foto: Christian Charisius

Gab an der Küste wochenlang den Seehofer - und scheiterte: Lorenz Caffier.

Wer wie Lorenz Caffier wochenlang a la CSU über die Burka redet (in Mecklenburg-Vorpommern!), der braucht sich über mehr als 20 Prozent AfD-Wähler kaum zu wundern. Kanzlerinnendämmerung? Mindestens genauso plausibel ist eine Caffier- oder Seehoferdämmerung. Der nächste CDU-Ritter von trauriger Gestalt, der Berliner Wahlkämpfer Frank Henkel, wird dies auch bald merken. Und natürlich ist dann wieder Merkel Schuld – und nicht ein desaströser Wahlkampf mit lächerlichen "Berliner Erklärungen" gegen Burka und Doppelpass und peinlichen Werbe-Schlagersongs, in denen Berlin so preußisch und urdeutsch daherkommt wie seit den 50ern nicht mehr. Ist das noch politische Dummheit oder schon Selbstaufgabe?

Es geht mal wieder um Türken und Muslime

Unterdessen werden Millionen Muslime und türkischstämmige Mitbürger verprellt und ausgegrenzt - denn selbstverständlich richten sich die unseligen Burka- und Doppelpass-Debatten ausschließlich gegen sie. Weder die Doppelpässe von EU-Bürgern noch die von zahlreichen Deutsch-Schweizern stehen zur Debatte. Auch wird es die CSU nicht wagen, den deutschen Juden, die als "Versicherung" gegen historische Wiederholungen einen israelischen Pass unter dem Kopfkissen haben, letzteren wegzunehmen. Nein, es geht in aller Deutlichkeit mal wieder um die "Kanacken" - und genau so kommt es auch an. Letzteres kann jeder wissen, der in den letzten Wochen mal mit seinem türkischstämmigen Kollegen, Klassenkameraden oder Nachbarn geredet hat.

Wer wissen will, warum 50.000 Türken in Köln für Erdogan demonstrieren, sollte vielleicht lieber mal hinhören, anstatt Teilnehmer einer friedlichen Veranstaltung ausbürgern zu wollen, die von ihrem verfassungsmäßigen Demonstrationsrecht Gebrauch machen. Natürlich muss man deutlich widersprechen, wenn Verschwörungstheorien präsentiert und Erdogan-Gegner diffamiert oder sogar angegriffen werden. Doch seit Roland Kochs Schmutzkampagne ("Wo kann man hier gegen Ausländer unterschrieben?") gegen den Doppelpass  – deren erklärter Fan der Berliner Wahlkämpfer Frank Henkel ist – wurden Ressentiment und Rassismus in diesem Land nicht mehr derartig Tür und Tor geöffnet wie derzeit durch die Rechtsausleger in der Union. Lieber Herr Söder, ich bin kein Teil Ihres sogenannten "deutschen Volkes".

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 01.09.2016 | 21:45 Uhr