Standort Deutschland - Jubelnde Aktionäre, wütende Arbeiter, hilflose Politiker

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Aktiengeschäfte © dpa Foto: Jens Schierenbeck

Seit wenigen Stunden wissen wir es: Unser Bundeskanzler bleibt bei uns. Zumindest tritt er noch einmal als Kandidat an. Das ist ja auch nur richtig und gerecht, denn nie war er so gut wie heute. Selten hatte Deutschland ein so günstiges Investitionsklima, Gewinne und Aktienwerte streifen Rekordhöhen, es gibt immer mehr reiche Leute in unserem Land. Und unsere Regierung kümmert sich ja auch um die Arbeitslosen - was wollen wir eigentlich noch mehr? Daß da auch ein wenig gekürzt und gestrichen wird, daß wir, die wir jenseits der prosperierenden Finanzwelt leben, den Gürtel einfach nur enger schnallen müssen, dafür haben wir Verständnis. Schließlich werden wir mit wunderbar anmutenden Maßnahmen und Versprechungen und vielleicht mit dem ewigen Kanzler belohnt - und das ist doch eigentlich in Ordnung, oder?

Standort Deutschland: Aktionäre, Arbeiter, Politiker
Ein Bericht von 1997 über die Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland.

KOMMENTAR:

Es hat etwas gedauert, aber die erste, bekanntlich schwerste Million hat er zusammen, Hans-Martin Buhlmann, seines Zeichens Aktionär und Wirtschaftsberater vertritt er die Interessen der deutschen Kleinaktionäre. 60.000 Kilometer macht er im Jahr von Hauptversammlung zu Hauptversammlung von Thyssen zu VW. Viel zu tun, aber dem Aktionär ist nichts zu schwer, vorausgesetzt es lohnt sich.

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HANS-MARTIN BUHLMANN:

(Aktionärsvertreter)

"Oh, ich glaube, ich darf sagen, daß ich seit zwanzig Jahren Aktionär bin, mal etwas mehr, mal etwas weniger, und in diesen Zeiten macht es sicherlich Spaß, Aktionär zu sein. Aktionär sein macht insbesondere dann Spaß, wenn Aktienkurse sehr stark in Bewegung sind, rauf wie runter, denn an beiden Bewegungen kann man letztlich mit den heutigen Techniken an der Börse Geld verdienen."

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ARBEITER:

"Die kriegen immer noch mehr Kohle in den Arsch gesteckt, und wir werden arbeitslos, haben jeder Familie, und die Arbeitslosenquote steigt, wird von Tag zu Tag immer höher."

INTERVIEWER:

"Aber die Aktien steigen doch?"

ARBEITER:

"Ja, die Aktien, da haben die Aktionäre was von, aber wir doch nicht, wir armen Scheißer doch nicht."

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HANS-MARTIN BUHLMANN:

"Also ich freue mich über jeden Gewinn, ob er langsam kommt oder schnell kommt. Der schnelle Gewinn ist der schönere Gewinn."

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ARBEITER:

"Was haben wir denn davon."

"Natürlich haben die Aktien an Wert gewonnen, aber nicht für uns, für uns Kleinen, für die Großen, die ja, ja, ja, die haben gewonnen. Die stecken das Geld in die Tasche, und ab sind sie."

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HANS-MARTIN BUHLMANN:

(Aktionärsvertreter)

"Ich habe selbst auch Wut, wenn mein Aktienkurs aus irgendwelchen Gründen halbiert ist."

KOMMENTAR:

Banker in Frankfurt. Die Mittagspause ein Spießrutenlauf, ungemütliche Bewegungen im Bankenviertel, die Stahlarbeiter stürmen den Frankfurter Pokertisch. Kein Zweifel mehr für sie, wer schuld ist am Desaster: das Finanzkapital. Hier sollen sie sitzen, die Drahtzieher der Rationalisierung, der Fusion, der Profitmaximierung, die kühlen Rechner des Arbeitsplatzabbaus. Die Stahlarbeiter kämpfen um ihre Existenz.

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HANS-MARTIN BUHLMANN:

"Der Finanzmarkt hat da seine eigenen Gesetze, und die mögen Sie eiskalt nennen, weil es eine rechnerische Grundlage hat. Hier wird rein mathematisch festgestellt, wer die Vorteile hat und wer die Nachteile hat."

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ARBEITER:

"Haben Sie eine Familie? Angenommen Sie hätten eine Familie und Ihr Job geht flöten, was machen Sie dann? Und Weihnachten oder Ostern kommt Ihr Sohn vorbei oder Ihre Tochter: Papa, Papa, ich möchte was haben!"

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CHRISTIAN BREITSPRECHER:

(Analyst)

"Sie können von der Marktwirtschaft in dem Sinne nicht Gerechtigkeit erwarten, sondern in der Marktwirtschaft wird das bezahlt, wofür Nachfrage da ist."

KOMMENTAR:

Die Handelsabteilung eines Düsseldorfer Bankhauses. Leute wie Christian Breitsprecher, Analyst, sind gefragt und hochbezahlt. Seine Branche boomt. Das Geschäft: die Suche nach renditeträchtigen Unternehmen. Knallhart werden Kosten und Umsätze durchgerechnet, nur die profitabelsten werden empfohlen. Heerscharen von Analysten dirigieren Milliardenbeträge quer über den Globus, und alles dreht sich nur um den "shareholder value", um den Gewinn für den Aktionär, die Arbeitsplätze - ein Kostenfaktor.

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CHRISTIAN BREITSPRECHER:

(Analyst)

"Wenn wir dann von einem Unternehmen die Aussage bekommen, daß man sich diesen Herausforderungen stellt und seine Kostenstrukturen anpaßt, sei es über - so traurig das ist - Personalreduzierung oder Produktionsverlagerung ins Ausland, dann ist das natürlich für den Analysten eine gute Meldung, führt meistens dann dazu, daß sich die Ertragserwartungen aufhellen und damit man auch bereit ist, für diese Aktie einen höheren Preis zu bezahlen."

0-Ton Werbespot

"Wann haben Sie zum letzten Mal richtig Geld gemacht? Börse Online empfiehlt Audi-Aktien. Plus 25 Prozent."

KOMMENTAR:

Expertentips in der Fernsehwerbung - wer Geld hat, kann es leicht vermehren. Traumrenditen für Anleger, die Aktienkurse steigen ins unermeßliche. Gleichzeitig die Katastrophe am Arbeitsmarkt, fast fünf Millionen ohne Job.

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EDZARD REUTER:

(ex-Chef Daimler-Benz)

"Also ich persönlich gehöre zu denjenigen, die diese einseitige Ausrichtung auf "shareholder value", auf kurzfristige Steigerung des Unternehmenswerts, für eine Katastrophe halten. Das ist fast ein Zug, der auf einen Abgrund zuläuft, wenn das so weitergeht."

KOMMENTAR:

Immer aggressiver die Proteste. Wütende Bauarbeiter stürmen den Berliner Reichstag. Schlechtes Omen für den neuen Regierungssitz. Die Hauptstadt kocht. Und wie Hohn klingen die Arbeitsplatzversprechen der Politiker in ihren Ohren.

Manches Versprechen der Regierung Kohl wirkte in der Vergangenheit geradezu rührend. Ein Beispiel: Vor sechs Jahren feierte das "Dienstmädchenprivileg" fröhliche Urständ im Regierungsprogramm. Gut betuchte durften nun ihr Hauspersonal von der Steuer absetzen. Das sollte 100.000 Stellen bringen. Tatsächlich zahlte die Bundesanstalt für Arbeit ganze 7.000, ein Rohrkrepierer. Trotzdem: dieses Jahr neue Steuergeschenke für die Dienstmädchenherren - und wieder Blütenträume vom Dienstmädchen als Beschäftigungsmotor.

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GÜNTER REXRODT:

(Wirtschaftsminister, 26.4.96)

"Die Zahl der Arbeitsverhältnisse in den Haushalten wird langsam steigen, aber sie wird steigen, und sie wird auf mehr und mehrere Zehntausend und dann Hunderttausende von Arbeitsplätzen ansteigen."

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GUIDO WESTERWELLE:

(Generalsekretär FDP, 7.3.96)

"Dadurch können allein zwischen 600.000 und 1 Million Arbeitsplätze im sozialversicherungspflichtigen Bereich geschaffen werden. Ich finde, das sind Größenordnungen, für die man kämpfen sollte, meine Damen und Herren. Es ist doch überhaupt keine Frage dabei."

KOMMENTAR:

Ernteeinsatz anno 1958. Vollbeschäftigung. Die Wirtschaftsfunktionäre entdecken sie wieder, die einfache, gesunde Arbeit auf deutscher Scholle, die Arbeitsplätze von morgen.

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HERIBERT SPÄTH:

(ehem. Präsident Handwerksverband, 26.2.96)

"Arbeit haben wir genug. Man sieht's ja beispielsweise auch bei der Ernte in Deutschland. Nur, die deutsche Ernte wird ja nicht mehr von den Deutschen eingebracht, sondern dazu brauche wir bereits Ausländer, weil wir in Deutschland nicht mehr gewillt sind, unsere Ernte einzubringen. Das sind Fehlentwicklungen, die müssen wir beseitigen."

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DIETER HUNDT:

(Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände)

"Eine Maßnahme, die sich positiv auf die Beschäftigungssituation auswirken könnte, wäre, die Kosten für die untersten Lohngruppen weiter abzusenken."

KOMMENTAR:

Bahnbrechende Ideen aus der Wirtschaft und Rückenwind für den Kanzler. Ob Dienstmädchen oder Lohnfortzahlung - Kohls Optimismus hat ein Fundament.

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HELMUT KOHL:

(Bundeskanzler, 26.4.96)

"Wir haben uns im Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung das Ziel gesetzt, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 auf die Hälfte zu reduzieren. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber es ist ein erreichbares Ziel, wie wir ja in der Vergangenheit bewiesen haben."

KOMMENTAR:

Positiv denken, Zeit für Hoffnungsträger. Motivationstraining für depressive Arbeitslose in Köln. Der Trainer sorgt für Rausch und Ekstase. Sein Dogma: Alles ist machbar, man muß es nur wollen, man muß nur daran glauben.

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EMILE RATELBAND:

(Motivationstrainer)

"Und wenn es keine Arbeit gibt, hört mal zu, dann machen wir uns selber unsere Arbeit, also zum Beispiel mal Liftboy oder zum Beispiel Autos waschen oder zum Beispiel mal Scheiben putzen."

KOMMENTAR:

Ein Stelldichein der Reichen und Erfolgreichen. Dies sind die wahren Hoffnungsträger, die Arbeitgeber von morgen für Liftboys, Autowäscher, Scheibenputzer. Gänzlich unbeschwert, befreit von den Lasten der Vermögenssteuern, beschenkt mit dem Dienstmädchenprivileg, heißt es auch hier: Wer will, der kann.

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INTERVIEWER:

"Ist der Reichtum denn gerecht verteilt?"

FRAU:

"Wer arbeitet, kann auch Geld verdienen. Und die Arbeitslosen, die dem Staat auf der Tasche liegen, also ich finde, es ist zu sehr Sozialstaat."

MANN:

"Sicher haben manche auch was geerbt, aber hier hat man die Möglichkeit, wenn man strebsam ist und fleißig, auch was zu verdienen."

MANN:

"Wer sich hart engagiert, darf darauf rechnen, auch ein bißchen mehr in der Tasche zu haben als jemand, der versucht, nur arbeitslos zu spielen."

KOMMENTAR:

Arbeitslose sind faul, so einfach ist das. Die Superreichen kassieren Steuergeschenke, von Verantwortung für Arbeitsplätze keine Spur.

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PROF. RUDOLF HICKEL:

(Wirtschaftswissenschaftler)

"Die Bundesregierung war in der Tat erfolgreich bei der Stärkung der Angebotsbedingungen. Das hat zu einer gigantischen Umverteilung geführt zugunsten der Gewinnbezieher, vor allem aber auch der Vermögensbesitzer. Und auf der anderen Seite ist diese gigantische Verbesserung der Gewinn- und Vermögensbesitzersituation nicht genutzt worden, um Investitionen vorzunehmen, vor allem auch Arbeitsplätze zu schaffen."

KOMMENTAR:

Im Schatten von Kohls Standortgerede tummeln sich zahlreiche Profiteure, etwa Berthold Leibinger, ein Maschinenbau-Unternehmer aus Ditzingen bei Stuttgart. Weltweit über 3.000 Mitarbeiter, das Geschäft boomt.

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BERTHOLD LEIBINGER:

(Trumpf-Maschinenbau)

"Wir erreichen Zuwachsraten zwischen 10 und 20 Prozent jährlich. In den letzten drei Jahren haben wir dieses realisiert, und die Aussichten, dieses Tempo einigermaßen beizubehalten, sind gut."

KOMMENTAR:

Doch die Standortdebatte weiß Cleverle Leibinger zu nutzen. Sein Deal mit den Arbeitern: eine dringend notwendige Halle baut er nur dann in Ditzingen und nicht im Ausland, wenn seine Maschinenbauer mehr arbeiten für's gleiche Geld - jetzt also 42 Stunden pro Woche, erst dann gibt's Beschäftigungsgarantie bis 1999. Kein Einzelfall, sagen die Gewerkschaften.

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GERHARD ZAMBELLI:

(IG Metall Baden-Württemberg)

"Es wird irgendwann ein Riesenfeuer geben, wenn wir in dieser Geschichte nicht etwas tun, weil ja auch in den Betrieben zum gegenwärtigen Zeitpunkt seit Monaten die Leute merken, sie werden systematisch unter Druck gesetzt. Jede Standortentscheidung, die irgendwo gefällt wird, wird erpreßt mit dem Hinweis: Wir bauen nur hier, wenn ihr bereit seid, Zugeständnisse zu machen."

KOMMENTAR:

Und noch ein Trittbrettfahrer des Standortgeredes: Bernd Mursch, erfolgreicher Software-Unternehmer aus Hameln an der Weser. Auch er hatte bei seinen Mitarbeitern Erfolg: 42 Wochenstunden für's gleiche Geld.

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BERND MURSCH:

(Software-Unternehmer)

"Wenn der Mitarbeiter Familie hat, ich meine, dann hat der Mitarbeiter vielleicht die Möglichkeit, daß er in Deutschland arbeitslos wird und nur noch Zeit für die Familie hat. Ich weiß nicht, ob das eine Alternative ist. Da ist zwei Stunden mehr arbeiten - das ist ja nicht alle Welt, und das beeinflußt die Familienstruktur gar nicht, vielleicht sogar im Gegenteil, vielleicht sogar positiv, daß man dann ganz einfach das Wochenende viel intensiver für die Familie Zeit hat."

KOMMENTAR:

Und das bei Rekordgewinnen, 5 Prozent nach Steuern im letzten Jahr. Einen Betriebsrat gibt es hier nicht, und kaum verwunderlich in diesen Zeiten: seine Mitarbeiter zeigen sich gehorsam.

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MITARBEITERINNEN:

"Ich arbeite gern zwei Stunden länger, weil dadurch der Arbeitsplatz erhalten wird, den wir hier haben."

"Ich arbeite freiwillig zwei Stunden länger, weil es hier so bestimmt worden ist."

KOMMENTAR:

Mehrarbeit für's gleiche Geld, obwohl das Unternehmen nicht die geringsten Probleme hat.

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BERND MURSCH:

(Software-Unternehmer)

"Wir haben ständig neue Mitarbeiter eingestellt, wir beabsichtigen, dieses Jahr noch zwanzig neue Mitarbeiter einzustellen, und wir machen diese Maßnahmen ja auch, um konkurrenzfähig zu bleiben."

INTERVIEWERIN:

"Dann geht's Ihnen doch gut. Warum bezahlen Sie denn Ihre Leute nicht für die zwei Stunden, die sie länger arbeiten?"

BERND MURSCH:

"Moment, Moment. Ich sagte grade, ich sagte grade, uns ging es in der Vergangenheit gut, ich sehe ganz große Probleme, und das ist für mich ein ganz wesentlicher Punkt für unsere Zukunft, für die Zukunft Standort Deutschland."

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GERHARD ZAMBELLI:

(IG Metall Baden-Württemberg)

"In vielen Fällen ist es nicht Not und ist es nicht mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, sondern in vielen Punkten heißt es ganz schlicht: Wir können noch mehr Gewinne machen, wenn wir verlagern, also ihr habt die Wahl, entweder ihr macht das mit uns, entweder ihr seit bereit, Zugeständnisse zu machen, oder es wird verlagert. Das heißt, einen Teil der Gewinne zahlen die Leute, indem sie auf Einkommen verzichten."

KOMMENTAR:

Rekordbilanz bei BASF gestern abend: 2,8 Milliarden Gewinn, 2.600 Arbeitsplätze weniger.

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JÜRGEN STRUBE:

(Vorstandsvorsitzender BASF)

"Das Ergebnis werden wir steigern. Unseren Aktionären gegenüber erneuern wir unser Versprechen, daß sie an ihrer BASF-Aktie Freude haben werden."

KOMMENTAR:

Und beim nächsten Stelldichein der Superreichen darf man auf neue Gesichter hoffen.

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Noch bewährt sich die deutsche Demokratie, auch in der Krise. Das politische Klima hier ist noch erstaunlich stabil.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 03.04.1997 | 21:00 Uhr