Stand: 04.07.24 17:24 Uhr

Von EU mitfinanziert: Deutsches Paar in türkischer Abschiebehaft (Manuskript)

Panorama v. 04.07.2024

Anmoderation Anja Reschke: "Wer sich auf Reisen begibt, berichtet den Daheimgebliebenen später ja gerne, was man so alles Schönes erlebt hat.  Wie herrlich die Berge oder traumhaft der Strand waren, wie interessant die andere Landschaft, wie aufregend Land und Leute. Das, was ein Ehepaar aus Bayern auf seiner Reise in die Türkei erlebt hat, weicht allerdings ziemlich davon ab. Prügel, Schreie, Gitter vor dem Fenster. All das, was sonst eher Menschen erleben, die versuchen, nach Europa zu flüchten. Denn die Reise des bayrischen Ehepaars endete in einem türkischen Abschiebegefängnis. Florian Guckelsberger, Paul Schwenn und Zita Zengerling."

Es begann mit einer langen Reise durch Europa: Österreich, Kroatien, Griechenland. Schließlich fährt das Ehepaar Gabriela und Walter Wimmer in die Türkei. Am 6. Februar 2023 schockierende Meldungen.

Tagesschau, ARD, 06.02.2023: "Schwere Erdbeben haben die Türkei und Syrien erschüttert, erst am späten Vormittag gab es im Südosten der Türkei ein Beben der Stärke 7,5."

Rund 60.000 Tote, die Wimmers entscheiden sich, zu helfen. Sie fahren ins Krisengebiet und verteilen Hilfsgüter aus ihrem Transporter, den sie auch zum Übernachten nutzen. Im Dezember 2023 weckt sie dort die türkische Polizei. Ihre visafreie Zeit ist abgelaufen, wegen der Erdbebenhilfe sind sie länger als geplant geblieben. Am Ende dürfen sie zurück nach Deutschland, aber die rund 40 Tage bis dahin werden die Wimmers nie mehr vergessen. Schon anfangs auf der türkischen Polizeiwache sei die Situation eskaliert.

O-Ton Walter Wimmer, war in der Türkei inhaftiert: "Und dann haben sie uns ins Auto reingezerrt, da hab ich mir die Füße verletzt und auch gegen die Schienbeine getreten."

Gabi Wimmer, war in der Türkei inhaftiert: "Mit den Füßen getreten und Haare geschlagen, über Gesicht geschlagen. Die war schon wirklich heftig."

Walter Wimmer: "Ja, und dann ist sie so gewesen, dass sie noch während der Fahrt den Kollaps bekommen hab, dass ich fast keine Luft mehr bekommen hab und auch so verzweifelt war."

Gabriela und Walter Wimmer werden nach Gaziantep gebracht. Hier, etwa 40 Kilometer entfernt von der syrischen Grenze, kommen sie in dieses sogenannte "Rücksendezentrum”. Dort sperrt die Türkei Menschen ein, die angeblich illegal im Land sind. Es ist eines von rund 30 Abschiebegefängnissen. Schon lange stehen diese Gefängnisse in der Kritik. Einblicke sind selten.

O-Ton Walter Wimmer, war in türkischer Abschiebehaft: "Wir waren mal entsetzt, dass es so menschenunwürdig da drinnen zugegangen ist. Also wir sind wieder eingepfercht worden in die Zimmer. Wie, wie die Ratten eigentlich. Da waren wir 16 Leute dann in dem Zimmer drinnen, das Zimmer ist ja normal für sechs Leute vorgesehen und überall haben diese EU-Kleber auf die Metallschränke gewesen. Ein gemeinsames Objekt, von der türkischen Regierung und von EU gefördert."     

Ein von der EU mitfinanziertes Gefängnis? Wir recherchieren. Tatsächlich sind seit 2008 etwa 200 Millionen Euro an EU-Geldern in türkische Abschiebegefängnisse geflossen. In der Vergangenheit auch hier nach Gaziantep, wo die Wimmers inhaftiert waren. Ein großer Teil der Gelder floss im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens von 2016. Brüssel versprach damals 6 Milliarden Euro. Dafür verpflichtete sich die Türkei zum Beispiel, Fluchtrouten zu schließen. Seitdem haben EU-Vertreter oft die Wichtigkeit von Menschenrechten bei der Zusammenarbeit mit der Türkei betont:

O-Ton Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin (06.04.2021): "Menschenrechtsfragen sind nicht verhandelbar, deshalb haben sie - fraglos - eine absolute Priorität."        

Menschenrechte unverhandelbar - haben die Wimmers übertrieben? Wir sprechen mit Menschenrechtsanwälten, NGOs und JournalistInnen in der Türkei. Hier sind die Vorwürfe nicht neu. Bekannt auch die offenbar schlechte medizinische Versorgung in den Abschiebegefängnissen. Walter Wimmer ist Diabetiker. Er sagt: Erst kurz vor dem Kollaps erhält er damals das dringend benötigte Insulin. Gerade kommt er von einem Termin bei seinem Diabetologen in Passau.

O-Töne Panorama: "Was hat denn der Arzt gesagt nach der Untersuchung?"

Walter Wimmer: "Dass das sehr verantwortungslos war von dieser Institution und dass das bis zum Tod hätte führen können. Egal ob ich jetzt Deutscher bin oder Syrer. Das kann man halt einfach nicht machen. Irgendwelche Menschen lebensgefährlichen Situationen zu überlassen."     

Stimmen die weiteren Vorwürfe der Wimmers? Wir prüfen ihre Aussagen, telefonieren mit ehemaligen Mitgefangenen. Einige wurden mittlerweile abgeschoben, andere unter strikten Auflagen entlassen. Offenbar weil die Gefängnisse überfüllt waren. Einer stimmt einem Interview zu. Ali ist Syrer. Auf der Flucht nach Europa greift ihn die türkische Polizei auf, sagt er. Aus Angst vor den Behörden will er anonym bleiben. Er sagt: Die beiden Deutschen seien im Gefängnis noch verhältnismäßig gut behandelt worden.       

O-Ton Ali (Name geändert), war mit den Wimmers in Abschiebehaft: "Als Walter kam, behandelten ihn die Wachen ganz anders. Sie waren viel freundlicher, lachten und machten Scherze. Ja, ich denke der Hauptunterschied ist, dass sie wussten, wenn sie ihn schlecht behandeln, wird er darüber reden und dann wird es öffentlich. Das ist warum, sie ihn anders behandeln als Afghanen oder Syrer oder Afrikaner."

In der Türkei leben mehr als 3 Millionen Syrer mit einem temporären Schutzstatus. Dieser steht eigentlich einer Abschiebung unter Zwang im Weg. Ali erzählt, Gefangene würden gedrängt, eine Erklärung über eine angeblich "freiwillige Rückkehr" zu unterschreiben und müssten dafür ihre Fingerabdrücke abgeben. Seine Schilderung deckt sich mit den Angaben weiterer Insassen.        

O-Ton Ali (Name geändert): "Ein Mann hat sich geweigert, seine Fingerabdrücke abzugeben, selbst, nachdem sie ihn verprügelt haben. Also haben sie ihn nochmal mitgenommen und wir konnten seine Schreie hören."

Die Migrationsforscherin Valeria Hänsel von der NGO Medico International kennt solche Schilderungen. 

O-Ton Valeria Hänsel, Referentin Medico International: "Wir hören immer wieder Berichte über Folter in den Gefängnissen, also eine sehr große Polizeigewalt und häufig werden sie entweder mit Gewalt dazu gezwungen, die so genannte freiwillige Rückkehr zu unterschreiben, dass sie in ihr Herkunftsland gehen. Oder die Bedingungen werden so schlecht gemacht, dass sie irgendwann freiwillig unterschreiben."         

Die türkischen Behörden antworten bis zum Redaktionsschluss nicht auf unsere Anfrage zur Situation in den Lagern. Nach rund einem Monat werden die Wimmers verlegt, erzählen sie. Die Zustände im neuen Abschiebegefängnis in Sanliurfa seien noch schlimmer gewesen. Schon vorher fiel da Gefängnis auf. Gut ein Jahr zuvor kam es dort offenbar zu einem versuchten Gruppensuizid verzweifelter Insassen. 

O-Ton Walter Wimmer, war in türkischer Abschiebehaft: "Und dann habe ich mich gewundert, dass die uns abgenommen haben, die Zahnbürste und haben uns das klappbare, was so schwammig klappbar war. Und da haben wir gedacht, da hab ich andere gefragt: Warum haben wir denn jetzt eine andere Zahnbürste bekommen. Dann haben mir dir erzählt, dass das eigentlich das Selbstmordlager war. Und dass sich halt viele diese Zahnbürste an der Mauer geschliffen haben zu einer Spitze. Ja, und die war zumindest so stabil, dass sie sich in die Halsschlagader selber umbringen können und alles drum und dran. Und dann hab ich gesagt, das kann auch nicht sein."

Auf Anfrage teilt die EU-Kommission mit:  "[Die EU leistet] finanzielle Unterstützung, um zu sichereren und würdigeren Rücksendeprozessen beizutragen.” Und: "Die Kommission hat die türkischen Behörden wiederholt auf die Notwendigkeit der Achtung der Grundrechte hingewiesen.” "Die Rücksendezentren in Şanlıurfa und Gaziantep wurden beide im Juni 2023 besucht.” (Quelle: Pressestelle EU-Kommission). Die Kontrollberichte der EU dazu stellt man uns bisher nicht zur Verfügung. Dazu sei ein gesondertes Prüfverfahren nötig, heißt es.

Die Wimmers hätten auf ihre Einblicke in diese Abschiebegefängnisse gern verzichtet. Aber andere Berichte erreichen die Öffentlichkeit in Europa selten. Schlechte Aussichten für Tausende, die in den Gefängnissen ihre Abschiebung befürchten.        

Bericht: Florian Guckelsberger, Paul Schwenn, Zita Zengerling
Kamera: Atilla Dündar, Meyser Tuncay, Jan Littelmann, Zita Zengerling
Schnitt: Florian Sack-Hauchwitz
Mitarbeit: Sener Azak, Essam Yehia, Murat Yücalar

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 04.07.2024 | 21:45 Uhr