Stand: 29.02.24 06:00 Uhr

Schuldig im Sinne des Vorurteils?

von Tina Soliman

Yulady Lasso träumte von einem besseren Leben, fern der Heimat. Sie kam aus einem Armenviertel in Kolumbien nach Deutschland, um für sich und ihre Töchter dort ein besseres Leben zu aufzubauen. Was dann mitten in Hamburg geschah, hätte sie sich niemals vorstellen können.

Schuldig im Sinne des Vorurteils?
Unter Mordverdacht sitzt eine Mutter in Hamburg mehr als sieben Monate in Haft - unschuldig und trotz eines Alibis. Auch das Sorgerecht wird ihr entzogen. Ihre Anwälte sprechen von einem Justizskandal.

Von einem Tag auf den anderen findet sich Lasso im Gefängnis wieder. Der Vorwurf wiegt schwer: sie soll, im neunten Monat schwanger, einen Mann, Benito Longo, mit bloßen Händen gefesselt und ermordet haben. Im Polizeibericht ist von "Fesselmarken an den Knöcheln" und "Blut am rechten Ohr" die Rede, was auf einen Schädelbasisbruch hindeutet.

Bei der Obduktion werden weitere schwere Verletzungen am Kopf und Brustkorb sowie "multiple Rippenfrakturen" und "Zeichen des Erstickens bei Brustkorbkompression mit Gewalt gegen die Hals- und die Mundregion" festgestellt. Die Rechtsmediziner gehen davon aus, dass Longo erstickt ist.

Unter Verdacht trotz Alibi

Yulady Lasso © NDR

Yulady Lasso - trotz bestätigtem Alibi verlängert eine Richterin ihre U-Haft.

Die Spurenlage scheint zunächst eindeutig. Yulady Lassos DNA wird am Tatort und an dem Toten gefunden. Allerdings stellt sich bald heraus: sie hat offenbar ein Alibi. Am Tattag habe sie in einem Hotel geputzt. Das sagt sie auch schon zu Beginn der Ermittlungen, und wenige Wochen nach der Festnahme wird ihr Alibi auch von einer Zeugin bei der Polizei bestätigt. Das Vernehmungsprotokoll liegt der Justiz kurz nach der Aussage vor. Doch wider Erwarten führt das nicht zu einer Wende. Denn die Haftrichterin stuft das Alibi kurzerhand als "fragil" ein, "da sie sich durchaus vor Arbeitsbeginn in der Wohnung aufgehalten und das Opfer getötet haben könnte", so die Haftrichterin.

Hätte sie nicht, widerspricht Strafverteidigerin Fenna Busmann, denn: "Zu dem Zeitpunkt war in der Akte eine Stellungnahme des Instituts für Rechtsmedizin, aus der sich ergab, dass der Todeseintrittszeitpunkt am Tattag zwischen 14 und 17 Uhr lag. Die Haftrichterin sagt vor 9 Uhr morgens, also ein halber Tag früher. Zusätzlich gab es auch schon in der Akte, der Haftrichterin deswegen natürlich auch bekannt zu dem Zeitpunkt, einen Audiomitschnitt eines Notrufs, der abgesetzt worden ist von dem Handy des Getöteten", sagt Busmann. Es gab außerdem um 9.51 Uhr einen Chat des Opfers mit nahen Angehörigen. Die Theorie der Haftrichterin wirkt daher wenig nachvollziehbar.

Was verbindet Lasso mit dem Opfer?

Privatfotos zeigen den getöteten Benito Longo vor spanischen Schinken. © NDR

Benito Longo, hier auf Privatfotos, war Gastronom mit Leib und Seele.

Yulady Lasso ist auf Arbeitssuche. Über eine Stellenanzeige lernt sie im Mai 2022 das spätere Opfer kennen. Longo, 69 Jahre alt, sucht eigentlich eine Küchenhilfe für ein Restaurant, in dem der ehemalige Gastronom öfter aushilft. Lasso ist gelernte Tourismusfachkraft, hat beim ersten Zusammentreffen jedoch noch keine Papiere. Also schlägt er ihr vor, zunächst seine Hemden zu bügeln, er würde sie dafür auch bezahlen. Fünf Tage vor dem brutalen Mord an Longo bügelt sie seine Hemden. Das war's, dachte sie. Ist dieses Treffen die Quelle der DNA-Spuren?

Wer hat den beliebten Gastronomen derart zugerichtet? "Ich kann nicht nachvollziehen, warum man ihn dermaßen gequält hat. Was wollte man von ihm?", fragt sich Manuel Longo, der ein sehr enges Verhältnis zu seinem älteren Bruder hatte. Gemeinsam kamen sie Ende der 60er Jahre aus Galizien nach Hamburg und betrieben mehrere Tapasbars in Hamburg. "Die Gastronomie war sein Leben! Er war sehr beliebt bei den Gästen! Kontakte zum Milieu gab es nicht. Niemals", beteuert Manuel Longo. Denn tatsächlich spricht die Art und Weise, wie sein Bruder ermordet wurde, eher für das Organisierte Verbrechen. Auch habe Benito Longo vor der Tat Freunden gegenüber Angst geäußert. Dass aber eine im neunten Monat schwangere Frau seinen kräftigen Bruder mit bloßen Händen umgebracht haben könnte, glaubt Manuel Longo nicht.

Motiv Habgier?

Aber für die Ermittler bleibt Yulady Lasso die Hauptverdächtige, sie erheben Anklage. Da man kein sonstiges Motiv erkennen kann, vermutet die Staatsanwaltschaft Hamburg, dass "Yulady Lasso - nicht vorbestraft - einen Menschen aus Habgier getötet" hat, so steht es in der Anklageschrift.

Der Haken: Es wurde nichts gestohlen, wie selbst die Angehörigen des Mordopfers und die Nebenklägeranwältin Sabine Marx betonen. "Ich habe das alles gesehen. Ja, es war durchgewühlt. Es war ein gewisses Chaos, aber es wurde ein Bündel Dollarscheine, mitten auf dem Tisch, gefunden. Handys und ein Laptop lagen herum. Ein portabler Safe stand auf dem Balkon. Alles war noch da!", sagt die Anwältin der Tochter des Toten.

Entzug des Sorgerechts - ohne Urteil

Doch Lasso bleibt bis zum Gerichtsverfahren in Haft, getrennt von ihrem inzwischen sechs Monate alten Sohn Mathias. Er wird nun zwischen Pflegemutter und Kinderhaus herumgereicht. Dass dies, vor allem im ersten Lebensjahr, einem Kind nicht guttut, ist bekannt und widerspricht auch jeglicher Bindungstheorie. Und tatsächlich entwickelt der kleine Mathias massive Störungen, schlägt gegen die Stäbe seines Kinderbettchens, schläft schlecht und isst kaum noch.

Lassos Anwältinnen versuchen alles, um das Kind zu seiner Mutter in eine der leerstehenden Mutter-Kind-Zellen der JVA Billwerder zu bringen. Doch die Mutter hat inzwischen für Mathias kein "Aufenthaltsbestimmungsrecht" mehr, weil das Jugendamt ihr das Sorgerecht entzogen hat - offenbar davon ausgehend, dass sie für längere Zeit in Haft bleiben würde. "Das schwang immer mit, und es wurde auch teilweise klar gesagt, dass, wenn die Mutter lebenslang in Haft bleibt, dann müsste jetzt schon eine Entwöhnung von der Mutter anfangen. Die Unschuldsvermutung war ausgehebelt", kritisiert Familienanwältin Ilka Quirling.

Entlastendes DNA-Gutachten

Rechtsanwältin Fenna Busmann © Screenshot

Anwältin Fenna Busmann hat Yulady Lasso im Mordprozess verteidigt - sie spricht von einem Justizskandal.

In der Zwischenzeit hat Lassos Anwältin im Strafverfahren, Fenna Busmann, ein externes DNA-Gutachten in Auftrag gegeben. Der Leiter der Forensischen Molekulargenetik der Uniklinik Köln, Cornelius Courts, kommt zu dem Ergebnis: Die DNA an Benito Longos Kleidungsstücken lässt sich durch Yulady Lassos "Haushaltstätigkeiten plausibel erklären". DNA-Moleküle seien "physiko-chemisch sehr stabil, sodass bei günstigen Lagerungsbedingen ein Abbau oder Zerfall von DNA-Molekülen innerhalb von fünf Tagen praktisch nicht stattfindet". Ihre DNA könne also sehr wohl durch den Aufenthalt fünf Tage zuvor an den Tatort gelangt sein. Doch auch das Gutachten führt zu keiner Wende.

Und plötzlich: Freispruch

Yudaly Lasso zwischen ihren Anwältinnen vor Gericht. © NDR

Nach mehr als einem halben Jahr in Haft wird Yulady Lasso freigesprochen.

Bei der mündlichen Verhandlung vor Gericht dann die große Überraschung: die eigentlich längst vernommene Alibi-Zeugin wird vom Richter plötzlich zum "Gamechanger" erklärt. Lassos Alibi sei "wasserdicht", erklärt der Richter weiter, und: "Sie war es nicht." Er spricht Lasso frei, nach 217 Tagen unschuldig in Haft.

Gerichtssprecher Kai Wantzen erklärt den Freispruch: "In der Hauptverhandlung hat sich herausgestellt, dass die Angaben zum Alibi der Angeklagten - sie war zum Zeitpunkt der Tat in einem Hotel zum Arbeiten - belastbar sind, und deshalb steht fest, dass sie nicht die Täterin hier ist. Dementsprechend ist sie von dem Vorwurf freigesprochen worden." Tatsächlich habe die Alibi-Zeugin "die Wende gebracht".

Spielte Rassismus eine Rolle?

Dabei hatte sich nichts Wesentliches geändert. Denn schon sechs Wochen nach der Inhaftierung war die Alibi-Zeugin ja vernommen worden - viele Monate vor der Hauptverhandlung. "Diese Zeugenaussage hätte Folgen haben müssen", kritisiert Verteidigerin Fenna Busmann, und das müsse man der Justiz vorwerfen. "Man hätte ihr und ihrem Sohn viele Monate Untersuchungshaft ersparen können und müssen", sagt Busmann. Sie spricht von einem Justizskandal.

Und sie vermutet, dass auch Lassos Hautfarbe eine Rolle gespielt habe: "Ich vermute, dass es einen Unwillen gab, sich intensiv damit zu befassen, auch weil man vielleicht dachte, dass man es nicht ganz so genau nehmen muss. Das Thema Rassismus - das ist auf jeden Fall ein Thema, was unsere Mandanten getroffen hat", sagt die Verteidigerin. Auch Lasso selbst vermutet, dass ihre Hautfarbe und ihr sozialer Status dazu beigetragen haben, dass man sich so an ihr "festgebissen" hat.

Angehörige warten weiter auf Aufklärung

Manuel Longo © NDR

Manuel Longo sucht weiter Antworten.

Und auch die Angehörigen des Ermordeten üben Kritik: "Im ersten Augenblick haben wir nur gedacht: Mensch, da läuft der Täter immer noch frei rum. Aber recht schnell hat sich herausgestellt, naja, uns tut es leid für Yulady. Sie hat ja auch verloren. Wir haben eine geliebte Person verloren, aber sie hat sieben Lebensmonate verloren. Wir fühlen halt mit ihr. Und wir finden das nicht gerechtfertigt für sie, dass das passiert ist", sagt Yolanda Longo, die Nichte des Mordopfers.

Und Manuel Longo? Wie soll er weiterleben nach dem unaufgeklärten Mord an seinem Bruder? "Solange der Täter noch frei rumläuft, werde ich nicht abschließen können. Vor allem aber will ich wissen, warum mein Bruder so qualvoll sterben musste. Ich brauche Klarheit", sagt er. Ruhe gibt es für ihn nicht, bis der Mörder gefasst ist.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 29.02.2024 | 21:45 Uhr