Stand: 14.09.23 09:45 Uhr

Perfide: Antisemiten gründen "Jüdische Gemeinden"

von R. Bongen, J. Feldmann, T. Robben

Nora Goldenbogen ist die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden in Sachsen. Sie erinnert sich noch sehr gut an den Moment, als sich vor einigen Jahren ein älteres Ehepaar aus Radeburg bei ihr meldete. Dieses wollte sich über seine Nachbarn beschweren.

Warum sie sich bei Goldenbogen meldeten? "An dem Haus war ein Schild, auf dem stand: Jüdische Gemeinde Esau. Da haben sie sich natürlich an uns gewandt – und so haben wir das erste Mal erfahren, dass es dort eine Truppe gibt, die sich 'Jüdische Gemeinde Esau' nennt."

Perfide: Antisemiten gründen "Jüdische Gemeinden"
Personen aus der antisemitischen "Reichsbürger"-Szene gründen offenbar Vereine und nennen diese "Jüdische Gemeinden".

Eine "Jüdische Gemeinde Esau" in Radeburg? Gäbe es eine jüdische Gemeinde in dem Ort, müsste Nora Goldenbogen davon wissen. Sie wusste aber nichts davon. Kurz darauf erfuhr sie von einer weiteren angeblichen neuen jüdischen Gemeinde - diesmal in Bautzen.

Dort gibt es seit Verfolgung der Juden in der Nazizeit keine Gemeinde mehr: "Die haben tatsächlichen den Namen der historischen Bautzener Gemeinde benutzt. Sie haben agiert mit dem Briefbogen und mit dem Logo der Gemeinde." Noch mehr erschreckt Goldenbogen, als sie recherchiert, wer hinter den Neugründungen steckt: Menschen, die dem Reichsbürger-Milieu zuzurechnen sind.

Reichsbürger - Verfassungsfeinde und Antisemiten

Ausgerechnet Reichsbürger. Verfassungsfeinde, die die Bundesrepublik nicht anerkennen. Seit Jahren fallen sie mit antisemitischen Verschwörungstheorien auf, mit judenfeindlichen Äußerungen und Holocaust-Leugnungen. Wie passt es zusammen, dass diese Personen Jüdische Gemeinden gründen?

Nach Panorama-Recherchen sind in den vergangenen Jahren tatsächlich eine Reihe von angeblich jüdischen Vereinen von Personen aus dem Spektrum der Reichsbürger gegründet worden. Diese firmierten dann als „Jüdische Gemeinden“, so geschehen in Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Hessen.

Teilweise wurden die Vereine offiziell ins Vereinsregister eingetragen, mindestens vier davon existieren bis heute. Was genau mit den Gründungen bezweckt wird, bleibt offen. Panorama hat versucht, mit den Vorständen der "Schein-Gemeinden" ins Gespräch zu kommen. Doch über die wahren Hintergründe wollte keiner Auskunft geben.

"Hitler von den Juden finanziert" 

Iwan Götz vor einer Bücherwand © NDR

"Reichsbürger" Iwan Götz sieht sich als Vertreter des "wahren Judentums".

Als angeblicher Oberrabbiner mit Kontakten zu mehreren dieser "Jüdischen Gemeinden" tritt der 75-Jährige Iwan Götz aus Mecklenburg-Vorpommern auf. Der bereits mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilte Mann hat sich selbst zum Rabbiner ernannt, wie er im Panorama-Interview berichtet.

Er sei irgendwann mal in Russland zum Judentum konvertiert. Er sieht sich als Vertreter des "wahren Judentums", in Deutschland gäbe es sonst nur Zionisten. Und die hätte Hitler finanziert: "Deutsche haben einen geringen Teil davon gemacht, Hitler wurde von Juden finanziert", behauptet der Reichsbürger. Eine antisemitische Geschichtsfälschung.

Offenbar geht es um Tarnung

Nora Goldenbogen sieht hinter der Gründung der angeblichen Jüdischen Gemeinden durch Reichsbürger ein ganz anderes Motiv: "Man benutzt das Judentum als Schutzschild, denkt und agiert aber antisemitisch." Auch die Sicherheitsbehörden in mehreren Bundesländern beobachten die Gründungen von „Schein-Glaubensgemeinschaften“ durch Reichsbürger; zum Zweck des "Kaschierens extremistischer Ideologie", wie es der Hessische Verfassungsschutz einschätzt.

Nora Goldenbogen © NDR

Nora Goldenbogen betont, dass die angeblichen Jüdischen Gemeinden nicht in den Verbänden der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland organisiert sind.

Es könnte den Reichsbürgern also einerseits um eine Art Tarnung gehen, vermutet Goldenbogen. Andererseits könnten sie über solche Vereine auch versuchen, an Gelder zu gelangen. Nach Panorama-Recherchen hatte eine von einem Mann mit Reichsbürger-Verbindungen gegründete "Jüdische Gemeinde" nahe Lübeck tatsächlich versucht, Fördergelder einer Kommune zu erhalten.

"Ein Dunkelfeld kann da entstehen", sagt Goldenbogen. Es sei wichtig, dass dort genau hingeschaut werde. Ihr ist es wichtig zu betonen, dass diese angeblichen Jüdischen Gemeinden nicht in den Verbänden der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland organisiert sind.

In einigen Bundesländern beobachten auch die Verfassungsschutzbehörden diese Aktivitäten von Reichsbürgern. Der sächsische Verfassungsschutz teilt auf Panorama-Anfrage mit: "Die entfalteten reichsbürgertypischen Aktivitäten zielen stets darauf ab, das Handeln von Behörden zu behindern oder zu verzögern sowie der Bundesrepublik Deutschland die Souveränität abzusprechen."

Zentralrat der Juden: "Gesamtgesellschaftlich gefährlich"

Auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland sind bereits mehrere Fälle bekannt geworden. "Die Problematik dieser Gruppierungen und Personen ist uns bekannt", so ein Sprecher gegenüber Panorama. "Die Verschleierung der wahren Absichten" dieser Gruppen aus dem Reichsbürger-Milieu sei "gesamtgesellschaftlich gefährlich".

In einigen Fällen sei der Zentralrat "schon juristisch gegen Protagonisten vorgegangen". Grundsätzlich jedoch ist der Begriff "Jüdische Gemeinde" rechtlich nicht geschützt.

Verhöhnung von Holocaust-Opfern

Die beiden angeblichen Gemeinden in Sachsen, in Radeburg und in Bautzen, sind inzwischen wieder verschwunden. Doch auch wenn die Strategie der Reichsbürger bisher offenbar wenig erfolgreich ist, jede einzelne Gründung stellt für Nora Goldenbogen eine Verhöhnung der Opfer des Holocausts dar.

Juden könnten so in Misskredit gebracht werden: "Dieses Stückchen Gefühl dafür, dass es Menschen gab, eine ziemlich große Gruppe in Deutschland, die wirklich nur deswegen verfolgt und zum großen Teil ausgerottet wurde, weil sie eben zu dieser Gruppe gehören. Und heute wird das benutzt. Das ist schon etwas, was schmerzt."

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Das Erste | Panorama | 14.09.2023 | 21:45 Uhr