Stand: 24.02.22 06:00 Uhr

Radikale Klimaschützer: Mit Gewalt die Welt retten?

von Johannes Edelhoff, Annette Kammerer, Andrej Reisin und Caroline Walter

Seit Wochen halten sie das Land in Atem: Die Aktivist:innen vom "Aufstand der letzten Generation" blockieren Straßen oder kleben sich auf Autobahn-Auffahrten selbst am Asphalt fest. Zuletzt legten sie große Teile des Hamburger Hafens vorübergehend lahm, indem sie eine der wichtigsten Zufahrten, die Köhlbrandbrücke, sperrten.

Radikale Klimaschützer: Mit Gewalt die Welt retten?
Der Klimabewegung rennt nach eigener Auffassung die Zeit davon. Radikalisieren sich deshalb ihre Aktionsformen?

Die Aktivisten wollen, dass die Regierung Gesetze gegen Lebensmittelverschwendung erlässt. Denn ein Drittel aller produzierten Lebensmittel werden laut Umweltbundesamt weggeworfen. Für dieses Essen, das niemand isst, wird in der EU so viel CO2 ausgestoßen wie die Niederlande insgesamt verbrauchen.

Die Gruppe hatte die Aktion bereits in der vergangenen Woche vor dem Bundestag angekündigt und Bundeskanzler Olaf Scholz ein Ultimatum gestellt, mit dieser Begründung: "Versagt die Politik darin, ihre Bevölkerung zu schützen, sehen wir uns gezwungen, mit zivilem Widerstand für das Überleben aller als moralischem Imperativ einzustehen. Wir werden in diesem Fall anfällige Infrastruktur wie Häfen und Flughäfen stören", so die Aktivist:innen.

Politik will sich nicht erpressen lassen

Doch weder Scholz noch der Rest der Politik wollen sich erpressen lassen. Konstantin Kuhle, innenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, stellt im Gespräch mit Panorama fest: "Nicht jede kreative Aktion ist automatisch eine Straftat oder automatisch von Linksextremisten unterwandert. Aber wir müssen feststellen, dass es eine wachsende Zahl von Ereignissen gibt, bei denen die Schwelle zu Straftaten überschritten wird. Das darf Politik sich nicht bieten lassen. Wir dürfen uns nicht von gewalttätigen Aktionen erpressen lassen."

Tadzio Müller © NDR/ARD Foto: Screenshot

Der Klimaaktivist Tadzio Müller beobachtet seit langem die Radikalisierungstendenzen der Klimabewegung - und hält diese für notwendig.

Die Sprecher des radikalen Teils der Klimabewegung sehen dies anders. Zu ihnen gehört Tadzio Müller. Er warnt seit Monaten davor, dass die Bewegung sich radikalisiere. Gleichzeitig hält er dies auch für zwingend notwendig. "Für mich sind diese Aktionen legitime Notwehr", so Müller. "Sie geschehen im Rahmen eines rechtfertigenden Notstandes, nämlich des Klima-Notstands, den das EU-Parlament am 28. November 2019 ausgerufen hat. Und das Bundesverfassungsgericht hat im April 2021 gesagt, dass die Klimakrise die Freiheitsrechte zukünftiger Generationen zu vernichten droht."

"Friedliche Sabotage" für den Klimaschutz

Müller spricht von "friedlicher Sabotage", wenn Gruppen wie "Ende Gelände" Braunkohle-Tagebaugruben besetzen. Auch "Sirup in die Tanks von Baumaschinen schütten" oder "Bauzäune umwerfen" sind für ihn legitime Aktionen. Gewalt gegen Menschen lehnt er strikt ab. In der Geschichte der Klimabewegung sei es aber auch "nie so gewesen, dass Gewalt von den Aktivistinnen und Aktivisten ausging", so Müller.

Carla Hinrichs © NDR/ARD Foto: Screenshot

Carla Hinrichs ist Sprecherin der "letzten Generation". Sie nimmt regelmäßig an Blockade-Aktionen der Gruppe teil und fordert zivilen Widerstand.

Dass es eine Art "Klima-Notstandsrecht" gebe, sieht auch Carla Hinrichs so, die Sprecherin der "letzten Generation": "Es kann nicht sein, dass wir auf dem Weg in einen absoluten Klimakollaps sind und die Regierung immer noch keine Maßnahmen ergreift. Wir waren mit Millionen Menschen im Regierungsviertel, wir haben demonstriert, Petitionen geschrieben. Das alles hat nicht gereicht. Jetzt brauchen wir viele Menschen im zivilen Widerstand, die so stören, dass es nicht überhört werden kann. Ich sitze hier nur im Schneidersitz auf der Straße und mache mein verfassungsrechtliches Recht auf Leben, Überleben und Nahrungsmittel geltend. Das finde ich nicht radikal."

Politik will Anliegen anders durchsetzen

Renate Künast © NDR/ARD Foto: Screenshot

Inhalt und Form: Renate Künast von den Grünen kann die Anliegen der Klimaaktivisten nachvollziehen, aber nicht die Wahl der Mittel.

Die Politik hingegen hat den Eindruck, dass man bereits sehr hart an allen klimarelevanten Themen arbeitet, dass also schon viel erreicht wurde. Etwa die ehemalige Bundeslandwirtschaftsministerin Renate Künast von den Grünen - sie will die Verschwendung von Lebensmitteln ebenfalls stoppen.

Für sie sind die Anliegen der Aktivisti:innen völlig legitim, aber nicht die Art des Protests: "Ich finde, die Grenze ist überschritten, wenn du auf einer Autobahn bist und alle möglichen Leute kleben sich fest und kein Auto bewegt sich - und der Rettungswagen ist mittendrin. Das halte ich auch für gesellschaftlich nicht legitim. Der zivile Ungehorsam will ja eigentlich ein Gemeinwohlinteresse vertreten, dass Lebensmittel nicht weggeworfen werden. Aber auf der anderen Seite eine Aktionsform zu wählen, die Gemeinwohl-Interessen massiv einschränkt, das ist einfach blöd."

Radikale Aktionen sorgen für Aufmerksamkeit

Flugblatt von Klimaaktivisten gegen SUVs und andere Autos. © NDR/ARD Foto: Screenshot

Den Vorwurf müssen sich auch diejenigen anhören, die in Berlin nachts Luft aus teuren SUVs und Sportwagen mit hohem CO2-Ausstoß lassen. Sie schrauben nachts die Ventile auf, stecken eine Erbse oder Linse hinein und sorgen so dafür, dass die Luft langsam entweicht. Die Besitzer finden am nächsten Morgen einen Zettel mit einer Warnung am Auto, dass ihre "Drecksschleuder" aus Klimaschutzgründen "platt" sei. Das Landeskriminalamt Berlin ermittelt in diesen Fällen.

Eine dieser Gruppen äußert sich im Interview mit Panorama. Sie stünden dazu, "eine Grenze überschreiten zu wollen". Andere Proteste wie angemeldete Demos seien auch wichtig. Aber: "Teile der Medien, die das jetzt kritisieren, würden über die hundertste angemeldete Demo nicht berichten", meint Aktivist Jaro.* "Und dann muss man halt eben auch sagen: Das hat auch den Effekt, den es haben soll, es wird darüber gesprochen. Was uns natürlich noch viel wichtiger wäre, dass mehr über den Inhalt gesprochen wird und nicht nur so sehr über die Form und wie radikal das alles sei."

Keine Spaltung der Bewegung

Carla Reemtsma © NDR/ARD Foto: Screenshot

Carla Reemtsma von Fridays for Future sieht keine Spaltung der Klimabewegung. Sie fordert die Politik zum Handeln auf.

Die Klimabewegung will sich nicht spalten lassen: in den "netten" Fridays-For-Future-Protest, den alle liebhaben, einerseits und in radikalere Formen, die verteufelt würden, andererseits. Gegen eine Spaltung der Bewegung ist im Gespräch mit Panorama auch FFF-Sprecherin Carla Reemtsma: "Diese Entwicklung, dass es Gruppen gibt, die neue Protestformen ausprobieren, ist nur eine logische Folge aus eben der Untätigkeit der Regierung. Ich glaube, es ist gut, dass es diese Gruppen gibt, weil die Klimabewegung anscheinend noch nicht ausgereicht hat, um die Politik zum Handeln zu bringen."

Darin ist sie sich mit Tadzio Müller einig: "Die Gesellschaft hat gesagt: 'Ja, die Klimakrise ist real. Ja, sie wird von Menschen verursacht. Und es gibt Zeitdruck.' Wenn all das wahr ist, dann müsstest Ihr hier mit uns auf der Straße sitzen und blockieren und nicht uns anbrüllen und sagen, 'Ihr stört die Autobahn.' Diese Störung ist das Mindeste, was zu erwarten ist. Und deswegen reagiert die Gesellschaft auch so negativ, weil wir alle das im Grunde verdrängen. Die Klimaproteste sind die Rückkehr des Verdrängten. Wenn man das nicht will, dann muss man verdammt nochmal Klimaschutz machen."

*Name von der Redaktion geändert

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 24.02.2022 | 21:45 Uhr