Stand: 05.05.22 06:00 Uhr

Putins brutaler Angriffskrieg: Warum jubeln viele Russen?

von Annette Kammerer, Nadja Mitzkat, Robert Bongen

Auf Bussen, Kehrmaschinen, Werbetafeln und sogar abends in Konzerthallen: Überall prangt ein orange-schwarzes "Z" mit spitzen Ecken. Nowosibirsk sei die Hauptstadt dieser "Z’s", sagt die 33-jährige Lehrerin Helga, als sie uns ihre sibirische Heimatstadt zeigt. 

Nicht nur in Moskau und St. Petersburg, längst hat sich in ganz Russland der lateinische Buchstabe "Z" zum Symbol der Unterstützung für die russische Armee und die Regierung entwickelt. Er steht für "sa" - zu Deutsch "für". 

Überall im Land wird die Werbetrommel gerührt: In Nowosibirsk schwört der Bürgermeister die Stadtgesellschaft etwa auf abendlichen Veranstaltungen auf schwere, aber heroische Zeiten ein. Harte Rhetorik, die das gesamte Volk zusammenschweißen soll.

Unterstützung für Putin so groß wie noch nie?

Und es funktioniert, die Propaganda verfängt: Das erlebt Helga jeden Tag. Sie ist auch Vorsitzende der örtlichen Lehrergewerkschaft und beobachtet, wie sich nun jede und jeder zum Krieg bekennen muss. Und wer es nicht tut oder ihn gar kritisiert, der läuft Gefahr, denunziert zu werden. Selbst Schülerinnen und Schüler nehmen im Unterricht heimlich ihre Lehrer auf, wenn die sich kritisch äußern - und schicken den Mitschnitt den Behörden. 

Die Unterstützung für Putin sei so groß wie noch nie, sagt Helga. Zu Beginn des Krieges nahm sie als Zeichen des Protests mit ukrainischem Kopfschmuck an einer Abgeordnetenversammlung ihrer Stadt teil. Dadurch wurde sie auch außerhalb Russlands bekannt. Ihrer Meinung nach seien bis zu achtzig Prozent der Bevölkerung mittlerweile für den Krieg. Der Rest sei verstummt oder habe das Land verlassen. 

"Atomkrieg möglich"

Helga hält nun sogar einen russischen Atomschlag für möglich. Noch vor ein paar Monaten, sagt sie, hätte sie das komplett ausgeschlossen. Doch dann habe sie Margarita Simonyan, eine von Putins wichtigsten Propagandistinnen im Staatsfernsehen, sagen hören, dass ein Atomschlag keine schlechte Idee sei.

Sergej aus Moskau © NDR / ZEIT / FLIP

Die Ukraine sei ein nationalsozialistischer Staat, erklärt Sergej, und vergleicht die Russen heute mit den jüdischen Deutschen von damals. 

Sergej aus Moskau hält dagegen einen Atomkrieg für unwahrscheinlich. Ein solcher Krieg ergebe keinen Sinn. Denn Russland wolle die Ukraine "zu sich holen” und mit den Ukrainern zusammenleben. Der 32-Jährige lebt in Moskau und arbeitet als Flugbegleiter. Er zeigt uns Bilder von sich aus Rom auf seinem Handy. Doch momentan hat er kaum noch Arbeit. Meist fliegt er nur innerhalb Russlands umher. Trotzdem ist er "sa". Auch die große Mehrheit der Russen sei für den Krieg, erzählt er. Und schiebt sofort hinterher, dass er aber nicht von "Krieg" sprechen würde, sondern eher von der "Befreiung der Ukraine". 

Sergej rechnet damit, dass die Ukraine als eigenständiger Staat nicht bestehen bleibe. Die Westukraine werde zu großen Teilen an Polen gehen, Ungarn und Rumänien würden ebenfalls kleine Gebiete im Westen erhalten. Der Rest, da seien sich alle Experten einig, werde Territorium Russlands sein. Wie gut das Leben dann wäre, das sehe man schon jetzt in der von Russland kontrollierten Region Cherson: Dort seien die Rohstofflieferungen schon wieder hergestellt, die Aussaat habe begonnen und Schulen wieder geöffnet.

Die "Befreiung" der Ukraine

In seiner Einzimmerwohnung am Rand von Moskau zeigt uns Sergej am Abend, was im Staatsfernsehen läuft. Zu sehen ist da etwa, wie Zivilisten endlich Mariupol verlassen können - aber laut Bericht nicht, weil Russland die Stadt umzingelt hat, sondern weil "Nazis" im Inneren die Stadt blockierten und ihre eigenen Bürger opfern würden. Auch wenn Sergej sich meist über Telegram-Kanäle informiert und wenig vom russischen Staatsfernsehen hält - so ist seine Meinung doch ähnlich. Die Ukraine sei ein nationalsozialistischer Staat, erklärt Sergej uns, und vergleicht die Russen heute mit den jüdischen Deutschen von damals. 

Kriegspropaganda bei Telegram

Dass man Russen in der Ukraine schützen müsse, das glaubt auch Nikita, der in Omsk Ölverarbeitung studiert. "Wir werden für Russen kämpfen. Überall und immer. Das gefällt mir, weil ich ein Russe bin", sagt er. Nebenbei arbeitet der 20-Jährige als freier Redakteur für den Telegram-Kanal "Muschskoi Legion Z", auf Deutsch: Männerlegion Z. Der Kanal ist Teil eines Netzwerks ultrarechter Chatgruppen und war letztes Jahr selbst den russischen Behörden zu extrem und wurde verboten.

Nikita, Student aus Omsk © NDR / ZEIT / FLIP

Nikita studiert und arbeitet für "Muschskoi Legion Z". Der Kanal war letztes Jahr selbst den russischen Behörden zu extrem und wurde verboten.

Eine Recherche des Investigativnetzwerks "Bellingcat" zeigt: Nun wird dort und in den mit der "Männerlegion Z" verknüpften Kanälen aggressiv die Werbetrommel für Putin gerührt. Neben antisemitischen und frauenfeindlichen Inhalten, die es auch schon früher gab, werden Clips gezeigt, die den Einsatz der russischen Armee verherrlichen und Ukrainer verunglimpfen. 

Zum Netzwerk gehörte kurzzeitig auch ein Kanal mit dem Namen "Kollaborant". Dort wurden Menschen, die wie Helga gegen den Krieg sind, als "Kollaborateure" oder "Verräter" denunziert und ihre Daten veröffentlicht. Innerhalb einer Woche hatte der Kanal mehr als 30.000 Mitglieder. Dann wurde er von Telegram gesperrt. 

Menschen, die in Russland nicht "sa" sind, nicht für den Krieg, haben trotzdem Angst. Sie können kaum noch offen sprechen und müssen, wie Helga, jedes ihrer Worte genau abwägen, um nicht am Ende ins Gefängnis zu kommen. Als wir sie fragen, wer Putin aufhalten könnte, traut sie sich nicht, eine Antwort zu geben. Sie möchte keinesfalls öffentlich den Eindruck erwecken, zu Putins Sturz aufzurufen. Dies sei, so Helga, ziemlich sicher strafbar, wie mittlerweile jedes dritte Wort.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 05.05.2022 | 21:45 Uhr