Stand: 26.05.16 11:09 Uhr

"Gesunde Gewinnspannen" bei "hoher Versagensrate"

von Stefan Buchen

Der Anfang war euphorisch. "Wie bei einem Sektentreffen", erinnert sich ein ehemaliger führender Verkaufsmanager von DePuy. "Dabei wollten wir keinen neuen Rennwagen von Porsche verkaufen, sondern nur ein orthopädisches Implantat." 500 Firmenmitarbeiter aus aller Welt hatte das Unternehmen nach Lissabon geladen. Der internationale Start (außer Amerika) der beiden neuen Hüftmodelle aus Metall sollte so richtig gefeiert werden. Das Unternehmen hatte sich eine bunte Choreografie ausgedacht, erzählt der ehemalige Manager.

DePuy ist eine Tochter des US-Konzerns Johnson & Johnson. © NDR

DePuy, Tochter des US-Konzerns Johnson & Johnson, ist in der Sparte "orthopädische Implantate" tätig.

Eine Balletttänzerin, ein Skilehrer und ein Discjockey traten auf als Musterpatienten, denen die Implantate eingebaut wurden. Die Botschaft: mit diesen Metall-auf-Metall-Implantaten können Sie Ihre Aktivitäten - und seien sie noch so belastend für die Gelenke - fortsetzen als wäre nichts gewesen! Die eigenen Verkäuferkolonnen und handverlesene Ärzte sollten sich begeistern für das Produkt. Mit den Implantaten aus der Konzernschmiede im englischen Leeds wollte DePuy nicht nur aufschließen zur Konkurrenz, sondern an ihr vorbeiziehen. DePuy ist eine Tochter des US-Konzerns Johnson & Johnson. Der Weltmarktführer bei Medizinprodukten machte 2015 15,5 Mrd. Dollar Gewinn bei einem Umsatz von 70 Mrd. Dollar. DePuy deckt für den Konzern die Sparte “orthopädische Implantate” ab.

"Formel-Eins-Wagen" unter den Metall-Hüften

Andere Anbieter wie Smith & Nephew hatten schon vor der Jahrtausendwende Hüftmodelle vorgelegt, die ganz aus Metall bestanden.  Dadurch war DePuy in Zugzwang geraten. Als wäre der Porsche als Vergleichsgröße nicht genug, spricht ein deutscher Professor für Biomechanik, der für DePuy das Design geprüft hat, vom "Formel-Eins-Wagen" unter den Metall-Hüften. Der Spalt, der Abstand zwischen Hüftkopf und Pfanne, war viel kleiner gewählt worden als bei den Konkurrenzmodellen. Die beiden Gelenkteile sollten so noch besser ineinander gleiten. Der Flitzer aus Kobalt und Chrom sollte die lahmen Enten der Konkurrenz hinter sich lassen im Rennen um die Weltmärkte.

"Besorgt wegen der Versagensrate"

Interne E-Mails von Konzern-Managern, die Panorama vorliegen, zeigen, dass die Euphorie schon kurz nach dem Start in eine andere Stimmung umschlug. "Ich bin besorgt wegen der Versagensrate", schreibt eine leitende Mitarbeiterin des US-Mutterkonzerns Johnson & Johnson an einen der Designchefs von DePuy schon im Oktober 2005. "Die Reklamationsquote geht nach oben", warnt eine Vertriebsmanagerin aus Australien. Ein Arzt aus Nordirland berichtet von Schmerzen einer Patientin und einem unaufhörlichen "Knacken" im Implantat. Ein Chirurg aus Italien meldet "erhöhten Metallabrieb". Aus aller Welt träufeln 2006 schlechte Nachrichten ein über Patienten mit Beschwerden nach der OP.

Am alarmierendsten sind die Vorgänge, die aus den Niederlanden gemeldet werden. Dort hatte DePuy 2005 eine "klinische Studie" der ASR-Implantate in Auftrag gegeben. Die Leiterin der Abteilung "klinische Studien" hatte betont, wie wichtig es sei, dass DePuy diese Studien selbst steuert. Nur so könnten "ungünstige Ergebnisse" verhindert werden. Als Partner in den Niederlanden hatte DePuy sich landesweit "den erfahrensten Anwender der ASR-Implantate" ausgesucht.

"Unerklärliche Komplikationen" bei der klinischen Studie

Aber das Projekt läuft aus dem Ruder. Der niederländische Chirurg, der die Studie leitet, meldet Komplikationen bei zwei Patienten, die er sich "nicht erklären" könne: "lockere Hüftpfannen" und "erhöhte Metallionenwerte". Der Arzt erklärt im Juni 2006, dass er das Implantat nicht mehr einsetzen wolle. Eine Vertriebsmanagerin in Holland reagiert zunächst mit einem Understatement. Sie berichtet ihren Kollegen von einer "kleinen Überraschung". Schnell macht sich Panik breit. Das Gerede über Komplikationen breite sich rasant in Fachkreisen aus, warnen Manager von DePuy. Ein Hierarch aus der Marketingabteilung in Leeds schreibt Ende Juli 2006 an Kollegen, dass man diese Bedenken "im Keim ersticken" müsse. "Das letzte, was wir brauchen, ist andauerndes Geschwätz über Verbiegungen, unerklärbare Schmerzen und erhöhte Metallwerte im Blut, die von den ASR-Prothesen hervorgerufen werden."

"Steuerung der Wahrnehmung"

Im Konzern beginnt das, was später ein Topmanager als "Steuerung der Wahrnehmung" bezeichnet. Allein in eines der beiden ASR-Modelle habe man "45 Millionen Dollar" investiert, schreibt er. Und das Modell könne eine "gesunde Gewinnspanne" vorweisen.

Im September 2006 soll in Rotterdam eine Tagung über Hüftimplantate stattfinden. DePuy fürchtet, dass die Kritik des niederländischen Chirurgen dort weitere Kreise zieht. Das Vertriebsmanagement in den Niederlanden engagiert einen Orthopäden, der in der Schweiz praktiziert. Er soll auf der Tagung in Rotterdam einen Vortrag halten, der die ASR-Implantate in günstigem Licht erscheinen lässt.

Der Mann aus der Schweiz möchte sich offenbar ganz auf die Wünsche des Unternehmens einstellen. "Ich möchte gern eine Telefonschalte mit Ihnen machen", schreibt er an DePuy. "Ich möchte erfahren, wie ich die Probleme und Sorgen der holländischen Ärzte angehen soll." Wie genau die Tagung in Rotterdam abgelaufen ist, geht aus dem internen Mailverkehr nicht hervor. Panorama hat versucht, den Orthopäden aus der Schweiz, der DePuy aus der Patsche helfen wollte, zu kontaktieren. Er hat auf unsere Anfragen nicht reagiert.

Produktwerbung gegen Bezahlung

Enge Beziehungen zu Ärzten in aller Welt, die gegen Bezahlung die Produkte des Konzerns bewerben, ist eine gängige Methode aller Medizingerätehersteller. "Key Opinion Leader" (etwa: zentraler Multiplikator) ist der Fachbegriff dafür. Für den deutschen ASR-Markt spielte diese Rolle ein Chefarzt aus dem Saarland. Er war, wie Kollegen aus den USA und Großbritannien, in die Entwicklung und Erprobung des Designs eingebunden. Relativ gesehen wurden in Deutschland in keiner Klinik so viele ASR-Prothesen eingebaut wie im Haus des saarländischen Chirurgen. Wieviel Geld er für seinen "Beratervertrag" mit DePuy bekommen hat, ist nicht bekannt. Seine Counterparts aus den USA strichen jedenfalls Millionen Dollar an "Royalties" ein. Ein Ermittlungsverfahren gegen den Chefarzt aus dem Saarland verlief im Sande. Gegenüber Panorama wollte er sich nicht äußern.

Gerade aus Deutschland sind von DePuy Marketingmethoden der besonderen Art überliefert. In Gerichtsakten ist dokumentiert, dass bei "Oberarzt-Tagungen" im Jahr 2005 die Medizin nicht unbedingt im Mittelpunkt stand. "Schnuppergolfen", "Segeln" (inklusive "Knotenkunde") und "Tennis" stehen da auf dem Programm. "Es war normal, dass man die Teilnehmer solcher Tagungen als Erstes nach ihrem (Golf-) Handicap fragt" erinnert sich ein früherer Topmanager von DePuy in Deutschland.

"Es ist eine Mafia"

Der belgische Orthopäde Koen De Smet © NDR

DePuy habe auf seine Empfehlung, den Verkauf der Implantate zu stoppen, nicht eingehen wollen, so der belgische Orthopäde Koen De Smet.

Für die Art und Weise, wie in der ASR-Affäre bei DePuy zwischen Geschäftsinteressen und Patientenwohl abgewogen wurde, findet der belgische Orthopäde Koen De Smet deutliche Worte: "Es ist eine Mafia."

De Smet, ein weltweit anerkannter Experte, hatte von 2006 bis April 2008 einen Beratervertrag mit DePuy. Auf seine Empfehlung, entweder den Verkauf der Implantate zu stoppen oder das Design zu ändern, habe DePuy nicht eingehen wollen, berichtet De Smet im Panorama-Interview.

Kein Redesign - aus betriebswirtschaftlichen Gründen

Aber zumindest scheint die Firma den Rat des Fachmanns erwogen zu haben. In der ersten Jahreshälfte 2008 lassen die Firmenbosse berechnen, wieviel es kosten würde, das Design der Metallhüften zu ändern. Zum damaligen Zeitpunkt hat DePuy in die beiden ASR-Modelle 80 Millionen Dollar investiert, wie aus einem internen Bericht hervorgeht.

Die DePuy-Leute bemerken erschrocken, dass sie für ein Redesign auch die OP-Werkzeuge neu herstellen müssten, was mit zusätzlichen Millionen zu Buche schlagen würde. In einer Tabelle mit der Überschrift "Kosten" werden die einzelnen Positionen aufgeführt, auch die "Abschreibungen". Das Ergebnis: die Überarbeitung des Design wäre zu kostspielig. Im November 2008 teilt ein Hierarch mit, dass das Projekt "ASR Alpha", wie man das geplante Modell nennen wollte, begraben werde. "Aus betriebswirtschaftlichen Gründen" sei das Redesign "nicht zu rechtfertigen", teilt der Manager mit. Das alte, fehlerhafte Modell wird danach noch fast zwei Jahre weiterverkauft.

Panorama hat DePuy mit dem Inhalt der Mails konfrontiert. Das Unternehmen geht in seiner Stellungnahme nicht darauf ein. Nur soviel: "Das Wohl der Patienten war und ist für DePuy die Toppriorität."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 26.05.2016 | 21:45 Uhr