Überforderte Helfer, hilflose Patienten - Chaos bei den Pflegediensten

von Bericht: Gregor Petersen, Dörte Schipper

Schön, wenn uns der Staat ein paar Sorgen abnimmt, zum Beispiel die: Was wird aus mir, wenn ich alt und gebrechlich bin. Vor sechs Jahren wurde die Pflegeversicherung eingeführt. Jeden Monat zahlen wir dafür 1,7 Prozent vom Bruttolohn und verzichten auf einen Feiertag. So kommen jährlich um die dreißig Milliarden Mark zusammen. Die Sorge ist also vom Tisch - uns wird geholfen. Aber man achte auf das Kleingedruckte: Aufstehen in ein bis zwei Minuten, Haare kämmen ebenso, und auch das Wasserlassen muss in drei Minuten erledigt sein. Was schon ein normal gesunder Mensch kaum schafft, wird ausgerechnet von Pflegebedürftigen erwartet, zumindest nach dem Leistungskomplexkatalog, kurz LK genannt - ein Wort so bürokratisch wie es klingt.

Chaos bei den Pflegediensten
Überforderte Helfer, hilflose Patienten - Panorama berichtet 2001 über den Notstand in der Pflege.

Morgens kurz vor sieben: Dienstbeginn für Angelika Heibeck. Sie arbeitet für die Caritas-Sozialstation in Hamburg St. Georg. Neun Einsätze hat die Altenpflegerin bis zum Mittag: Waschen, Essen kochen - Angelika hilft alten Menschen zu Hause.

Dreimal am Tag kommt der ambulante Pflegedienst zu Erwin Hensel. Er ist fünfundsiebzig Jahre alt und gehbehindert.

Angelika Heibeck: "Ich mach' dann mal Frühstück. Und Abendbrot nicht gegessen? Keinen Hunger gehabt?"

Die Pflegeversicherung schreibt vor, wie sie arbeiten muss: nach Leistungskomplexen, kurz LK's.

Angelika Heibeck erläutert: "Ich hab' hier jetzt den LK 16. Bereite das Frühstück vor, Kaffeekochen und eine Medigabe."

Interviewer: "Und in Zeit umgerechnet? Angelika Heibeck: "Zehn Minuten."

Abwasch und Geschirr wegräumen mit inbegriffen. Jeder Handgriff muss sitzen. Wieviel Zeit sie für jede Tätigkeit und Hilfe aufbringen darf, seit Einführung der Pflegeversicherung, ist alles minutengenau vorgegeben. Waschen wird Angelika Herrn Hensel, wenn sie mittags wiederkommt. Morgens müsste sie ihn erst überreden, und dazu fehlt ihr die Zeit. Drei Jahre hat der alte Mann seine Wohnung nicht mehr verlassen.

8.30 Uhr: Wenn Frau Pech noch im Bett liegt, wird es eng. Nur die Leistungskomplexe: Kleine Morgentoilette und Frühstück machen werden bei diesem Einsatz bezahlt. "Hallo, Morgen. Wie geht's denn? Ich helfe Ihnen jetzt mal aus dem Bett, ja? Wollen Sie liegen bleiben?"

"Ja", Brinkfriede Pech möchte. "Echt? Sind Sie so müde? Und Frühstück und Kaffee?"

In einer halben Stunde muss Angelika hier eigentlich alles erledigt haben: Frühstück machen, Frau Pech an- und auskleiden, sie wechselweise unten oder oben rum waschen, ihr die Zähne putzen, sie kämmen. Und um das in der Zeit zu schaffen, müsste Frau Pech mehr oder weniger schon im Bad auf sie warten.

Angelika Heibeck: "Zum Beispiel ist ja im LK 2 und LK 16 also Waschen und Zubereiten einer Mahlzeit nicht inbegriffen, dass wir sie jetzt motivieren, aus dem Bett holen."

Nach einer Viertelstunde Überzeugungsarbeit: Endlich geschafft - für ihre Sozialstation ist das unbezahlte Arbeitszeit. Angelika muss die Einsatzleiterin informieren, ihr Zeitplan gerät durcheinander.

Angelika Heibeck gibt zur Zentrale durch: "Ich hab' eine kleine Bitte, könntest du Frau Krüppelin anrufen, dass sich das alles ein bisschen verzögert." Gabi Reiss, Einsatzleiterin der Caritas: "Sag' mir einfach die Zeit, falls sie hier anruft."

Für Gabi Reiss ist die Pflegeversicherung eine gescheiterte Reform, denn nur die Leistungskomplexe, die im Katalog stehen, werden bezahlt: "Der größte Nachteil ist für mich, dass plötzlich menschliche Bedürfnisse in ein Raster gepresst werden und nicht mehr individuell geschaut wird. Also schon alleine die Einstufung in drei Pflegestufen, finde ich, ist nicht ausreichend. Und die LK's, die da sind, sind ebenfalls nicht ausreichend."

Und was sagt Norbert Blüm, Erfinder der Pflegeversicherung: "Ich hab' den Katalog ja nicht gemacht, und ich will mich auch nicht davonstehlen und sagen: Hab' ich nichts mit zu tun. Aber es war so, dass die Angst, dass wir mit dem Geld nicht zurecht kommen, groß war und für uns dafür auch keine - wenn Sie neu anfangen, haben Sie keine Erfahrung."

Derweil Angelika Heibeck: "Frau Pech, darf ich auch noch ein bisschen?" Die Pflegeversicherung zahlt nur für die rein körperlichen Verrichtungen. Dass zur Pflege noch mehr gehört, blieb bei der Umsetzung des Gesetzes auf der Strecke.

Brinkfriede Pech: "Meine Güte, wenn ich bloß in die Urne käme, ich mag nicht mehr." - "Ach, Mädchen."

LK 12 und 13: Nur das Nötigste im Haushalt. Es reicht hinten und vorne nicht.

Interviewerin: "Was kommt am meisten zu kurz?"

Angelika Heibeck: "Eigentlich schon auch hier wieder mal in den Arm nehmen, Gespräche, sie auch mal zu trösten. Gerade so, wenn sie auch nicht mehr will, wie sie sagt. Also da kann man gar nicht genug drauf eingehen. Da geht man schon ganz mies hier raus."

Wolfgang Lohmann, Planer der Pflegeversicherung: "An so Wischi-waschi-Vorstellungen, wie es gelegentlich in Diskussionen ja erfolgt, so vom ganzheitlichen Menschen und so weiter, kann man sich materiell zunächst nicht orientieren. Das muss ja messbar sein. Geld ist ein Tauschmittel, was mit Messzahlen zu tun hat."

Messbar - mehr als vier Minuten darf auch der Weg innerhalb eines Stadtteils nicht sein. Elf Uhr, der sechste Einsatz für Altenpflegerin Angelika. Seit Einführung der Pflegeversicherung, sagt sie, wird der Stress und der Druck immer größer. Leistungskomplex 14: Einkauf.

Angelika Heibeck: "Herr Hensel, möchten Sie auch wieder mal Malzbier haben?" - "Ja."

Interviewerin: "Wieviel Zeit hast du fürs Einkaufen?"

Angelika Heibeck: "15 Minuten. Das beinhaltet: den Einkaufszettel erstellen, den Einkauf machen, die Sachen wieder wegräumen." Mittags bekommt der alte Mann immer ein Fertigmenü. Länger als zehn Minuten darf es nicht dauern.

Angelika Heibeck: "Das ist wie beim Frühstück, das ist dieser LK 16. Dann gibt es noch den LK 15, der beinhaltet richtig Kochen, frische Sachen, also Kartoffeln. Da hat man zwanzig Minuten, und zwanzig Minuten brauchen ja schon die Kartoffeln."

Zwölf Uhr, achter Einsatz. Viermal täglich kommen die Pflegerinnen der Caritas Sozialstation zu der Neunundneunzigjährigen. Sie kann nichts mehr alleine. Die alte Frau hat Pflegestufe 3. Ihr Pflege bezahlen kann sie damit nicht.

Angelika Heibeck: "Ich glaube, Pflegestufe 3 sind 2.800 Mark, und das sind bestimmt noch mal 2.000 Mark, die sie dazu zahlen muss." Von den Verantwortlichen war es von Anfang an so geplant. Die Pflegeversicherung sollte keine Vollkasko-, sondern lediglich eine Teilkaskoversicherung sein. LK 6: Hilfe beim Essen und Trinken - 25 Minuten.

Angelika Heibeck: "Ich versuche mein Bestes, aber von den Zeitvorgaben her müßte da eigentlich viel mehr drin sein. Und man kann es einfach auch irgendwie nicht in Zeit fassen. Jeder Mensch ist ja anders. Einer kann schnell essen, einer wieder sehr langsam. Und die Zeitvorgaben bleiben für den LK, davon hat sich keiner Gedanken, glaube ich, gemacht."

Die Ware Mensch. Jede sogenannte körperliche Verrichtung mit der Stoppuhr wie am Fließband ausgemessen.

Letzte Woche sollte Altenpflegerin eine neue Kollegin einarbeiten. Nach zwei Tagen ist die nicht mehr wiedergekommen. Schichtdienst, Wochenendarbeit - vielen ist der Job zu anstrengend. Und bei der geringen Bezahlung halten nur noch die Idealisten durch.

Jürgen Gohde, Präsident Freie Wohlfahrtsverbände: "Es ist gesellschaftlich überhaupt nicht zu verstehen, dass eine Stunde in der Pflege weniger kostet als das Reparieren einer Waschmaschine. Und das ist eine Entwertung dieser Tätigkeit, die gesellschaftlich schwere Folgen hat."

Wöchentliche Dienstbesprechung bei der Caritas. Im letzten Jahr konnte die Sozialstation nicht mehr kostendeckend arbeiten. Seit Einführung der Pflegeversicherung vor fünf Jahren sind die Pflegesätze nie erhöht worden - arbeiten für immer weniger Geld.

Gabi Reiss: "Also für mich ist die ambulante Pflege schon etwas länger kollabiert, und man arrangiert sich mit dem Kollaps und versucht, an vielen Stellen zu kompensieren. Und jeder kommt permanent an seine Grenzen."

Spätschicht für Altenpflegerin Angelika: "Willst du nicht, schmeckt nicht? Nee? Was soll ich denn machen? Bananenbrot? Okay."

Kein Brot da, also improvisieren. Und dann ein neuer Versuch: "Vielleicht noch mal einen von Angelika?" Brinkfriede Pech: "Nee, kann nicht." - "Dann stell' ich dir diesen Fruchtzwerg auch an dein Bett." - "Ja." Angelika Heibeck: "Ich guck mir das aber erst mal an."

Frau Pech verhält sich einfach nicht so, wie es in der Pflegeversicherung geplant ist.

Angelika Heibeck: "Diese Wäsche dürfte ich eigentlich nicht aufhängen. Ich dürfte eigentlich auch gar nicht großartig versuchen, sie zum Essen zu überreden, Getränke anbieten immer wieder dürfte ich nicht. Das ist alles nicht mit drin."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 01.11.2001 | 21:00 Uhr