Steuermilliarden für Ärzte und Apotheker - Warum Mediziner bei Armen abkassieren dürfen

von Bericht: Andreas Cichowicz und Nicola von Hollander

Anmoderation

CHRISTOPH LÜTGERT:

Wenn du arm bist, musst du früher sterben - diesen Slogan mit ein bisschen Klassenkampf kennen wir doch alle. Und es ist politisch wunderbar korrekt, wenn man dieses Urteil pflegt. Nur - es ist offensichtlich ein Vorurteil, denn die Wahrheit ist: Wer arm ist, der kann beim Arzt besser dran sein als Otto-Normalverdiener oder der Otto-Normalversicherte. Da auf einmal spielt Geld keine Rolle. Ein Milliarden teurer Missstand, seit Jahren denen bekannt, die ihn beheben könnten. Aber da gibt es wohl ein Kartell der Verschweiger, ein Kartell derer, die bestens dran verdienen: Ärzte, Apotheken, Pharmahersteller und Krankenkassen. Und die Zeche zahlen Sie und ich, wir Steuerzahler.

Ärzte kassieren bei Sozialhilfeempfängern ab
Ein Bericht von 2000 über die unterschiedliche medizinische Versorgung von Kassenpatienten und Sozialhilfeempfängern.

Andreas Cichowicz und Nicola von Hollander über einen Dauerskandal, der zur Normalität geworden ist.

KOMMENTAR:

Dirk Jöhnke sitzt beim Sozialamt - mal wieder. Quartalsbeginn, Jöhnke muss seinen Krankenschein holen, so wie Hunderttausende in Deutschland, die keine Krankenversicherung haben. Für sie übernimmt das Sozialamt die Kosten für alle Behandlungen und Rezepte. Der Schein ist seine Eintrittskarte in Krankenhäuser, beim Zahnarzt und in die Arztpraxis. Hat Jöhnke ihn erst in der Hand, ist er überall König. Er bekommt alles und muss auf nichts verzichten. Auf keine Behandlung und auch auf Operationstermine muss er nicht warten. Kein Arzt weist ihn ab, im Gegenteil: Jeder Mediziner kümmert sich ausführlich um ihn. Kein Wunder, dass Sozialhilfeempfänger Jöhnke rundum zufrieden ist. Schließlich zahlt für alles garantiert das Sozialamt.

0-Ton

DIRK JÖHNKE:

"Ich kann an sich nicht klagen, was ich brauchte, hab' ich meist gekriegt denn."

KOMMENTAR:

Paradox: nicht versichert, und doch wird er besser behandelt als jeder Kassenpatient. Denn der Normalbürger muss seit der Gesundheitsreform überall zuzahlen. Zum Beispiel für Brillengestelle den vollen Preis, 100 Prozent. Bei Massagen und Bädern legt er 15 Prozent dazu. Für Zahnersatz - und der ist richtig teuer - zahlt der Kassenpatient mindestens die Hälfte aus eigener Tasche. Jedes Medikament kostet ihn 8 bis 10 Mark extra. Und für Krankenhausaufenthalte und Kuren zahlt er 17 Mark pro Tag. Sozialhilfeempfänger ohne Versicherung zahlen dagegen keinen Pfennig - ein Luxus auf Kosten des Steuerzahlers. Und nicht nur das.

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DR. FRIEDRICH HACH:

(Verband der Hausärzte)

"Hier wird natürlich einer, der vom Sozialamt kommt, auch mit den Medikamenten zu Lasten des Sozialamtes versorgt, die die Krankenkassenpatienten nicht kriegen können, weil sie es selbst bezahlen müssen, das ist klar. Zum Beispiel Mittel bei Erkältungskrankheiten, Schnupfen, notwendig zum Beispiel, dass die Nase freigekämpft wird mit einem Schnupfenspray."

INTERVIEWER:

"Er wird also behandelt wie ein Privatpatient letztendlich?"

DR. FRIEDRICH HACH:

"Letztendlich könnte man das so nennen."

KOMMENTAR:

Und für diese Sonderbehandlung, die sogenannte Krankenhilfe, müssen Städte und Kommunen jedes Jahr immer mehr Steuergelder ausgeben. Und das, obwohl ihre finanzielle Situation ohnehin sehr angespannt ist.

So bezahlt allein Hamburg 205 Millionen Mark im Jahr, Frankfurt 60 Millionen, Stuttgart zahl mit 16 Millionen am wenigstens, München dagegen 32 Millionen Mark und Berlin gar 312 Millionen Mark pro Jahr. Bundesweit summiert sich die Krankenhilfe auf 2,34 Milliarden Mark, mit steigender Tendenz und schlimmen Konsequenzen.

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MANFRED WIENAND:

(Deutscher Städtetag)

"Wir stellen in den Kommunen immer mehr fest, dass in anderen Bereichen notwendige Leistungen für die Bürger, vom öffentlichen Nahverkehr bis zur Schule, bis zum Kindergarten, nicht in der erforderlichen Qualität erbracht werden können und oft nicht mehr zu vertretbaren Preisen, weil die kommunalen Sozialetats überlastet sind."

KOMMENTAR:

Besonders sauer sind die Kommunen auf den Gesetzgeber. Der hatte nämlich schon vor Jahren beschlossen: alle müssen in die gesetzliche Krankenkasse. Zitat: "Vom 1. Januar 97 werden Personen, die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten - also die Sozialhilfeempfänger - in die Versicherungspflicht einbezogen.

Passiert ist seither nichts. Das Gesetz wurde nie vollzogen, weil sich die Krankenkassen wehrten. Ihre Forderung: Versicherung nur gegen einen besonderen Risikozuschlag: 500 Millionen Mark vom Staat, sonst müssten die Beiträge für alle Kassenmitglieder steigen.

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UDO BARSKE:

(AOK-Bundesverband)

"So eine Frage der Sozialversicherung von Sozialhilfeempfängern wirkt sich auch auf die Kostensituation der Krankenkassen aus. Die Krankenkassen wollen diese sozial notwendige Aufgabe nicht subventionieren. Wenn der Staat hier eine Aufgabe hat, dann muss er diese Aufgabe auch selbst finanzieren."

KOMMENTAR:

Sozialhilfeempfänger sollen also viel zu teuer sein und sind deshalb unerwünscht. Die Vertreter der Städte sind fassungslos. Diese Blockadepolitik dürfe der Gesetzgeber nicht tolerieren, er müsse endlich handeln.

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HANS CHRISTOPH HOPPENSACK:

(Sozialdezernent Bremen)

"Es gehört zu den Fällen, die ich sonst nie in meinem längeren beruflichen Leben entdeckt habe, dass ein Gesetz gemacht wird, und es kümmert sich keiner drum, so als wäre es irgendwie nur ein Debattenbeitrag. Das ist also rein rechtsstaatlich ein unmöglicher Zustand, dass ein Gesetzgeber was sagt und dann sich nicht drum kümmert mehr."

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MANFRED WIENAND:

Deutscher Städtetag)

"Aus unserer Sicht findet die Lobby der Krankenversicherungsträger beim Bundesgesundheitsministerium weit besser Gehör als wir. Und ich kann auch nur an die Bundesgesundheitsministerin appellieren, nun endlich dem gesetzlichen Auftrag zu entsprechen, der 1993 vom Parlament beschlossen worden ist."

KOMMENTAR:

Warum das bislang nicht geschehen ist, wollte das Bundesgesundheitsministerium lieber nicht sagen - kein Interview für PANORAMA. Von der Untätigkeit der Bundesregierung profitieren Ärzte, Apotheker und die Pharmaindustrie. Denn für Sozialhilfeempfänger ohne Versicherung gilt nicht, was seit der Gesundheitsreform für die Behandlung von Kassenpatienten vorgeschrieben ist: ein strenges Budget. Sofern die Ärzte dieses Budget überschreiten, durch zu viel Behandlungen oder Rezepte, werden sie regresspflichtig. Dann müssen sie Geld zurückzahlen. Das droht bei der Behandlung von Sozialhilfeempfängern nicht - die letzte Insel der Glückseligkeit im Gesundheitsbereich. Da kann sich der Kassenpatient nur wundern.

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DR. FRIEDRICH HACH:

(Verband der Hausärzte)

"Als Kassenpatient kann man nicht glücklich sein, und die besseren Möglichkeiten, die man bei dem Sozialhilfepatienten hat, genieße ich natürlich auch, weil ich mir sage, wie schön, dass ich dem Patienten das zur Verfügung stellen kann, ohne über die Zuzahlung und über die strengen Regeln in der Krankenkasse mit ihm reden zu müssen."

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DR. REINHARD BAUER:

(Allgemeinmediziner)

"Ich finde es sehr vorteilhaft, dass ich bei den Sozialhilfeempfängern, die mit einem Sozialhilfe-Krankenschein kommen, nicht zuzahlen muss, das finde ich sehr angenehm."

KOMMENTAR:

Und so bleibt es bei der paradoxen Situation, dass Sozialhilfeempfänger ohne Versicherung, wie Dirk Jöhnke, in Deutschland besser behandelt werden als normale Kassenpatienten und die Ärzte und Apotheker deshalb ausgerechnet an den Ärmsten der Armen gut verdienen - finanziert vom Steuerzahler.

Abmoderation

CHRISTOPH LÜTGERT:

Eins zur Klarstellung: die Sozialhilfeempfänger haben diesen Missstand nicht verschuldet, sie sind also nicht an den Pranger zu stellen. Das Bundesgesundheitsministerium will - Sie haben es durch den Film erfahren - keine Stellung nehmen. Wie beredt kann doch Schweigen sein. Missachtung eines Gesetzes von Staats wegen. Welche Ausflucht sollte einem da auch einfallen?

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 06.04.2000 | 21:00 Uhr