Schlagzeilen, Schnellschüsse, Schaumschläger - Politiker und Medien

von Bericht: Andreas Lange, Anja Reschke

Bilderjagd im politischen Medienrummel - Opfer gehören dazu. Doch eine Platzwunde hält niemanden von der Arbeit ab. Denn wer in der Ellbogenwelt vieler Journalisten Bilder und Interviews braucht, darf keine Schwäche zeigen. Statt sorgfältiger Recherche häufig nur noch schlechte Stimmung. Weil auch der kleinste Privatsender Bilder braucht, mangelt es oft an Kompetenz.

Schlagzeilen und Schaumschläger: Politiker und Medien
Bilderjagd im politischen Medienrummel - Opfer gehören dazu. Denn Fernsehen braucht Bilder, die Politik liefert sie.

".... Jetzt bleibe ich bei Ihnen stehen, und Sie sind nicht in der Lage, eine Frage zu stellen", weist Helumt Kohl einen wartenden Journalisten auf der Straße zurecht.

Kein Zufall, dass dem Mann keine Frage einfiel, sagt der Medienwissenschaftler Professor Michael Haller: "Man macht Journalismus - in Anführungszeichen -, indem man irgendwelche Hilfsgestalten über die Straßen schickt, sie sollen doch irgendetwas reinholen. Und so kommt es dazu, dass auch die Politik es zunehmend mit inkompetenten Medienvertretern zu tun bekommt."

"Unsere Partner sind dann oft solche, die in der Sache gar nicht drin sind, die geschickt werden, um ganz schnell noch eine Meldung und einen Bericht fertig zu machen, die über den Sachverhalt wenig wissen", bestätigt der nordrhein-westwälische Innenminister Fritz Behrens.

"Und das krasseste Beispiel", ergänzt der Medienberater Klaus-Peter Schmidt-Deguelle, "sind irgendwelche Pressekonferenzen oder Pressestatements, wo alle Mikrofone hingehalten werden und nachher der eine Kollege den anderen fragt: Sag' mal, wer war das eigentlich?"

Fernsehen braucht Bilder, die Politik liefert sie. Zum Beispiel eine Kutschfahrt der FDP: Protest gegen die Ökosteuer. Oder Guido Westerwelles Auftritt in der Container-Show "Big Brother". Keine Botschaft, aber eine medienwirksame Inszenierung. Anbiederung statt Aufklärung.

Und das mit System, wie Pressesprecher Martin Kothé bestätigt: "Wir wollen richtig rein in die Zeitungen, und wir wollen rauf auf die Bildschirme. Und dazu müssen wir Bilder bieten, Aktionen bieten, ein Lebensgefühl bieten. Und wir müssen Freude machen."

Verständlich aber verhängnisvoll. Denn so haben es Journalisten in der täglichen Nachrichtenflut immer häufiger mit inhaltslosen Parolen und inszenierten Bildern zu tun. Aber genau das, monieren die Politiker, wird von vielen Journalisten gewünscht. Die Folge: Medien und Politik benutzen sich gegenseitig. Ein Beispiel: Kampfhunde.

Im Pressearchiv des Norddeutschen Rundfunks werden täglich alle überregionalen Zeitungen ausgewertet und ein umfassender Pressespiegel zusammengestellt - auch zum Thema Kampfhunde. Obwohl seit Jahresbeginn viel passierte, gab es bis März dieses Jahres nur wenige Artikel zu diesem Thema. Dabei hätte es eigentlich allen Anlass zur Berichterstattung gegeben - zum Beispiel in Gladbeck. Denn im März wird eine Rentnerin vor ihrer Haustür von einem Kampfhund zerfleischt. Doch auf die Tragödie gab es nur sehr wenige Reaktionen. Erklärungsversuche von Medienwissenschaftlern:

Professor Michael Haller: "Wenn eine alte, sozusagen am Ende ihres Lebens stehende Person totgebissen wird, dann ist das traurig, aber viel mehr nicht, das ist nicht sensationalistisch genug."

Knut Hickethier: "Da gibt es ja das Stereotyp, das so unterschwellig im Hintergrund ist: So bedauerlich das ist, aber sie hat ihr Leben gelebt."

Keine Sensation, keine Berichte. Obwohl es auch danach weitere Kampfhund-Attacken gab, blieb das Presseecho nur gering. Doch plötzlich, im Juni, hatte die Presse das Thema entdeckt: 247 Berichte, fast dreimal so viel wie im Monat zuvor. Auslöser war die Tat in Hamburg-Wilhelmsburg:

Ein kleiner türkischer Junge wird von einem Kampfhund getötet. Bilder, die alle bewegten.

"Wir hatten es hier mit einem kleinen Kind zu tun", sagt Professor Haller, "das alle Urinstinkte in den Menschen weckt, Beschützerinstinkte, weckt Fürsorglichkeit, weckt Erinnerung an die eigene Kindheit, weckt das Gefühl, da ist das ganze Leben weggenommen, das noch vor diesem Menschen stand."

Erst als dieses Kindergesicht auf allen Titelseiten erscheint, Emotion und Wut auslöst, reagiert die Politik. Innerhalb weniger Tage beschließen die Innenminister neue Verordnungen und Gesetze. Übereilt, wie Fritz Behrens einräumt: "Es passierte dann folgendes, dass alle unsere Überlegungen und bis dahin getroffenen Entscheidungen auf einmal nichts mehr wert waren, nur hervorgerufen wurden durch das Ereignis von Hamburg, das die Emotionen sehr hochgehen ließen unserer Bevölkerung, geschürt durch die Medien vor allem. Und dann überschlugen sich auch die Vorschläge und der Radikalismus der Vorschläge. Und am Ende gab's dann das Tohuwabohu, von dem ich sprach.

Die Politik hat sich von der Presse auch verleiten lassen: "In dem Falle zu einem Handeln, das am Ende nicht sachgerecht war."

Nicht sachgerecht, weil in all der Hektik jedes Bundesland sehr unterschiedliche, häufig auch wenig praktikable Regelungen beschloss. Für viele Journalisten, aber auch Politiker war das Thema "Kampfhunde" kurze Zeit später nicht mehr interessant genug, obwohl es auch weiter Kampfhund-Attacken gab.

Ein neues Thema beherrschte die Mediendemokratie: rechtsradikale Gewalt. Obwohl jeden Monat rechtsradikale Übergriffe stattfinden, reagiert die Presse kaum. Bis zum Juni dieses Jahres erscheinen nur wenige Berichte - unverständlich, angesichts vieler schrecklicher Ereignisse. So wird zum Beispiel der Mosambikaner Alberto Adriano in Dessau von Rechtsradikalen totgeprügelt. In Dortmund erschießt ein Rechtsradikaler drei Polizisten. Und der Obdachlose Klaus-Dieter Gehreke wird in Greifswald auf offener Straße von Rechtsradikalen erschlagen.

Zum großen Thema in Medien und Politik wird all das nicht; erst im August, denn in Düsseldorf explodiert eine Bombe. Mehrere Juden aus Russland werden schwer verletzt. Sofort vermutet die Presse einen rechtsradikalen Hintergrund, der bis heute nicht bewiesen ist. Tagelang Schlagzeilen in den Medien. Die Politik reagiert:

"Das erklärt sich mir bis heute eigentlich nicht, warum Düsseldorf. Vielleicht liegt es daran, dass Düsseldorf ein Medienstandort ist, vielleicht liegt es an der Zahl der Opfer, an der Art des Anschlages", rätselt Behrens. "Die Debatte hätte auch schon nach dem Totprügeln von Afrikanern etwa woanders in Deutschland stattfinden müssen."

Was jahrelang zuvor versäumt wurde, bekommt endlich die angemessene Aufmerksamkeit. Überall in Deutschland werden Bündnisse gegen Rechts gegründet, demonstrieren Politiker und Bürger, wird ein Verbot der NPD gefordert. Der Düsseldorfer Anschlag verändert die Republik.

Und so war es möglich, dass eine für Medien und Politiker verhängnisvolle Affäre begann. Sebnitz, Sachsen. Hier geschah angeblich das eigentlich Unfassbare. Die Bild-Zeitung titelt als Erste: Neonazis ertränken Kind. Der kleine Joseph soll im Schwimmbad von einer Horde Rechtsradikaler brutal ermordet worden sein, und keiner habe geholfen.

Medienwissenschaftler Haller: "Wie so oft, wenn man sich zu einem Stimmungsmacher aufgerufen fühlt, vergisst man die Recherche. Man sagt einfach: Wir besetzen das Thema. Denn es war für eine Boulevard-Präsentation eine optimale Story: Ein kleiner, hilfloser Junge, schreckliche junge Menschen, ein brutales Verbrechen - und dann auch noch im Osten, wo man ohnehin alle Vorurteile neu aufkochen konnte. Also für einen Plot die ideale Mixtur."

Fast alle Zeitungen übernehmen die Geschichte der Bild-Zeitung - weitestgehend ungeprüft, und auch die Politiker sind gleich dabei.

Sofort besucht der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf die Familie des angeblich von Rechtsradikalen ermordeten Joseph. Und in Berlin empfängt der Bundeskanzler die Eltern des kleinen Joseph. Der sächsische Innenminister Klaus Hardrath äußert sich gegenüber der Bild-Zeitung: "Ich habe die Akte selbst gelesen - es lief mir kalt den Rücken runter."

Und dann die Zweifel: doch kein rassistischer Mord? Die Medien rudern zurück. Und auf einmal schlagen genau die Politiker, die vorher zusammen mit den Journalisten Betroffenheit geäußert haben, auf die Medien ein.

Kurt Biedenkopf: "Wir haben eine Presse, die schon die ersten Andeutungen für die Wirklichkeit nimmt und der Stadt verweigert, was eigentlich jedem Menschen von Rechts wegen zusteht, nämlich die Unschuldsvermutung."

Klaus Hardrath: "Es wird die Frage sein, wie, gerade im Medienbereich, auch Sie alle diesen Schaden für die Stadt wieder gutmachen können."

"Die Politiker haben hier wie diese Medienmeute genau gleich reagiert", kommentiert Professor Haller, "das heißt also: Sowie bestimmte Stimmungs- und Umstimmungsprozesse in Gang kommen, haben sie sofort versucht, sich immer jeweils so draufzusetzen auf diese Stimmungswoge, dass es zu ihren Gunsten im Sinne der Imagebildung führt."

Image, Bilderparolen und gegenseitige Schuldzuweisungen. Solange Politiker eher auf Bilder statt auf Inhalte setzen, solange Medien lieber schnell als gründlich berichten, so lange bleiben vernünftige Lösungsansätze unabhängig vom Thema auf der Strecke.

"Das ist gefährlich", glaubt Knut Hickethier, "weil es den langfristigen, stabilisierenden Prozess von Politik untergräbt, man damit die Rahmenbedingungen, die Politik eigentlich zu setzen hat, immer mehr in Gefahr bringt und man nur noch spontan aktionistisch auf einzelne Ereignisse, die jeden Tag ganz anders kommen können, reagiert."

Natürlich gibt es nicht "d i e" Politiker und "d i e" Journalisten, aber dieses gut eingeschliffene Wechselspiel zwischen Medien und Volksvertretern zwingt uns alle zur Suche nach einem besseren, einem vernünftigeren Umgang miteinander.

Buchtipp

Müller, Albert: Von der Parteiendemokratie zur Mediendemokratie. Beobachtungen zum Bundestagswahlkampf 1998 im Spiegel früherer Erfahrungen, Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen, Band 30, Leske + Budrich Verlag, Opladen 1999.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 14.12.2000 | 21:00 Uhr