Reiche Geiseln, arme Geiseln - Staatliche Willkür bei Entführungsopfern

von Bericht: Thomas Berndt
Werner Wallert (l), Sohn Marc Wallert und Renate Wallert in Geiselhaft auf Jolo, Philippinen © picture-alliance/dpa

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Wir wussten nicht alles, aber viel: was sie zu essen bekamen, wo sie schliefen, wie es ihnen ging. Am Schicksal der Familie Wallert nahm die ganze Nation teil. Und jetzt warten alle auf die Befreiung der restlichen Geiseln. Diese Gefangenen haben es - so zynisch es klingen mag - noch vergleichsweise gut. Sie bekommen Hilfslieferungen von zu Hause, und über sie wird geschrieben, geredet und auch verhandelt. Und irgendwann wird sicher auch gezahlt. Aber es gibt eben nicht nur die Wallerts, auch andere deutsche Geiseln warten auf ihre Freilassung, und über sie wissen wir fast nichts.

Thomas Berndt hat sich auf Spurensuche begeben. So viel vorweg: Man kann fast von Glück sagen, wenn man eine prominente Geisel ist.

KOMMENTAR:

Das Beste war gerade gut genug. Über 7.000 Mark kostet eine Flugstunde mit dem Bundesgrenzschutz-Hubschrauber Puma. Die Rückkehr von Renate Wallert nach knapp drei Monaten Geiselhaft auf den Philippinen. Ihre Ankunft in Deutschland geriet wie das ganze Geiseldrama zum Medienereignis. Eine ganze Nation nahm Anteil.

Bilder, die diese Frau fast täglich mit verfolgt. Sie möchte anonym bleiben, um die Situation ihrer Familie nicht zu verschärfen. Ihr Vater ist verschleppt, als Geisel in Kolumbien. Bis heute hat sie geschwiegen, die Wut über tatenlose Behörden aber wurde jetzt zu groß. Keine Hilfe vom Auswärtigen Amt, trotz verzweifelter Bitten: Helfen Sie mir, es geht um meinen Vater. Ihr Vater, ein deutscher Geschäftsmann, er ist seit einem Jahr verschleppt, in Bogota entführt von Guerilleros. Eine Entführung bis heute unter Ausschluss der Öffentlichkeit, vernachlässigt von den Behörden.

0-Ton

TOCHTER EINES ENTFÜHRUNGSOPFERS:

"Das ist eine Geisel zweiter Klasse, auch wenn das sicherlich nie einer offen zugeben würde, aber die Aktivitäten zeigen es doch. Es wird ja in dem Fall hier nichts gemacht. Es finden keine Verhandlungen von deutscher Seite aus mit den Entführern statt. Das ist eine Tatsache, und die kann auch keiner abstreiten. Und im Fall meines Vaters sind es nun mal schon zwölf Monate. Und das ist eine Sache - das ist eine ganz lange Zeit, die er da in Gefangenschaft verbringen muss. Wir haben bis heute kein aktives Lebenszeichen von ihm."

KOMMENTAR:

Renate Wallert hingegen ist endlich frei. Für sie wurde sogar auf allerhöchster diplomatischer Ebene verhandelt. Extra nach Manila reiste Außenminister Joschka Fischer. Medienwirksam inszeniert, mit diplomatischem Understatement.

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JOSCHKA FISCHER:

(Bundesaußenminister, 13.7.2000)

"Worum es geht, ist der übliche diplomatische Kontakt, der in solchen Fällen üblich ist, und vor allen Dingen dann, wenn es für notwendig erscheint, dass dann auch hochrangige Regierungsvertreter dieses tun."

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TOCHTER EINES ENTFÜHRUNGSOPFERS:

"Das sind zwei Welten, Philippinen und unser Fall sind zwei Welten. Wir sehen ja fast täglich im Fernsehen, was gemacht wird, wie sich die Leute einsetzen, Auswärtiges Amt und - wie gesagt - zum Schluss noch Außenminister. Und in unserem Fall passiert reinweg gar nichts."

KOMMENTAR:

Vom Auswärtigen Amt dazu kein Interview für PANORAMA, nur schriftlich die Mitteilung: Der Fall werde mit kolumbianischen Stellen intensiv verhandelt.

Auch dieser Mann fühlt sich als Geisel zweiter Klasse. Ottmar Broda bei seiner Freilassung am 11. Januar des letzten Jahres in Kolumbien. Von seiner Entführung wusste nur der engste Familienkreis. Kidnapping unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Eine Guerillagruppe hatte den Münchner Mediziner in den kolumbianischen Dschungel verschleppt und als Geisel genommen, sechs quälende Wochen lang. Als Tourist war Broda auf einer vielbefahrenen Straße unterwegs, der Panamerikana. Plötzlich der Überfall. Der Albtraum nahm seinen Anfang.

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OTTMAR BRODA:

(Entführungsopfer)

"Da, in dem Falle, habe ich das erste Mal gemerkt, was eigentlich Angst ist, wenn man da Angst ums Überleben oder übers Leben hat."

KOMMENTAR:

Nach sechs langen Wochen erreichte ein Vermittler schließlich seine Freilassung. Erst dann liefen diese wenigen Bilder in den Fernsehnachrichten. Und selbst diese Bilder sollten Broda am Ende noch teuer zu stehen kommen, denn nur zwei Wochen nach seiner Freilassung bekam er die Rechnung präsentiert - vom Auswärtigen Amt.

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OTTMAR BRODA:

"Es wurde mir die Anrechnung von einem Bus in Rechnung gestellt, der Bus für den Tross der ganzen Journalisten und Medienvertreter. Dann die Übernachtungskosten von Bischof Stele."

INTERVIEWER:

"Dem Vermittler."

OTTMAR BRODA:

"Dem Vermittler. Dann die Kosten vom Flug. Dann musste ich einen neuen Reisepass - wurde mir von der Botschaft ausgestellt, der wurde mir in Rechnung gestellt, selbst das Passfoto, 4 Mark hat das gekostet. Und dass die dann auf einmal da so kleinkariert reagiert reagieren und mir das da eben so detailliert auflisten, das war also shocking."

INTERVIEWER:

"Gerade zwei Wochen nach der Freilassung."

OTTMAR BRODA:

"Dann noch dazu zwei Wochen nach der Freilassung."

KOMMENTAR:

Insgesamt mehrere tausend Mark. Wenig Sensibilität und Mitgefühl für das Entführungsopfer. Vor der Kamera wollte sich das Auswärtige Amt auch dazu nicht äußern. Ottmar Broda allerdings beschwerte sich und erhielt folgende Erklärung: Er sei schließlich nur "zufällig entführt" worden und somit kein politisches Opfer. Und ob die Bundesregierung die Kosten übernehme sei eben von den Umständen des "Einzelfalls abhängig".

Auch Heinrich Strübing kennt die Willkür deutscher Bürokraten, aus leidvoller Erfahrung. Über drei Jahre war er zusammen mit Thomas Kemptner im Libanon gefangen, eingekerkert, gefesselt an Ketten. Die Freude über die Freilassung allerdings währte nicht lange, denn das Finanzamt stellte dringliche Fragen, forderte fehlende Steuererklärungen ein - für die letzten drei Jahre in Gefangenschaft.

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HEINRICH STRÜBING:

(Entführungsopfer)

"Ich habe nicht geglaubt, dass mein erster Gedanke oder meine Gedanken in der Geiselhaft nur die einzige Sorge haben sollten: Was wird das Finanzamt sagen zu der ganzen Geschichte, dass ich hier keine Steuererklärung abgeben kann. Und es war natürlich meine Schuld, dass ich nach meiner Freilassung zuerst mal an meine Verwandten und an meine Frau gedacht habe und nicht ans Finanzamt."

KOMMENTAR:

Vorschriftsmäßig abgefertigt wurde auch die andere Geisel. Thomas Kemptner beim Gang zum Arbeitsamt. Eine Ex-Geisel auf Jobsuche.

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HEINRICH STRÜBING:

"Da wird er gefragt: Was haben Sie die letzten drei Jahre gemacht. Er sagte: Ich war Geisel im Libanon. Und da hat er tatsächlich da unter den Berufsbezeichnungen nachgeguckt im Arbeitsamt - das war in Hamburg - und hat das natürlich nicht gefunden, ganz klar. Da hat er gesagt: Tut mir leid, die Berufsbezeichnung gibt es nicht, ich kann Ihnen da nicht helfen."

KOMMENTAR:

Das wird Renate Wallert wohl eher nicht passieren. Sie ist mittlerweile viel zu prominent, ein Fernsehstar. Da zeigt sich auch die Bundesregierung spendabel: Eine Rechnung für Freikauf oder Rückflug muss sie kaum befürchten - im Gegensatz zu anderen.

Gleiches Recht für alle - bei Entführungen im Ausland gilt das nicht. Selbst beim Weißen Ring, der sich um die Opfer kümmert, muss man passen: Hilfe und Kosten bei Entführungen, die Bundesregierung ist zu nichts verpflichtet.

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DIETER EPPENSTEIN:

(Weißer Ring)

"Aus der Sicht der Opfer finde ich das bedauerlich. Aber ich glaube, man muss trotz allem, selbst wenn man sehr parteiisch für Opfer eintritt, konzidieren, das ist ein persönlicher Unglücksfall, und eine Rechtsgrundlage gibt es dafür sicherlich nicht. Das ist genauso wie eine Gnadenentscheidung: Der kommt frei, der kommt nicht frei."

KOMMENTAR:

Gute Geiseln, schlechte Geiseln. Für Renate Wallert wurden angeblich rund zwei Millionen Mark an Lösegeld gezahlt.

Bei Ottmar Broda hätte das ganz anders ausgesehen. Er kam nach sechs Wochen Frei, ohne Lösegeldzahlung. Sein Glück, denn für ihn hätte die Bundesregierung auch keinen Pfennig ausgegeben - eben eine Geisel zweiter Klasse.

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OTTMAR BRODA:

(Entführungsopfer)

"Das haben mir dann später meine Frau und meine Kinder erzählt, dass das also im Gespräch war. Wenn also Lösegeld gezahlt werden müsste, dass ich da keinerlei Unterstützung von der Bundesregierung zu erwarten gehabt hätte. Und wie das dann abgelaufen wäre, das weiß ich nicht. Also ich hätte hier mein Haus verkaufen müssen und hätte vielleicht auf dem Campingplatz übernachten müssen."

Reiche Geiseln, arme Geiseln
Unter Geiseln scheint es 2000 eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zu geben. Wer prominent ist, hat Chancen auf Freiheit.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 03.08.2000 | 21:00 Uhr