Mord aus Langeweile - Der brutale Tod eines Jugendlichen

von Bericht: Sabine Doppler und Anja Reschke

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Ein Jugendlicher holt  mit der geballten Faust zum Schlag aus. © picture-alliance / dpa Foto: Polfoto

Auch gegen die Gewalt, die eigentlich nicht zu erklären ist. Sie ist nicht politisch motiviert oder verbrämt, es ist einfach Gewalt. Da sitzt ein 15-jähriger Junge auf einem verwahrlosten Garagengelände in Neubrandenburg auf einem alten Autositz. Und dann kommen drei Schläger und bringen ihn um, einfach so, "aus Langeweile und Frust", wie sie später zu Protokoll geben. Andere sehen aus sicherer Entfernung zu, rufen aber immerhin die Polizei, wenn auch zu spät. Das geschah am vergangenen Freitag. Fassungslos, ohne Erklärungen sind die Menschen nicht nur in dieser Stadt. Warum? Wie konnte es dazu kommen? Und gerade in Neubrandenburg, das eigentlich eine vorbildliche Jugendarbeit aufzuweisen hat?

Sabine Doppler und Anja Reschke haben nach Erklärungen gesucht.

KOMMENTAR:

Balkon-Idylle in Neubrandenburg. Hier wohnen die, die aus Langeweile getötet haben sollen. Dabei wirkt alles ordentlich und aufgeräumt. Die Häuser sind gut in Schuss und fast alle frisch renoviert. Die Bewohner haben es sich nett gemacht.

Ein paar Straßen weiter das Industrieviertel. Hier, vor den Garagen treffen sie sich abends, Jugendliche, basteln an Autos, hören Musik. Und hier geschah auch die Tat. Drei Jugendliche schlagen einen 15-jährigen zusammen. Das Opfer stirbt an Hirnblutungen. Niemand kam ihm zu Hilfe. Die Tatverdächtigen werden noch in der Nacht gefasst. Der Staatsanwalt ermittelt wegen Mord. Die Tatverdächtigen sind 16, 18 und 21 Jahre.

0-Ton

HORST MÜLLER-PRAEFCKE:

(Oberstaatsanwalt Neubrandenburg)

"Es war kein Streit mit dem Jungen, ich glaube, die kannten den nicht mal, vielleicht vom Sehen. Aber es war nicht so, dass die irgendwie für irgendwas Rache nehmen wollten, dass die sich provoziert fühlten, sondern einfach Lust am Schlagen. Und das war ein harmloses Opfer, das sich nicht wehren konnte, und da konnten sie also zuschlagen."

KOMMENTAR:

Nicht nur hier in Neubrandenburg sind die Menschen fassungslos. Ein Mord nur aus Langeweile und Frust, das kann sich hier niemand erklären.

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ANWOHNER:

"Für mich kann das nur jemand sein, wo irgendwo im Kopf was nicht richtig läuft, nicht richtig stimmt. Also für mich gibt es dafür auch keine Entschuldigung."

"Also, dass es Frust und Langeweile gibt, das hat, glaube ich jeder, aber deswegen einen Menschen zu töten, finde ich richtig Scheiße."

"Erklären - schlecht zu erklären, geht gar nicht, nein."

KOMMENTAR:

Und alle suchen nach dem Motiv, auch hier in diesem Jugendclub. Einer der Tatverdächtigen, 16 Jahre alt, ging hier ein und aus, in einem Club, wo täglich 40 bis 50 Jugendliche sich treffen. Die meisten haben ihn gekannt. Er sei ein umgänglicher Typ, sagen alle, habe sich für den Club eingesetzt, war engagiert. Eigentlich, so dachten sie alle, hätten sie ihn gut gekannt.

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KATRIN BERNASCH:

"Also wenn wir was unternommen haben, es war irgendein Einsatz oder was weiß ich, dann war er immer da mit bei. Er hat dann sich beteiligt, hat gesagt: Na klar, ich bin dabei, ich komme mit, und ich unterstütze euch."

INTERVIEWERIN:

"Und wie kann dann so was jetzt passieren?"

KATRIN BERNASCH:

"Ja, das weiß ich auch nicht. Das weiß, glaube ich, keiner. Es weiß niemand, was sich in den Köpfen abgespielt hat, und wir waren selber alle geschockt hier, als wir das gehört haben."

KOMMENTAR:

Ratlos auch die verzweifelten Eltern. Erklärungsversuch für die unfassbare Tat:

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MUTTER EINES FESTGENOMMENEN:

"Wir hatten schon viel Schwierigkeiten mit unserem Sohn. Er hat auch Drogen genommen, hatte auch mehrere Arbeitsstellen, die er nicht wahrgenommen hat. Und er ist eben immer tiefer abgerutscht. Wir haben dann gemeinsam versucht, ihm zu helfen, aber er ist eben immer wieder seine eigenen Wege gegangen und hat sich vollkommen unserem Einfluss entzogen."

KOMMENTAR:

Neubrandenburg - 49 Jugendclubs, mehr als in jeder anderen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. 66 Sportvereine, Skaternächte, eine Kartbahn - alles Angebote gegen Langeweile. Die Stadt gibt dafür jährlich 30 Millionen Mark aus.

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GERD ZU JEDDELOH:

(Oberbürgermeister Neubrandenburg)

"Wir sind eine junge Stadt, und ich meine schon, der Jugend wird hier viel geboten. Jedem das zu bieten, was er den Tag gerne hätte, das gelingt uns nicht, den Anspruch haben wir nicht, sondern sein Angebot muss er selbst wählen aus der Vielfalt der Angebote und auch nutzen. Dahin tragen können wir sie nicht und wollen wir sie nicht."

KOMMENTAR:

Aber genau das erwarten offenbar viele Jugendliche. Übersteigertes Anspruchsdenken, wo Eigeninitiative gefragt wäre.

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JUGENDLICHE:

"Hier kann man ja doch einiges machen."

"Man kann Tischfußball spielen, man kann Karten spielen oder Tischtennis, und mehr ist hier auch nicht."

INTERVIEWERIN:

"Und was würden Sie gerne machen?"

JUGENDLICHER:

"Hm?"

INTERVIEWERIN:

"Was würden Sie gerne machen so am Nachmittag?"

JUGENDLICHER:

"Jedenfalls nicht hier rumsitzen."

KOMMENTAR:

Aber auch die, die nicht drin rumsitzen wollen, können nichts mit sich anfangen.

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JUGENDLICHER:

"Naja, was soll denn hier so großartig los sein. Wenn man denn halt was machen will - man veranstaltet hier denn irgendwas mit Kumpels und so, dann ist doch eh bloß Langeweile, denn weiß man immer nicht, was man machen soll und so."

KOMMENTAR:

Vor ihrer Haustür liegen zwei Seen. Wasserskifahren ist hier möglich, aber auch andere Sportarten. Gerade jetzt im Sommer ein ideales Freizeitidyll. Doch auch hier Frust und Langeweile.

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MÄDCHEN:

"Jo, was machen wir abends - jo, nee, eigentlich so Volleyball spielen, mit anderen noch so rumhängen so, die wir treffen, jo."

INTERVIEWERIN:

"Findest du Neubrandenburg langweilig?"

MÄDCHEN:

"Jo. Im Jugendclub ist auch nicht allzu viel los, weil da, die da aufpassen müssen oder so, die machen auch nicht viel mit einem. In dem Jugendclub, wo ich war, da saß die eine auch nur rum."

KOMMENTAR:

Jugendclubs, Sportvereine, eine schöne Umgebung. Es gibt ganz sicher schlimmere Orte, wo Jugendliche groß werden müssen, als Neubrandenburg. Und dennoch: Hier passierte die unfassbare Tat, einfach so, aus Frust und Langeweile.

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

In der vergangenen Woche haben übrigens auch in Kiel drei Jugendliche einen Fünfzehnjährigen fast zu Tode geprügelt. Ein Offizier, der zufällig vorbeikam, hat sich dazwischengeworfen, wurde selbst erheblich verletzt, konnte dem Jungen aber wohl das Leben retten - Zivilcourage.

Mord aus Langeweile - Tatort Neubrandenburg
In Neubrandenburg haben drei jugendliche Schläger 2000 einen 15-jährigen Jungen umgebracht - "aus Langeweile und Frust".

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 24.08.2000 | 21:00 Uhr