Erst aufbauen, dann abreißen - Die ABM-Brigaden von Haidemühl

von Bericht: Thomas Berbner

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Composing zum Rückgang der Arbeitslosenzahlen. © picture-alliance/ dpa/dpaweb Foto: Waltraud Grubitzsch

Erfolg bei der Steuerreform, beim Atomkonsens, bei den Verhandlungen über die Zwangsarbeiterentschädigung und bei der Haushaltskonsolidierung - unsere Regierung hat sich mit einer relativ guten Bilanz in den Urlaub verabschiedet. Und dann geht auch noch die Arbeitslosigkeit zurück. Auch das verbucht der Bundeskanzler als seinen Erfolg. Da ist wohl auch was dran - auch. Denn sicher hat er nur vergessen zu erwähnen, dass derzeit mehr Menschen ins Rentenalter kommen als auf den Arbeitsmarkt drängen - und dass Arbeitslose vielfach nicht von der Straße, aber aus der Statistik gebracht werden, zum Beispiel durch ABM, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Besonders im Osten der Republik werden unglaublich sinnvolle Tätigkeiten ausgeübt: Da sieht man Männer und Frauen, die Steine suchen, Hecken schneiden, Vögel beobachten, Schwarz-weiß-Fotos sortieren und Grünstreifen an Landstraßen dritter Ordnung pflegen. Mit ABM sollen die Folgen von vierzig Jahren Planwirtschaft korrigiert werden - mit Planwirtschaft.

Die ABM-Brigaden von Haidemühl
In der Niederlausitz hat Panorama 2000 einen irrwitzigen Fall von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) gefunden.

Ein besonders irrwitziges Beispiel hat Thomas Berbner entdeckt.

KOMMENTAR:

Brandenburg, wo es am schönsten ist: rund um das Kohlekraftwerk Schwarze Pumpe. Hier im Braunkohlerevier an der Niederlausitz werden, wenn nötig, ganze Orte umgesiedelt und weggebaggert.

In vier Jahren erreicht der Tagebau auch den kleinen Ort Haidemühl. Das Dorf wird dann von der Landkarte verschwinden. Trotz des bevorstehenden Untergangs sehen die Haidemühler optimistisch in die Zukunft. Ein ehrgeiziges Dorfentwicklungs-Konzept wurde verabschiedet. Bürgermeister Dietmar Kiehl informiert gerade die Leiter der örtlichen ABM-Brigaden über den Stand der Verschönerungsmaßnahmen.

0-Ton

DIETMAR KIEHL:

(Bürgermeister Haidemühl)

".... kurz abstimmen zu den laufenden Maßnahmen, und die, die noch offen sind, in welcher Zeitfolge wir diese Maßnahmen dann angehen."

KOMMENTAR:

Aufbau Ost mit klarer Zielvorgabe: Bis zum Abriss muss alles fertig sein.

Der ganze Stolz der Haidemühler ist dieses ehemalige Industriegelände. Hier wird ein neuer Dorfplatz errichtet.

0-TonDIETMAR KIEHL:

(Bürgermeister Haidemühl)

"Ja, wir befinden uns hier auf dem Gelände der ehemaligen Brikettfabrik, wo zur Zeit der Dorfplatz neu entsteht und die Renaturierung der Umgebung stattfindet. Unter uns ist der ehemalige Luftschutzbunker, der zu einem Rodelberg für unsere Kinder errichtet wurde."

KOMMENTAR:

Die ABM-Brigade "Wohnumfeldverbesserung und Dorfplatzgestaltung" legt sich voll ins Zeug. Selten hat eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ihren Namen mehr verdient: 360.000 Mark an Fördermitteln für einen Dorfplatz, der bald wieder abgebaggert wird. Die Mitglieder der ABM finden das ganz in Ordnung.

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INTERVIEWER:

"Was sagen Sie dazu, dass Sie hier jetzt noch solche Verschönerungsmaßnahmen machen?"

HELGA LÜCK:

(ABM-Kraft Haidemühl)

"Ich finde das richtig, schließlich sind wir ja noch vier Jahre hier ungefähr, und da möchten wir es ja noch schön haben."

SIMONE KLAUSCH:

(ABM-Kraft Haidemühl)

"Ja, denke ich auch, denke ich auch. Auch wenn Haidemühl mal dem Tagebau weichen soll, sollte man doch die letzten vier Jahre noch so angenehm und schön leben, wie es irgendwie nur geht."

KOMMENTAR:

20.000 Mark bekam jeder Haidemühler Hauseigentümer als Renovierungszuschuss. Seitdem wurden fast alle Dächer im Ort neu gedeckt. Seit der Abriss feststeht, fließt mehr Geld nach Haidemühl als je zuvor. Selbst einfache Schuppen hinterm Haus erstrahlen jetzt in neuem Glanz.

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SIMONE KLAUSCH:

"Wir haben unser Haus total voll rekonstruiert, mit Dach, mit Fenstern, mit Fassade, mit allem drum und dran. Das ist richtig."

INTERVIEWER:

"Und wie ist es bei Ihnen?"

HELGA LÜCK:

"Ich habe eine Mietwohnung und alles topp, seit zweieinhalb Jahren, Heizung, Dach, alles. Fußwege, alles tipptopp."

KOMMENTAR:

Tipptopp ist auch das neu errichtete Haidemühler Feuerwehrmuseum. Vier ABM-Kräfte für zwei Jahre, macht zusammen rund 288.000 Mark an Fördermitteln.

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BERNHARD SCHMITZ:

(Direktor Arbeitsamt Spremberg)

"Wenn wir eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme initiieren und auch prüfen, dann macht es für uns also keinen Unterschied, ob der Ort irgendwann in einigen Jahren abgebaggert wird oder nicht."

KOMMENTAR:

Auch dieser Rasen sollte besser schnell anwachsen.

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DIETMAR KIEHL:

(Bürgermeister Haidemühl)

"An dieser Stelle hat die ABM, welche im Herbst vergangenen Jahres ausgelaufen ist, einen Bolzplatz errichtet für unsere Kinder. Dazu ist es erforderlich gewesen, ca. dreißig, vierzig Zentimeter Mutterboden aufzutragen und den Rasen einzusäen und anzuwalzen."

KOMMENTAR:

360.000 Mark für einen Bolzplatz, der in drei Jahren wieder verschwunden ist. Ebenso wie die frisch renaturierte Dorfteichanlage.

In Haidemühl sind die Realität: blühende Landschaften - zumindest bis der Bagger kommt.

Insgesamt acht ABM-Kräfte werden hier eingesetzt. Die Brigade "Landschaftsräumung und Biotopgestaltung" hat bisher rund 850.000 Mark gekostet. Das Ziel ist hoch gesteckt: für die letzten Jahre sollen seltene Vogelarten angesiedelt werden.

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DIETMAR KIEHL:

"Zur Zeit werden hier am Dorfteich Brut- und Nistplätze geschaffen sowie die vorbereitenden Arbeiten zu einem Natur- und Wanderpfad.

KOMMENTAR:

Eine Folgemaßnahme ist bereits genehmigt. Für weitere 900.000 Mark werden an den frisch renovierten Rad- und Wanderwegen Nistkästen aufgestellt. Zusätzlich sollen eigens zusammengetragene Steinhaufen die Ansiedlung von Lurchen und Molchen ermöglichen. Die Amphibien müssen sich aber beeilen: Zeitgleich zur Errichtung der Biotope beginnt schon der Abriss des Dorfes.

Wer nun glaubt, die Haidemühler seien einfach komplett verrückt, der irrt. Ihre Rechnung ist verblüffend einfach: Nur wenn das Dorf beim Abriss richtig schön ist, wird für sie an anderer Stelle ein ebenso schönes Dorf wieder aufgebaut.

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DIETMAR KIEHL:

(Bürgermeister Haidemühl)

"Die öffentlichen Gelder, die hier eingeflossen sind, sind auf keinen Fall verschwendet worden - im Gegenteil: das bringt es in die Lage, am neuen Standort alles so wieder zu haben, was hier existiert."

KOMMENTAR:

Nur von den rund drei Millionen Mark an öffentlichen Geldern wird nichts bleiben als ein großer Haufen Schutt und Asche.

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Arbeitsminister Riester will übrigens die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im Osten auf lange Sicht beibehalten. Also weiter so, die Arbeitsbrigaden von Haidemühl haben demnach geradezu Vorbildcharakter.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 03.08.2000 | 21:00 Uhr