Chaos im Klassenzimmer - Eltern drücken sich vor Erziehung

von Bericht: Ilka Brecht, Nicola von Hollander und Sabine Platzdasch
Schulanfänger in einer Grundschule © dpa Foto: Peter Kneffel

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Aggressiv, faul, verwöhnt, anspruchsvoll - so werden Kinder beschrieben, Schulkinder. Und wer ist schuld? Zunächst natürlich die Eltern. Sie haben versagt. Die lieben Kleinen sind verwahrlost, bekommen zu wenig Geborgenheit und Zuwendung. Eigentlich würde ich nun gern sagen, dass diese Darstellungen alle übertrieben oder nur für ganz wenige Familien zutreffend sind. Das entspräche allerdings nicht der Wahrheit. Denn mit der Erziehung ihrer eigenen Kinder sind viele Eltern offensichtlich überfordert. In diesen Wochen gehen die jetzt Sechsjährigen zum ersten Mal in die Schule. Ein wichtiger Tag im Leben der kleinen Leute. Und die meisten Erstklässler werden von ihren Eltern begleitet. Von ihnen - den Erziehungsberechtigten, vielleicht sollte man besser sagen: den Erziehungsverpflichteten - von ihnen sehen viele dem Unterricht mindestens ebenso gespannt entgegen wie ihre Kinder. Denn die Kleinen sollen jetzt möglichst nicht nur lesen, schreiben und rechnen lernen, sondern zuerst einmal die Grundregeln des menschlichen Miteinanders einüben. Die Lehrer sollen das übernehmen, was die Eltern nicht geschafft haben und sind damit - natürlich! - ebenfalls überfordert. Eine Bestandsaufnahme an deutschen Grundschulen von Ilka Brecht, Nicola von Hollander und Sabine Platzdasch.

KOMMENTAR:

Posieren mit Schultüte: Ein wichtiger Tag, festgehalten fürs Familienalbum. Einschulung. Ein Tag, an dem die Großen sich für die Zukunft der Kleinen besonders viel wünschen.

O-Töne

"Der soll sich halt selbst entfalten. So ein bisschen kreativ mit Phantasie malen und was weiß ich."

"Dass die Kinder hier lernen, untereinander und miteinander umzugehen."

"Dass die Kinder nicht den Spaß und die Neugier am Lernen verlieren. Daß sie trotzdem noch viel Spaß haben, obwohl jetzt Schule ist."

Erwartungen, die die Lehrer kaum noch erfüllen können. Evelyn Jarosch ermahnt zum achten Mal zur Stillarbeit, doch die 2a macht, was sie will. Die Lehrerin ist überfordert, muss zudem immer wieder auffangen, was die Eltern versäumen. Alltag in der Grundschule:

O-Ton

EVELYN JAROSCH:

(Grundschulrektorin)

"Dass zum Beispiel die Kinder Materialien überhaupt nicht dabei haben. Den fehlen dann die Bleistifte, haben kaum ihre Mäppchen mit, die Hefte fehlen."

O-Ton

CHRISTA HEIDORN:

(Grundschullehrerin)

"Also ich habe in der ersten Klasse ungeheuer viel Knäckebrot immer mitgebracht, damit sie etwas überhaupt im Magen haben, weil die Kinder ständig sagen "Frau Heidorn, ich hab‘ so einen Hunger.‘"

O-Ton

KLAUS WENDTLAND:

(Schulleiter)

"Ich hab’s im Sportunterricht erlebt, ein Mädchen hatte über längere Zeit die selbe Sportkleidung. In dem Fall war es sogar die selbe Unterhose an, weil das Mädchen keine Sporthose hatte."

KOMMENTAR:

So muss sich die Schule auch um die alltäglichen Belange kümmern, weil den Eltern ihre eigenen Kinder offenbar zu anstrengend geworden sind. Für viele Eltern ist es bequemer, den Lehrern die gesamte Verantwortung zuzuschieben. Die Folge: Überforderte Lehrer, Chaos im Klassenzimmer und immer mehr verhaltensauffällige Kinder.

O-Ton

KARL GEBAUER:

(Pädagoge und Autor)

"Also man kann sicherlich sagen, dass zwischen 30 und 40 Prozent der Kinder verhaltensauffällig sind. Und dies hat in aller Regel mit dem Verhalten im Elternhaus zu tun. Die Erziehung der Kinder scheint schwieriger geworden zu sein. In Einzelfällen muss man sogar davon sprechen, dass das Erziehungswissen der Eltern und das Erziehungshandeln verloren gegangen scheint."

Tamara. Sie ist bereits zum zweiten Mal in der ersten Klasse, findet kaum Kontakt zu den anderen Kindern. Das Lernen fällt ihr extrem schwer, sie braucht Aufmerksamkeit. Frühstückspause - nur Tamara packt kein Brot aus.

O-Ton

INTERVIEWER:

"Was hast du denn gefrühstückt?"

O-Ton

TAMARA:

(Kind)

"Gar nichts."

O-Ton

INTERVIEWER:

"Warum nicht?"

O-Ton

TAMARA:

(Kind)

"Weil wir kein Brot haben."

KOMMENTAR:

Große Pause, Tamara durfte nicht als erste die Treppe heruntergehen und bleibt deshalb aus Trotz dort liegen. Für die nächsten 45 Minuten. Den Stoff dieser Deutschstunde hat sie deshalb verpasst und wird ihn wohl auch nie wieder aufholen können. So geht Tamara auch an diesem Tag wieder mit einem Problem mehr nach Hause. Zu ihren vier Geschwistern, zu ihrer alleinerziehenden Mutter - und die findet, nicht sie, sondern die Lehrer sollten sich mehr um Tamara kümmern.

O-Ton

MUTTER VON TAMARA:

"Man geht da nicht so gut drauf ein. Es gibt halt lebendige Kinder und davon gibt’s neuerdings auch sehr viele und dann denk ich mal, man sollte die Kinder auf die mehr eingehen. Und dann eventuell auch mit zwei Lehrpersonen in einer Klasse, das wäre dann vielleicht auch etwas besser, dass sich dann immer einer vielleicht mit drum kümmern könnte."

KOMMENTAR:

Aber nicht nur Tamara hat Probleme. Ihr 10jähriger Bruder muss jetzt auf die Sonderschule. Und nun erst Recht, soll doch die Schule sehen, wie sie mit ihm weiter klarkommt.

O-Ton

ALBERT WUNSCH:

(Erziehungswissenschaftler)

"In dem Augenblick leistet eine solche Mutter einen Offenbarungseid. Das ist wie eine Spätabtreibung. Ich sag‘ das mal wirklich in dieser drastischen Weise. Denn die Verantwortung habe ich für das Kind übernommen in guten und in schlechten Tagen, mindestens bis zum 21. oder 25 Lebensjahr; um also dann die Kinder auch in die Welt zu entlassen im Sinne von einer Eigenständigkeit. Und nur rein deshalb, weil die Schule mir eine Rückmeldung gibt, die ich nicht haben will, die ich vielleicht nicht vertragen kann, die mir vielleicht sehr suspekt erscheint, ja gut, da kann ich sie ja anfragen aber dann einfach die Hände in den Schoß zu legen und zu sagen, da sollen die machen. Was ist das denn für eine Aussage zu dem Kind?"

Die gleiche Klasse, ein anderes Kind. Klassische Musik als Beruhigungsversuch. Vergebens. Als Philino kein Knetgummi mehr hat, ist er am Boden zerstört. Oft können die Kinder mit Konfliktsituationen nicht mehr umgehen - auch wenn sie behüteter sind als Tamara.

O-Ton

ALBERT WUNSCH:

(Erziehungswissenschaftler)

"In dem Augenblick, wo ein Umfeld so angelegt ist von den Eltern, dass immer dann, wenn irgend was ungerade ist, es ist was unaufgeräumt, es fehlt mir was, irgend eine Hand es dahinbringt, also praktisch wie so ein Schlaraffenland im Sinne von "Alles was der Mensch so braucht", es geschieht, es kommt sofort dahin, dieser "Tischlein-deck-Dich-Effekt". Und in dem Augenblick, wo das einmal nicht funktioniert, bricht für mich eine Welt zusammen. "Wer hat mir meinen Knetgummi genommen!"

KOMMENTAR:

Ob vernachlässigt oder verwöhnt, die Probleme sind die gleichen. Auch im Schlaraffenland sind Kinder häufig arm dran. Dem 9-jährigen Carlos fehlt es an nichts. Die Regale lassen jedenfalls keine materiellen Wünsche offen. Seine Eltern sind vielbeschäftigt. Der Vater als Arzt, die Mutter managt den Haushalt. Außerdem organisiert sie Wohltätigkeitsveranstaltungen, braucht viel Zeit für ihre eigenen Interessen und Initiativen. Für die Bedürfnisse ihres Kindes ist in ihrem Terminkalender weniger Platz. Grenzen setzen, Regeln aufstellen, fordern und fördern, das kostet Mühe. Da trifft es sich gut, dass Carlos Mutter für freie Entfaltung eintritt. Auch bei den Hausaufgaben.

O-Ton

MUTTER VON CARLOS:

"Ich sage nicht "du musst jetzt die Schularbeiten jetzt machen, weil du sie jetzt machen musst, sondern ich lasse ihm da, das überlasse ich ihm. Ich finde es einfach wichtig, dass die Kinder selbst entscheiden, wann sie diese Schularbeiten machen möchten."

KOMMENTAR:

Und in der Schule soll Carlos soviel haben wie zu Hause, nämlich einfach alles.

O-Ton

MUTTER VON CARLOS:

"Englisch ab Klasse eins, Spanisch ab Klasse vier oder fünf, vier würd' ich sagen. Spanisch unheimlich wichtig, muss sein. Natürlich auch Latein, alte Sprachen kann man auch lernen, wird alles aufgeteilt. Dann haben wir Wirtschaft. Das Fach Wirtschaft wird unterrichtet ab Klasse eins. Die Kinder lernen, mit Geld umzugehen, globale Zusammenhänge. In unserer Global Community brauchen wir Menschen, die vorbereitet sind für die Aufgaben der Zukunft."

KOMMENTAR:

Und hier kommen die zukünftigen Global Player. Aber so einfach ist das nicht. An Carlos Schule in Hamburg übt das Top-Management von morgen vor dem eigentlichen Unterricht erst mal die Gefühlsäusserung. Denn auch in einigen wohlhabenden Elternhäusern werden die Kinder oft emotional vernachlässigt. Die Klassenlehrerin hat festgestellt: einigen Kindern fehlt es zu Hause an nichts, außer an Zuwendung. Auch hier soll die Schule neuerdings alles richten.

O-Ton

INGE VON VOGEL

(Grundschullehrerin)

"Und wenn ich sehe, was ich hier zum Beispiel an Sozialverhalten der Kinder fortentwickeln oder erstmal entwickeln musste, dann ist das so früher noch nicht gewesen. Also ich denke, manche Eltern sehen Schule als Dienstleistungsgewerbe. Irgend jemand hat mal sehr schön formuliert: Sie erwarten eigentlich, dass Schule ist wie Kindergarten, nämlich dass es Spaß macht, dass die Show gut ist, dass es ein gutes Entertainement ist. Das ganze aber mit Abiturgarantie.

KOMMENTAR:

So werden Lehrer zu Animateuren, Ersatzeltern und Therapeuten. Immer neue Versuche, die Lernbereitschaft anzuregen. Denn die Voraussetzungen für den Lesen-Schreiben-Rechnen-Unterricht bringen die Kinder von Haus aus häufig nicht mehr mit.

O-Ton

INTERVIEWER:

"Warum macht ihr hier diese Übung?"

O-Ton

SCHULKIND:

"Damit wir uns besser konzentrieren können."

O-Ton

INTERVIEWER:

"Wie warst Du denn vorher?"

O-Ton

SCHULKIND:

"Ja, ich war da ein bißchen hippeliger."

O-Ton

KARL GEBAUER:

(Pädagoge und Autor)

"Es ist, man könnte schon sagen dramatisch, das Lernvermögen der Kinder ist ganz drastisch zurückgegangen. Man könnte sagen, die Ausbildung des Gehirns erfolgt nicht mehr in der Weise, wie dies eigentlich sein sollte. Und dies hängt damit zusammen, so kann man wohl annehmen, dass viele Kinder zu Hause nicht mehr Anregung bekommen, die Geborgenheit haben und die Grenzsetzung erhalten, die erforderlich sind, damit Lernen überhaupt stattfinden kann."

KOMMENTAR:

Kinder, die in der Grundschule durch das Raster fallen. In der Lernwerkstatt in Münster fördert man Schüler mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. Vor neun Jahren wurden hier ganze drei Kinder intensiv betreut, heute sind es schon zweihundertzwanzig.

Benedikt hat Schwierigkeiten mit dem Wort Nase:

O-Ton

INTERVIEWER:

"Und wie heißt das Wort?"

O-Ton

BENEDIKT:

"Anse"

KOMMENTAR:

Das Chaos in den Klassenzimmern, die Erziehungskrise im Elternhaus: Immer mehr Kinder haben immer weniger Chancen.

O-Ton

KARL GEBAUER:

(Pädagoge und Autor)

"Wenn es uns nicht gelingt, den Eltern und den Lehrern gemeinsam und den bildungspolitisch Verantwortlichen, wenn es uns nicht gelingt, dass genau wahrzunehmen und ernst zu nehmen, zu analysieren und konstruktive Formen des Umgangs zu finden, dann wird das unweigerlich in einer Erziehungskatastrophe enden."

O-Ton

SCHULKIND:

"Ich freue mich auf die Schule und ich möchte gerne lernen, über alles."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Gerne und alles lernen möchte das kleine Mädchen. Unter diesen Umständen ist das wohl eher schwierig. Natürlich ist Kindererziehung nie eine 100-prozentige Erfolgsstory. Und natürlich versagen nicht alle Eltern, und nicht jede Schule ist überfordert. Doch offenbar begreifen viele Mütter und Väter die Erziehung ihrer Kinder als eine Sache der Lehrer, da diese ja auch dafür bezahlt werden. Auch eine Interpretation der Dienstleistungsgesellschaft. Für die Kinder ist das allerdings brutal.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 14.09.2000 | 21:00 Uhr