Wütende Eltern, frustrierte Lehrer - Politiker vertuschen Unterrichtsausfall

von Bericht: Nicola von Hollander und Ralf Kaiser

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Das Beste an der Schule waren für uns früher die Pausenklingel, die eine oder andere geschwänzte Stunde und natürlich die Ferien. Heute ist es für viele der Unterricht, denn es gibt Schulen, an denen Kinder und natürlich erst recht die Eltern froh sind, wenn er überhaupt noch stattfindet. Die Kassen der Schulbehörden sind leer, und deshalb fällt manchmal wochenlang zum Beispiel der Mathe-Unterricht aus, die Schulbücher haben bestenfalls noch antiquarischen Wert, und die Kinder werden in überfüllten Klassen nur noch verwahrt. Den schlanken Staat, den wollen wir alle, aber im Schulwesen scheint er inzwischen beim Gerippe angekommen zu sein. Schule, da wird der Ausfall verwaltet, und der Mangel wird auch noch vertuscht. Nicola von Hollander und Ralf Kaiser waren bei wütenden Eltern und frustrierten Lehrern und Schülern.

Politiker vertuschen Unterrichtsausfall
Infolge von leeren Klassen in Städten und Gemeinden fallen Unterichtsstunden an Schulen aus. Ein Bericht von 1999.

KOMMENTAR:

Eine Kerze für jede ausgefallene Stunde. Eltern protestieren im niedersächsischen Peine. Der Unterrichtsausfall hat Rekordhöhe erreicht. Ein unerträglicher Mangel, finden die aufgebrachten Mütter und Väter.

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VATER:

"Wir fordern ganz einfach ein Optimum für unsere Kinder und sagen: Geld darf nicht das Argument sein für nicht gegebene Stunden."

KOMMENTAR:

Das Gymnasium in Brake an der Weser heute nachmittag. Eltern, Schüler und Lehrer wehren sich gegen den Stundenausfall. Die ganze kommende Nacht durch wollen sie weiter unterrichten. Marathonunterricht nennen sie ihre Demonstration - als Protest gegen die Misere an deutschen Schulen.

Im niedersächsischen Nordheim geht man eigenartige Wege, notgedrungen. Die Lehrerin Monika Jäger muß zwei Klassen gleichzeitig unterrichten, und das ist Alltag in der Grundschule im Kirchtal. Für die sechs Klassen hat die Schule gerade sechs Lehrer. Ersatzkräfte fehlen. Heute ist eine Lehrerin krank geworden, und diesmal trifft es die erste und die vierte Klasse. Der Stundenplan muß geändert werden: Statt Schreiben jetzt - so heißt es offiziell - Stillarbeit.

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MONIKA JÄGER:

(Lehrerin)

"Wenn jemand immer hin und her laufen muß - ich kann mich um diese Klasse nicht kümmern, ist so."

INTERVIEWERIN:

"Wie häufig kommt das vor?"

MONIKA JÄGER:

"Das darf ich nicht sagen."

KOMMENTAR:

Darf sie nicht sagen, weil die Verhältnisse eigentlich noch viel schlimmer sind. Als die Eltern den Unterrichtsausfall ihrer Kinder zählten, konnten sie es kaum glauben: deprimierende Zahlen.

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KURT LIEDTKE:

(Elternvertreter)

"Wir haben da eben eine Zeit gehabt letztes Jahr, wo innerhalb von drei Monaten im Prinzip, ja, fast zwanzig Prozent des Unterrichtes nicht erteilt worden sind. Davon ist die Hälfte wirklich ausgefallen, und die andere Hälfte ist halt mit Stillbeschäftigung, Beaufsichtigung von zwei Klassen durch eine Lehrerin, Beaufsichtigung von Müttern abgedeckt worden."

KOMMENTAR:

Doch nicht nur an den Grundschulen, auch an den Gymnasien ist Unterrichtsausfall an der Tagesordnung. Die Lehrerin des Abiturkurses in Walsrode ist krank.

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ROLF-EBERHARD IRRGANG:

(Direktor Gymnasium Walsrode)

"Ja, die Stunde, wissen die Bescheid, ist jetzt Schluß für die. Die gehen jetzt also runter, raus, wo immer, in die Sonne."

KOMMENTAR:

Und das kommt häufig vor.

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SCHÜLERIN:

"Also heute habe ich zum Beispiel nur vier Stunden, obwohl ich eigentlich normalerweise acht hätte, also genau die Hälfte weg."

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SCHULSEKRETÄRIN:

"Noch eine Krankmeldung für heute."



KOMMENTAR:

Schon das eine Hiobsbotschaft. Nicht nur Fächer wie Sport, Religion und Musik fallen aus, sondern auch Kernfächer: Deutsch, Mathematik, Englisch. Und das geben Schulleiter und Lehrer nur höchst ungern zu.

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HANS-JÜRGEN SCHOMAKER:

(Lehrer)

"Kernfächer fallen durchaus manchmal aus. In dem Fall läßt sich also vielleicht keine sinnvolle Vertretung durchführen, und dann verkürzt sich der Unterricht für die Schüler."

KOMMENTAR:

Immer mehr Fehlstunden durch immer mehr Krankmeldungen. Die Personaldecke ist dünn.

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INTERVIEWERIN:

"Hätten Sie mehr Personal, wäre es ja nicht so gravierend oder?

ROLF-EBERHARD IRRGANG:

(Direktor Gymnasium Walsrode)

"Theorie ist schön, Praxis ist das, was hier stattfindet."

KOMMENTAR:

Die niedersächsische Kultusministerin sollte eigentlich das ganze Ausmaß dieser Misere kennen. Doch offenbar Fehlanzeige. Bisher sah sie noch keinen Grund, den Unterrichtsausfall in ihrem eigenen Bundesland zu erheben.

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RENATE JÜRGENS-PIEPER:

(Kultusministerin Niedersachsen)

"Den aktuellen Unterrichtsausfall ermittelt nur die einzelne Schule. Wir werden das jetzt ändern, weil wir den Unterrichtsausfall in der Grundschule ja bekämpfen wollen. Und deshalb werden wir uns auch zentral melden lassen."

KOMMENTAR:

Zum Ausfall kommen Rechentricks. Seit Jahren kürzt nicht nur dieses Ministerium die Stundenzahl, tut aber nach außen so, als habe sich nichts verändert. Beispiel:

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ROLF-EBERHARD IRRGANG:

"Wir hatten 1993 in der Klasse 10 vier Stunden Französisch. Das hat sich geändert, das sind jetzt noch drei. Und wir haben in der Sozialkunde, das heißt heute Politik, eine Stunde statt zwei. Das heißt, wir haben insgesamt von 32 Wochenstunden für den Schüler auf 30 Stunden reduziert."

KOMMENTAR:

Zwei Stunden weggestrichen - im Klartext also ausgefallen. Aber Statistik läßt sich noch viel schöner frisieren.

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ROLF-EBERHARD IRRGANG:

"Nehmen wir mal an, wie haben in einem schönen Jahr eine sehr gute Versorgung von 100 Prozent. Die geht jetzt sukzessiver herunter vielleicht auf 92 Prozent. Um das System wieder grade zu bekommen, wische ich ganz einfach 92 weg, setze 100 und habe damit das Problem gelöst. Das ist Statistik."

KOMMENTAR:

Solche Buchhaltertricks haben rote und schwarze Kultusminister genutzt. So haben sie jahrelang den Bildungsnotstand schöngerechnet. Eltern und Lehrer sind sauer.

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JOSEF KRAUS:

(Vors. Deutscher Lehrerverband)

"Die Unterrichtsversorgung hat sich dramatisch verschlechtert. Die Klassen werden größer, der Wochenstundenumfang wird geringer. Wir haben keine Vertretungsreserve, die Lehrer werden älter. Also wir sind überhaupt nicht glücklich darüber. Am meisten brennt uns auf den Nägeln der Unterrichtsausfall, auch den Eltern auf den Nägeln. Von den etwa elf Millionen Stunden, die wöchentlich in Deutschland unterrichtet werden müßten, findet etwa eine Million nicht statt."

KOMMENTAR:

In Bayern sei ja alles viel besser, so glauben viele hier. Doch wer im Land von Laptop und Lederhose genauer hinschaut, weiß: Auch der Freistaat trickst, wenn auch nicht ganz so plump wie andere Länder.

Ein Aufenthaltsraum im Gymnasium Weilheim. Latein und Sport sind ausgefallen. Bis zu sechzig Schüler werden zwar beaufsichtigt, Unterricht erhalten sie aber nicht. Auch in Bayern gilt die bittere Erfahrung: Die meisten Vertretungsstunden sind in Wahrheit verdeckter Unterrichtsausfall. Und der wird so gut wie nie in den Statistiken mitgerechnet.

Entsprechend groß ist der Ärger der Eltern über den tatsächlichen Ausfall an Unterricht. Auch im ordentlichen Freistaat sorgen sie sich um die Zukunft ihrer Kinder.

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CHRISTOPH WITTERMANN:

(Elternbeirat)

"Wir zählen den für uns, den Unterrichtsausfall, und wir stellen fest - übrigens ist auch die Schule durchaus offen auf diesem Sektor -, daß im Durchschnitt an dieser Schule ungefähr sechs Prozent Unterricht ausfällt, was aber heißt, daß in einzelnen Klassen phasenweise auch mal deutlich über zehn Prozent des Unterrichts ausfällt. Und das ist einfach zu viel."

KOMMENTAR:

Die bayerische Kultusministerin hat ihre eigene Rechnung, eine Erfolgsbilanz.



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MONIKA HOHLMEIER:

(Kultusministerin Bayern)

"Der Unterrichtsausfall wird bei uns genau erhoben. Er beträgt rund ein bis vier Prozent an den unterschiedlichen Schularten. Der Unterrichtsausfall ist außerordentlich unangenehm, wenn er eintritt, und wir versuchen, ihn zu minimieren, wo irgend es geht. Das heißt, dort, wo er vier Prozent ist, möchten wir ihn gerne auch wieder ein stückweit senken."

KOMMENTAR:

Experten kennen die bayerischen Rechentricks. Das Ministerium ermittelt nur den akuten Ausfall, etwa bei Krankheit des Lehrers. Daß auch Bayern die Zahl der Stunden gekürzt hat, wird nicht mitgerechnet. Tatsache ist auch: Bayern hat mit die größten Klassen in Deutschland. Die Lehrer stöhnen.

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CHRISTINE LOHSE:

(Lehrerin)

"Zu behaupten, es spielt keine Rolle, ob da 20 oder 25 oder 33 Kinder in einer Klasse sind, also das widerspricht schon gegen den gesunden Menschenverstand. Natürlich ist es nicht das gleiche, ob ich Englischunterricht mit 20 hab' oder mit 33."

KOMMENTAR:

Die Kultusminister scheinen derlei Unterschiede nicht zu kennen. In Deutschland werden die Proteste gegen Bildungsarmut deshalb zunehmen, so lange, bis Politiker ihre Hausaufgaben machen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 25.03.1999 | 21:00 Uhr