Warten auf Gerechtigkeit - Der zynische Umgang mit Zwangsarbeitern

von Bericht: Mathis Feldhoff und Jochen Graebert

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Ich habe hier eine Rechnung, die ich Ihnen in Teilen vorlesen möchte: "Täglicher Verleihlohn abzüglich Ernährung, das macht 5 Reichsmark 30 pro Tag. Bei einer durchschnittlichen Lebensdauer von neun Monaten plus Erlös aus der Verwertung der Leiche - da ging es um Zahngold, Wertsachen und Kleidung -, ergibt sich ein Gesamtgewinn von 1.631 Reichsmark. Abzüglich der Verbrennungskosten, zuzüglich des Erlöses aus Knochen und Aschenverwertung."

Zynischer Umgang mit Zwangsarbeitern
Pawel Pawlenko wurde vom KZ aus als Zwangsarbeiter an deutsche Firmen "verliehen". Seitdem wartet er auf Entschädigung.

So etwas findet sich in den makabren Aufstellungen der Nazis über den Wert eines KZ-Häftlings, der von der SS an Firmen im Deutschen Reich vermietet wurde. Der Wert eines KZ-Häftlings, eines Kriegssklaven, über den wird seit über einem Jahr gestritten. Bis gestern - dem Tag des deutschen Angriffs auf Polen - wollten sich Bundesregierung, Industrie und Anwälte der ehemaligen Zwangsarbeiter über zu zahlende Entschädigungen geeinigt haben. Aber das kann ja wohl noch dauern. Für die Industrieunternehmen, die mit KZ-Häftlingen im Dritten Reich Geld machten, wird es immer billiger, mit jedem Tag. Es leben ohnehin nur noch zehn Prozent der ehemaligen Zwangsarbeiter, Durchschnittsalter 81 Jahre.

Über das schäbige Schachern und den zynischen Umgang mit diesen alten Menschen berichten Mathis Feldhoff und Jochen Graebert.

KOMMENTAR:

Pawel Pawlenko wartet. Pawel Pawlenko wartet seit 54 Jahren. Er wartet darauf, daß ihn Deutschland endlich für seine Arbeit bezahlt. Im Krieg wurde er von Kiew nach Deutschland verschleppt, ins Konzentrationslager gesteckt, zur Arbeit gezwungen. Die Nummer des ukrainischen KZ-Häftlings verblaßt langsam, die Erinnerung an seine Peiniger ist immer noch frisch.

0-Ton (Übersetzung)

PAWEL PAWLENKO:

(NS-Zwangsarbeiter)

"Wir mußten Loren voll mit Lehm schieben, immer im Laufschritt. Alle fünf Meter stand ein SS-Mann mit einer Peitsche oder einem Knüppel. Wenn wir langsamer wurden, haben sie uns geschlagen, immer auf den Rücken. Deshalb mußten wir immer laufen."

KOMMENTAR:

Pawel Pawlenko war im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg. Wenn er die Bücher mit den Bildern aus dem Schrank holt, ist es wieder so, als wäre es erst gestern geschehen. Dann erzählt er von seiner Zeit bei der 2. SS-Baubrigade, als er in zerbombten Häusern nach Leichen suchen mußte. Von Hamburg, wo er während des Krieges Trümmer wegräumen mußte. Nur wenige haben überlebt.

0-Ton (Übersetzung)

PAWEL PAWLENKO:

"Da war dieser SS-Mann. Der hat sich wahllos Häftlinge gegriffen und in die Elbe gestoßen. Er hat sie so lange unter Wasser gedrückt, bis sie tot waren. Wir mußten die Leichen dann mit einem Bootshaken herausholen. Die polnischen Zwangsarbeiter wurden mit einem Riemen vor die Karren gespannt und mußten die Leichen ins Krematorium ziehen. 150 bis 200 Menschen wurden so jeden Tag umgebracht."

KOMMENTAR:

Vergangene Woche in Bonn. Der Washingtoner Anwalt Michael Hausfeld auf dem Weg zu neuen Verhandlungen über die Entschädigung von Zwangsarbeitern. Er vertritt Zehntausende Überlebende. Erst die Sammelklagen von US-Anwälten haben die deutsche Industrie und die Bundesregierung an den Verhandlungstisch gezwungen. Gegenüber PANORAMA spricht Hausfeld erstmals über Summen.

0-Ton (Übersetzung)

MICHAEL HAUSFELD:

(Rechtsanwalt)

"Wir reden darüber, was der Verlust an Freiheit und Würde und was die geleistete Arbeit in den vierziger Jahren wert war. Selbst wenn wir bescheiden sind, reden wir dann über dreitausend Dollar? Das wären nach heutigem Wert über dreißigtausend Dollar. Ist das fair? Für durchschnittlich zweieinhalb Jahre Zwangsarbeit dreitausend Dollar."

KOMMENTAR:

Das wären für Pawlenko umgerechnet 1.800 Mark pro Monat Zwangsarbeit. Ein bescheidener Lohn, inklusive Folter und Schläge. Für die deutsche Industrie ist auch das zu viel.

0-Ton

WOLFGANG GIBOWSKI:

(Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft)

"Es ist nur eines klar, daß wir die völlig übertriebenen Forderungen und Vorstellungen der amerikanischen Kläger als völlig inakzeptabel ablehnen und auch gar nicht bereit sind, darüber zu verhandeln."

KOMMENTAR:

Eine faire Entschädigung, so die US-Anwälte, kostet den deutschen Finanzminister und die Industrie zweistellige Milliardenbeträge. Aber um Fairneß geht es bei den Verhandlungen ohnehin nicht. Bis heute gibt es noch immer kein Angebot aus Deutschland. Inoffiziell redet die Industrie von drei Milliarden Mark. Für jemanden wie Pawel Pawlenko wären das ein paar hundert Mark pro Monat Zwangsarbeit. Ein paar Hunderter für einen Lebensabschnitt, der die Opfer bis heute quält. Und er erzählt immer wieder, wie sie gedemütigt wurden. Stundenlang mußten sie auf dem Appellplatz in die Knie gehen.

0-Ton

PAWEL PAWLENKO:

"Hoch mit dem Arsch."

KOMMENTAR:

Von SS-Männern getreten und geschlagen. Für drei Jahre Schinderei fordert Pawel Pawlenko nichts mehr als seinen gerechten Lohn.

0-Ton

WOLFGANG GIBOWSKI:

"Wenn man schon darüber redet, dann muß es ja irgendwann jemand aufbringen, und dann bleibt nichts anderes übrig, als dann, wenn es ans Zahlen geht, wirklich diese Dinge ganz genau zu betrachten, so schlimm das sein mag."

KOMMENTAR:

Fünfzig Jahre hat die Industrie die Dinge dann genau betrachtet, wenn es darum ging, nicht zu zahlen. Wie Sklaven kaufte sie Zwangsarbeiter von der SS, für ein paar Mark Leihgebühr pro Tag. Als die Überlebenden nach dem Krieg ihren Arbeitslohn forderten, weigerte sich die Industrie: Man habe ja schon bezahlt, an die SS. Mit diesem Zynismus feilscht die Industrie heute noch um die Entschädigung der Zwangsarbeiter.

0-Ton (Übersetzung)

MICHAEL HAUSFELD:

(Rechtsanwalt)

"Gestern haben sie während der Verhandlungen gesagt: Nehmen Sie zur Kenntnis, daß die Industrie für die Zwangsarbeiter bereits bezahlt hat. Was soll ich meinen Mandanten erzählen, die zweieinhalb Jahre in Auschwitz gequält wurden, die sechs Tag die Woche zehn Stunden lang arbeiten mußten? Soll ich ihnen sagen, daß die deutsche Industrie bereits ihren Lohn an die SS bezahlt hat? Das war eine ungeheuerliche Äußerung."

KOMMENTAR:

Pawel Pawlenko haben sie beide Ellenbogen gebrochen, die Finger mit einer Tür zerquetscht. Halb verhungert kam er aus Deutschland zurück, aus dem KZ Neuengamme. 1945 wird es von den Alliierten befreit.

Zwangsarbeiter aus Konzentrationslagern sollen die höchste Entschädigung erhalten, darüber sind sich eigentlich alle einig. Nur die Industrie schaut wieder mal ganz genau hin, jetzt, wo es ans Zahlen geht.

0-Ton

WOLFGANG GIBOWSKI:

(Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft)

"Es gibt auch ganz andere Situationen und Fälle. Ich persönlich konnte neulich im ehemaligen KZ Ravensbrück eine frühere polnische Zwangsarbeiterin treffen, die damals im KZ eingesessen war, als junges Mädchen mit 17 Jahren zur Zwangsarbeit verpflichtet war, die heute mit großer Freude an diesen Ort zurückkehrt, dort freiwillig arbeitet, ein gutes Verhältnis zu den Deutschen hat, perfekt Deutsch spricht und sagt: Lieber Gott, die Zeit ist doch vorbei."

KOMMENTAR:

Eben nicht. Deshalb soll jetzt Otto Graf Lambsdorff die festgefahrenen Verhandlungen voranbringen, gemeinsam mit der amerikanischen Regierung. Besonders peinlich für den deutschen Verhandlungsführer: Nur 16 Unternehmen wollen bisher zahlen. Dabei waren es Tausende deutsche Firmen, die Zwangsarbeiter ausgebeutet haben. Doch die stellen sich taub, seit 54 Jahren.

0-Ton

OTTO GRAF LAMBSDORFF:

(Beauftragter der Bundesregierung)

"Es gibt in Deutschland große Unternehmen, von denen ich persönlich weiß, daß sie Zwangsarbeiter beschäftigt haben, und die finde ich nicht auf dieser Liste. Das erstaunt mich, und da muß die deutsche Wirtschaft oder die Sprecher der Wirtschaft, die Sprecher der 16 Unternehmen sich, glaube ich, noch auf die Strümpfe machen und sagen: Kameraden, ihr müßt hier mit antreten, so geht das nicht."

KOMMENTAR:

Gemeinsam mit seiner Frau kommt Pawel Pawlenko regelmäßig auf den kleinen Friedhof von Ivankiv bei Kiew. Die meisten seiner Kameraden sind längst gestorben, haben lange und vergeblich auf eine Entschädigung gewartet. Auch sein Freund Iwan Grigorenko war als Zwangsarbeiter im KZ. Dessen Witwe konnte sich nicht einmal eine ordentliche Beerdigung leisten. Pawlenko hat dafür gesammelt.

0-Ton (Übersetzung)

PAWEL PAWLENKO:

"Er ist gestorben, bevor er eine Entschädigung bekommen hat. Sie haben den Stichtag auf den 16. Februar diesen Jahres festgelegt, alle die, die wie Grigorenko davor gestorben sind, gehen leer aus."

KOMMENTAR:

Während hier fast jede Woche ein ehemaliger Zwangsarbeiter stirbt, weigert man sich in Bonn, überhaupt von Entschädigung zu reden. Am Ende müssen die Opfer noch danke sagen.

0-Ton

WOLFGANG GIBOWSKI:

(Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft)

"Es geht ja nicht um Entschädigung, sondern es geht hier um humanitäre Maßnahmen zu Gunsten derjenigen, die am meisten gelitten haben."

0-Ton

INTERVIEWER:

"Würden Sie es Entschädigung nennen?"

OTTO GRAF LAMBSDORFF:

"Nein, ich nenne es humanitäre Leistungen."

0-Ton (Übersetzung)

PAWEL PAWLENKO:

"Ich habe eine gute Brille aus Deutschland bekommen, einen Krückstock für mein kaputtes Bein. Ich habe Medikamente gekriegt - das ist humanitäre Hilfe. Aber hier geht es um Entschädigung für meine Sklavenarbeit. Ich will Geld für jeden Tag, den ich für Deutschland geschuftet habe, nichts anderes."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Die Opfer, die ehemaligen Zwangsarbeiter, sind bei diesem schäbigen Procedere zu Bittstellern geworden, die demütig waren sollen auf die Wohltaten auf die "humanitäre Hilfe", die man ihnen eines Tages zukommen lassen wird. Die ist übrigens zum Teil steuerabzugsfähig, im Gegensatz zur "Entschädigung", da ist das nicht so einfach. Und das erklärt auch den zynischen Streit ums richtige Vokabular.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 02.09.1999 | 21:00 Uhr