Tödliche Falle auf hoher See - Gefährliche Mängel bei Rettungsinseln

von Bericht: Thomas Berndt und Kirsten Gierschick

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Es ist ein Alptraum: Feuer auf hoher See, auf einer Ostseefähre. Sie wird schnell evakuiert, über 1.300 Menschen werden geborgen. Es ist glimpflich abgelaufen in der vergangenen Woche im Kattegat, auf dem Weg von Kiel nach Oslo - auch, weil das Wetter gut, die See ruhig und zufällig genügend andere Schiffe in der Nähe waren, um die Passagiere an Bord zu nehmen. Einfach Glück gehabt eben. Aber wenn sich Reisende bei einem Schiffsunglück auf Rettungswesten und -inseln verlassen müssen, geht so ein Alptraum oft ganz anders aus, weil die Ausrüstung für Notfälle, die Menschen ja das Leben retten soll, zur tödlichen Falle werden kann.

Gefährliche Mängel bei Rettungsinseln und Rettungswesten
Mängel bei Rettungswesten und Rettungs.Insen wecken Zweifel an der Sicherheit von Kreuzfahrtschiffen

Sicherheitsstandards auf Schiffen - über neue erschreckende Erkenntnisse berichten Thomas Berndt und Kirsten Gierschick.

KOMMENTAR:

Ein Grandhotel auf hoher See. Das teuerste deutsche Kreuzfahrtschiff: die MS "Deutschland". Ein Höchstmaß an Luxus, aber nicht für alle an Bord auch ein Höchstmaß an Sicherheit. Kaviar - scheinbar wichtiger als Katastrophenschutz.

Versinken kann so ein Traumschiff schnell. Bilder vom Untergang der "Ozeanus". Dann heißt es: Rettungswesten anlegen, und wehe, wenn die nichts taugen.

240 dieser Billig-Rettungswesten Marke "Creda" sind an Bord der MS "Deutschland" - lebensgefährlich, wie Hamburger Schiffsmediziner im Test herausfanden.

Der Ernstfall, simuliert durch einen Dummy. Der Stützkragen der Weste soll den Passagier über Wasser halten. Statt dessen rutscht er sofort über den Kopf, drückt das Gesicht unter Wasser.

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ROLF HERRMANN:

(Zentrum für Schiffahrtsmedizin Hamburg)

"Für einen normal Schiffbrüchigen, also hier zum Beispiel in erschöpfter Situation oder bei Kälte, würde das absolut sicheres Ertrinken bei schlechtem Wetter bedeuten."

KOMMENTAR:

Mit diesem Testergebnis konfrontieren wir die Reederei der MS "Deutschland". Vor der Kamera will die Billigwesten keiner verteidigen. Statt dessen teilt uns der Reeder ganz schnell mit, daß alle Rettungswesten dieses Typs ausgetauscht werden.

Dieser Schiffsausrüster aber weiß, die Gefahr bleibt, zumindest auf anderen Schiffen. Denn baugleiche Billigwesten verkauft er reichlich.

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DIETRICH SCHAEFER:

(Hygrapha-Schiffsausrüstung)

"Ja, es gibt noch einige andere Modelle, zum Beispiel dieses hier, diese Rettungsweste, die man eigentlich als nicht Insider wahrscheinlich gar nicht unterscheiden kann. Dann haben wir diese hier, das ist ein anderes Fabrikat, das nach meinem Empfinden auch sehr, sehr ähnlich ist."

INTERVIEWER:

"Das heißt, weltweit ist diese Rettungsweste dann doch sehr häufig verbreitet."

DIETRICH SCHAEFER:

"Im Laufe der Jahre ja, bestimmt."

KOMMENTAR:

Nicht nur Westen prüften die Hamburger Schiffahrtsmediziner, auch handelsübliche Rettungsinseln entpuppen sich als lebensgefährlich. Bestes Beispiel: Vor fünf Jahren der Untergang der "Estonia". Mehr als 800 Passagiere starben.

0-Ton

FUNKSPRUCH:

"Estonia, Estonia, mayday, mayday."

KOMMENTAR:

Solche Plastikinseln sollten die Passagiere eigentlich retten, aber nur wenige funktionierten. Was nachts auf tosender See passierte, berichtet ein Überlebender.

0-Ton (Übersetzung)

PAUL BARNEY:

(Überlebender Estonia-Katastrophe)

"Ich sprang im letzten Moment hinein, als wir auf dem Wasser auftrafen. Und das Floß wurde sofort von einer Welle umgeworfen. In der englischen Presse wurde gesagt, wir hätten das Floß umdrehen sollen. Aber unter diesen Bedingungen ist der Gedanke total absurd. Es war vollkommen unmöglich, das zu tun, mit 16 oder 20 Passagieren, im Sturm, mit 12 Meter hohen Wellen, direkt neben einem sinkenden Schiff."

KOMMENTAR:

Selbst geübte Seeleute der Bundesmarine haben damit ein Problem, auch wenn sie zu dritt sind. Das Wenden trainieren die Soldaten regelmäßig, denn immer wieder liegen Inseln verkehrt herum auf See.

Das nächste Problem: das Einsteigen. Eine dünne Strickleiter baumelt unter Wasser. Schiffbrüchige müssen im Sturm akrobatische Höchstleistungen vollbringen. Ein Konstruktionsfehler.

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OTTO STOEHR:

(Technische Marineschule Neustadt)

"Wie wir das festgestellt haben, haben wir als Konsequenz dann an unsere Inseln, an alle Inseln der Bundesmarine sogenannte Einstiegshilfen eingebaut, die jetzt den Einstieg in eine Insel erheblich erleichtern. Denn man muß davon ausgehen, daß die Person, die aus dem Wasser in die Insel hineinklettert, a) wie schon gesagt, durch Unterkühlung vorgeschädigt ist, damit also kaum noch Haltekraft in den Händen hat, und zum anderen erheblich gestreßt ist. Das ist eine Situation, die sich keiner vorstellen kann."

KOMMENTAR:

Mit dieser Situation müssen auch Hochsee-Segler rechnen. Admirals-Cup gestern vor der englischen Küste. Alle Boote hier haben Rettungsinseln an Bord. Aus der Erfahrung ähnlicher Rennen wissen die Skipper um die Schwierigkeiten der Rettung auf hoher See.

1998 vor der Küste Australiens. Ein Sturm peitscht die Wellen 10 Meter hoch. Einige Segler flüchten in ihre Rettungsinseln. Doch die werden zur Todesfalle. Der Orkan wirft sie um, die Luft wird knapp. Aus Angst zu ersticken befreien sie sich und ertrinken. Aber auch wer in seiner Insel bleibt, ist noch lange nicht gerettet.

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ROLF HERRMANN:

(Zentrum für Schiffahrtsmedizin Hamburg)

"Es sind hin und wieder Menschen in Rettungsinseln gefunden worden, die tot waren, als man die Rettungsinsel fand. Und es haben aber keine Untersuchungen stattgefunden, woran sie gestorben sind. Man geht üblicherweise davon aus, daß diese Menschen an Erschöpfung und Unterkühlung gestorben sind. Es werden sicher welche dabei sein, die durch Sauerstoffmangel in der Rettungsinsel gestorben sind."

KOMMENTAR:

Den Ernstfall haben die Hamburger Schiffahrtsmediziner in Tests nachgestellt, mit vollbesetzter Rettungsinsel, unter realistischen Bedingungen.

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ROLF HERRMANN:

"Wenn extrem schlechtes Wetter ist mit sehr kaltem Wasser, das einem kontinuierlich reindonnert in großen Mengen in diese Öffnungen, dann werden die geschlossen, weil man mehr Angst vor dem kalten Wasser hat als vor allem anderen."

KOMMENTAR:

Geschlossene Eingänge, wasser- und luftdichter Stoff. Die Testpersonen drohten schon nach kurzer Zeit bewußtlos zu werden. Nach 45 Minuten mußte der Test abgebrochen werden. Der Sauerstoffgehalt war dramatisch gesunken. Nach spätestens zwei Stunden, so die Messungen, besteht akute Lebensgefahr. Darüber wollen wir mit der Firma Nautiv sprechen, sie ist einer der führenden Hersteller von Rettungsinseln in Deutschland.

Nautiv war als einzige Firma bereit, vor der Kamera ihre Produkte zu präsentieren. Die Marketingleiterin bestätigt zwar das Risiko, daß man in ihrer Insel ersticken kann, die Kunden aber erfahren davon nichts.

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INTERVIEWER:

"Daß es zu Sauerstoffmangel kommen kann nach einiger Zeit bei geschlossenen Türen, das ist nicht erwähnt in der Bedienungsanleitung."

ANJA SOMMER:

(Nautiv-Rettungsinseln)

"Das ist momentan nicht erwähnt."

INTERVIEWER:

"Warum nicht?"

ANJA SOMMER:

"Hm ....."

KOMMENTAR:

Eine Erklärung bleibt sie schuldig, aber immerhin: Nautiv hat inzwischen einen Prototypen entwickelt, mit spezieller Belüftungsanlage. Nur: leider ist das Modell nicht auf dem Markt erhältlich.

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ANJA SOMMER:

"Bei den Rettungsinseln, bei Rettungsmitteln allgemein, findet ein ziemlich starker Preiskampf statt. Das heißt, wenn man qualitativ hochwertige Produkte haben will, wenn man diese Zwangsentlüftung einsetzen würde, das würde sich sicherlich auf dem Marktpreis in ein paar hundert Mark niederschlagen. Das sind einfach dann Sicherheitsfaktoren, die der Endverbraucher nicht bereit ist zu bezahlen."

KOMMENTAR:

Die Endverbraucher, das sind Sportsegler und vor allem die großen Reedereien. Noch haben die es einfach, denn die internationalen Sicherheitsrichtlinien fordern eben keine Belüftung für Rettungsinseln. Deutschland hat zwar auf eine Verschärfung der Vorschriften gedrängt, aber der Widerstand von Billigflaggenländern und Reedern war einfach zu groß.

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ANGELIKA PENSKY:

(Bundesanstalt für Arbeitsschutz)

"Solange Reeder sozusagen an dieser wirtschaftlichen Seite ein starkes Interesse haben, die Kosten für Rettungsmittel geringer zu halten, ist natürlich ein Mehr an Sicherheit im Bereich der Rettungsmittel gerade gegen die Reeder und dann auch natürlich gegen die Hersteller von Rettungsmitteln nur schwer durchzusetzen."

KOMMENTAR:

Als Rettungsmannschaften am Morgen des 29. September 1994 an der Unglücksstelle der "Estonia" eintrafen, trieb nur noch eine Rettungsinsel im Meer - verkehrt herum. Elf Schiffbrüchige in Rettungswesten lagen schutzlos auf ihr, alle bis auf einen tot. Erfroren, weil sie nie in die Insel hineingekommen waren. Nur Paul Barney überlebte.

0-Ton (Übersetzung)

PAUL BARNEY:

(Überlebender Estonia-Katastrophe)

"Ich war von dem Gedanken besessen, daß es immer eine weitere Art von Sicherheitstechnik gab, die mein Leben retten könnte."

KOMMENTAR:

Aber die gab es nicht. Es war pures Glück, daß Paul Barney lebend in den Hubschrauber gezogen wurde. Für zehn andere war die Rettungsinsel zur Todesfalle geworden.

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Nochmal: Alle gezeigten Rettungswesten und -inseln sind vom internationalen TÜV abgenommen. Dieser Prüfung liegen allerdings Richtlinien zugrunde, die dem Sicherheitsstandard von Billigflaggenländern genügen. Da kann man nur sagen: Gute Reise.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 15.07.1999 | 21:00 Uhr