Kaschmirmantel und Krisenmanagement - Rot-grünes Chaos in Bonn

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Unsere Bundesregierung macht beim EU-Gipfel gerade eine ganz gute Figur. Und in Zeiten des Krieges haben wir gern an der Spitze einen starken Mann, einen Bundeskanzler, der uns ein Gefühl von Besonnenheit und Kompetenz vermittelt - zumindest außenpolitisch. Innenpolitisch hat uns der Kanzler immer klarzumachen, daß er die Sache der modernen Sozialdemokratie am besten vertreten kann. Aber jetzt, nach so einigen Rückschlägen, verstärkt sich der Eindruck der Orientierungslosigkeit. Der Kanzler hat Richtlinienkompetenz, leider fehlt im Moment die Richtlinie. Meine Kollegen haben sich das noch einmal genauer angesehen.

Rot-grünes Chaos in Bonn
Ein Bericht von 1999 über die rot-grüne Bundesregierung - der Eindruck der Orientierungslosigkeit verstärkt sich.

KOMMENTAR:

Der Auftritt auf dem roten Teppich liegt ihm. Ob NATO-Angriff oder EU-Gipfel, Schröder als präsentierender Staatsmann. Für kurze Zeit ist er Welten entfernt vom rot-grünen Chaos der letzten Wochen. Weg von Umweltminister Jürgen Trittin. Dessen Nerven liegen blank. Hatte der doch das rot-grüne Reformprojekt kurzerhand für tot erklärt.

Weg ist Schröder auch vom untreuen Weggefährten Oskar, für den das rot-grüne Projekt zwar noch lebt, aber nur als Witz. Der mächtigste Minister tritt ab, für Schröder kein Problem.

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GERHARD SCHRÖDER:

(Bundeskanzler)

"Ich verspür' nichts von der Krise, oder sehen Sie mich in Krisenstimmung? Es gibt keine Krise, also braucht sie auch keine Zeit."

KOMMENTAR:

Irgendwie läuft alles weiter, suggeriert er, trotz aller Pannen.

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HENNING VOSCHERAU:

(ehem. Bürgermeister Hamburg, SPD)

"Der Start der ersten 170 Tage ist verkorkst, mit Gegacker und internem Hickhack."

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PROF. JÜRGEN FALTER:

(Politologe)

"Ich sehe eigentlich zwei Mängel in der Arbeit Schröders. Das erste ist eine konzeptionelle Schwäche, es ist ihm bisher nicht gelungen, Konzeptionen klarzumachen. Man ist sich nicht darüber im klaren, hat er welche oder hat er keine. Wenn er welche hat, verbirgt er sie, wartet er ab. Die zweite große Schwäche ist eine Führungsschwäche im Vorfeld von Entscheidungen. Das heißt, er versucht im nachhinein zu verbessern, aber nicht im Vorfeld zu steuern."

KOMMENTAR:

Statt dessen immer wieder der große Auftritt bei den vermeintlichen Freunden aus der Industrie. Wenig Programm, aber schöne Sprüche für die Journalisten.

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GERHARD SCHRÖDER:

"Ich bin ja Kanzler aller Autos."

KOMMENTAR:

Sein jüngstes Kabinettsstückchen: Einer neuen europäischen Recyclingverordnung hatte Schröders Regierung schon zugestimmt. Die Industrie sollte gezwungen werden, Altautos kostenlos zu entsorgen. Jetzt die Kehrtwende. Schröder stoppte in Brüssel das Gesetz. Sein Freund, VW-Chef Piech, hatte in einem Brief an den Kanzler über die Kosten geklagt. Die europäischen Nachbarn sind brüskiert.

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MARTIN BARTENSTEIN:

(Umweltminister Österreich)

"Also aus Sicht eines christdemokratischen österreichischen Umweltministers wundert einen das alles, weil insgesamt man ja bei einem Wechsel zu einer rot-grünen Koalition alles mögliche erwartet, aber ganz sicherlich nicht einen Schwenk in eine Richtung, wo dann auf fast Zuruf aus der Industrie der deutsche Kanzler, noch dazu in der Sache aus meiner Sicht nicht gerechtfertigterweise, direkt eingreift, eine politische Einigung aufmacht, einen gefährlichen Präzedenzfall schafft."

KOMMENTAR:

Tiefe Ratlosigkeit über Schröders Inhalte herrscht auch bei allen großen innenpolitischen Themen, sei es der Ausstieg aus der Atomenergie, das Rentensystem oder die Steuerreform.

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PROF. JÜRGEN FALTER:

(Politologe)

"Es gibt schon wieder sozusagen das Sperrfeuer der Mehrwertsteuererhöhung oder nicht Mehrwertsteuererhöhung, der tausend Pläne und Vorstellungen. Das heißt, hier ist immer noch keine ordnende Hand zu spüren.

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THOMAS GOTTSCHALK:

(Sendung "Wetten, daß....")

"Herzlich willkommen, unser Bundeskanzler Gerhard Schröder."

KOMMENTAR: So dürftig die Resultate von Schröders Politik auch sein mögen, in den Medien ist er ein Star. Der Kanzler als Selbstdarsteller, den Fernsehkameras geradezu magisch anziehen.

Vor ein paar Tagen in Bonn: Präsentation eines Buches über die Kanzler der Republik. Schröder ist in seinem Element und verströmt gefällige Selbstironie.

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GERHARD SCHRÖDER:

"Sie werden verstehen, daß ich beim Durchblättern Ihres Buches natürlich zu allererst gesucht habe, wo ich denn stehe, das ist ja keine Frage."

KOMMENTAR:

Auftritte als Dressman sind ihm keinesfalls peinlich. Legendär inzwischen der Titel einer Illustrierten: Schröder der Lifestyle-Kanzler.

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PROF. JÜRGEN FALTER:

(Politologe)

"Das Amt des Bundeskanzlers ist ein Amt, das nach einer bestimmten Würde in der Darstellung verlangt. Das muß nicht gravitätisch sein, aber es muß ganz klar so sein, wie etwa Roman Herzog das Bundespräsidentenamt ausgefüllt hat. Das heißt, man tingelt nicht bei jeder Show, man tritt nicht in jedem Hochglanzmagazin auf, sondern man muß eine gewisse Distanz wahren. Diese gewisse Distanz, da besteht die Gefahr, daß Schröder sie verliert."

KOMMENTAR:

Und Schröder ist auch schon dabei, Glaubwürdigkeit bei den Wählern zu verlieren. Im Auftrag von PANORAMA fragte Infratest-dimap: Liegen die Stärken des Kanzlers in der Sachkompetenz oder im persönlichen Auftreten? Nur 12 Prozent aller Deutschen sehen die Stärke des amtierenden Bundeskanzlers im politischen Sachverstand, aber 59 Prozent nennen sein persönliches Auftreten. Der Rest ist unsicher. Selbst von SPD-Anhängern bekommt Schröder ein schlechtes Zeugnis: Nur 21 Prozent loben seinen Sachverstand, 51 Prozent sehen seine Stärke im Auftritt.

Die andere Gallionsfigur von Rot-Grün, Oskar Lafontaine, demonstriert unterdessen eindrucksvoll, daß er jetzt nur noch Privatmann und Genußmensch ist.

Ein paar Rindviecher in einem Kleinbauernhof im Saarland. Vor drei Wochen hat Oskar sie besucht. Er hat offenbar Interesse, diesen Bauernhof zu kaufen. Und der Besitzer auf der Alm staunt, was der Ex-Finanzminister mit seinem Hof will.

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BAUER:

"Das hat mich schon überrascht, aber man weiß nicht, was in den Leuten vorgeht."

KOMMENTAR:

Mit den neuen Nachbarn hier ist gar nicht gut Kirschwassertrinken. Bettel hinwerfen gilt hier nicht.

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GASTWIRTSCHAFT:

"Jetzt geht er hin und verläßt das sinkende Schiff, also so schnell, da war ich enttäuscht. Richtig schlimm ist mir das vorgekommen, wo da so viele Leute, wo auf ihn gesetzt haben."

"Ein Bauer Lafontaine - glaube ich nie, niemals im Leben. Der kann Schafe hüten oder sonstwas, aber mehr auch nicht."

KOMMENTAR:

Minister Lafontaine an seinem letzten Amtstag letzte Woche. Ganz der alte, völlig ungerührt von jeder Kritik an seinem Rücktritt.

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OSKAR LAFONTAINE:

(Ex-Bundesfinanzminister)

"Also doch unglaublich, wieviel Zuspruch man erhält, und dafür bin ich sehr dankbar. Ansonsten ist das kein schwerer Gang. Danke schön."

KOMMENTAR:

Die Doppelspitze Lafontaine und Schröder, das war eine Inszenierung für die Wähler. Der Parteivorsitzende wußte, er muß weg.

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HENNING VOSCHERAU:

(ehem. Bürgermeister Hamburg, SPD)

"Und da er ja seit drei Jahren sehr diszipliniert hat, kann man es sich nicht anders erklären, als daß er verhindern wollte, daß die beiden Lokomotiven auf demselben Gleis aufeinanderprallen. Ich tue mich schwer damit, ihn zu verurteilen, so unannehmbar es zweifellos ist, aus Saarbrücken ohne Erklärung und per Fax zu sagen: Das war's jetzt."

KOMMENTAR:

Für ihn hätt's das eigentlich auch schon längst sein können. Umweltminister Trittin am Montag auf dem Weg zur Krisensitzung der Grünen. Alle wundern sich, wie schnell der Kurzzeit-Minister Rot-Grün für tot erklärt hatte.

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HENNING VOSCHERAU:

"Es gibt Dinge, die man einfach nicht machen kann. Und Sie können nicht nach einem Vierteljahr von vieren erklären, daß die Regierung, die Sie gerade gebildet haben, keine Zukunft habe. Dann müssen Sie die Konsequenz ziehen und sagen: addio."

KOMMENTAR:

Aber nix addio, noch halten die Grünen Trittin im Amt. Der Minister versteht bis heute nicht, was er falsch gemacht hat.

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INTERVIEWER:

"Hat die Kritik der letzten Tage Sie beeindruckt?"

JÜRGEN TRITTIN:

(Umweltminister, Die Grünen) ".... kann mich auch nicht beeindrucken."

KOMMENTAR:

Und auch an seinem Kanzler perlen alle Vorwürfe ab. Er ist Staatsmann, und bei großen Staatsmännern gibt es keine Regierungskrisen.

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INTERVIEWER:

"Herr Bundeskanzler, wie ist denn heute der Stand der Regierungskrise?"

GERHARD SCHRÖDER:

"Ihr müßt wenigstens ordentlich fragen lernen."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Der Kollege hat ordentlich gefragt, nur sind diese Fragen halt ziemlich unbequem.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 25.03.1999 | 21:00 Uhr