Bittere Bilanz - Forscher wirft Ostdeutschen Faulheit und Raffgier vor

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Woran liegt es, daß die Bundesregierung ihr Wahlversprechen nicht einhalten kann? Mehr Arbeitsplätze wird es in Deutschland auf absehbare Zeit nämlich nicht geben. Es ist der Osten, der Osten gilt inzwischen als eine, eine wichtige Bremse, als Würgegriff für den Arbeitsmarkt. Seit 1990 ist aus dem Westen Deutschlands mehr als das Sechsfache der gesamten Marshallplanmittel in den Osten geflossen. Ein Wirtschaftswunder oder auch ein nur annähernd vergleichbarer Effekt ist bisher ausgeblieben. Solche Erkenntnisse passen nicht gerade zum Jubiläum, zum zehnjährigen Mauerfall. Den schlechtesten Gratulanten für die Jubelfeier stellt Ihnen jetzt Ralf Kaiser vor, einen Soziologen aus Hannover, der das ausspricht, was viele nur denken.

Forscher wirft Ostdeutschen Faulheit vor
Soziologe Thomas Roethe wirft den Ostdeutschen vor, westliche Werte angenommen zu haben, aber nicht dafür zu arbeiten.

KOMMENTAR:

Als die Mauer fiel, freuten sich alle. Doch heute, zehn Jahre später, bläst den Ostdeutschen eisiger Westwind entgegen. Ein Wissenschaftler aus Hannover rechnet ab.

0-Ton

DR. THOMAS ROETHE:

(Soziologe)

"Mein Plädoyer für das Ende der Schonfrist heißt, daß wir endlich anfangen müssen, die Debatte zu führen, wie wir die ostdeutsche Bevölkerung dahin kriegen, daß sie endlich anfängt zu arbeiten."

KOMMENTAR:

Dr. Thomas Roethe hat Ostdeutschland vielfach bereist, im Auftrag der Europäischen Union, der Volkswagen-Stiftung und anderer Einrichtungen. So hat er den Osten kennengelernt. In hunderten von ausführlichen Einzelinterviews hat er die Mentalität der Bürger erforscht. Sein Befund: Viele Ostdeutsche hätten zwar westliche Werte angenommen, aber die große Mehrheit hänge der Versorgungsmentalität der DDR nach. Der Wissenschaftler kritisiert besonders die Einstellung zur Arbeit.

0-Ton

DR. THOMAS ROETHE

(Soziologe)

"Arbeit war eine soziale Veranstaltung, bei der man sich traf und über alles sprach, aber das Ergebnis war nur von sekundärer Bedeutung. Und diese Haltung erbt sich von Generation zu Generation fort, und es ist vom Westen bis dato nichts unternommen worden, diese Interpretation von gesellschaftlicher Arbeit zu zerstören."

KOMMENTAR:

Arbeit also eher ein geselliges Beisammensein. Kein Leistungsdruck und kein Streben nach Profit wie in der kapitalistischen Marktwirtschaft, analysiert der Forscher. Befreit von der Fron der Arbeit, eben faul, so sein Fazit. So seien sie in der DDR aufgewachsen, und so seien die meisten Ostdeutschen heute noch.

0-Ton

DR. THOMAS ROETHE:

"Lethargisch und verschreckt und gleichzeitig sehr gut abgefedert und gepampert."

KOMMENTAR:

Gepampert in der sozialen Hängematte, meint Thomas Roethe, und verlangt, daß die Ostdeutschen ihre Einstellung ändern. Soziale Gerechtigkeit in Deutschland wäre nun, wenn die Menschen im Osten endlich anfingen, so zu malochen wie die Westdeutschen.

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DR. THOMAS ROETHE:

"Die Ostdeutschen sitzen da wie Sozialismus-Junkies und warten auf die nächste Finanzspritze. Die Opfer sind ganz klar die westdeutschen produktiven Arbeiter und Beschäftigten, die die Summen erwirtschaftet haben, die in den Osten fließen, um dort den Aufbau zu finanzieren."

KOMMENTAR:

1,2 Billionen Mark aus dem Westen haben die neuen Länder schon erhalten. Doch das viele Geld, meint der Forscher, habe die Mentalität in den Köpfen noch nicht genug verändert. Er fordert mit harten Worten "Um-Erziehung".

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SCHÜLER:

"Frau Engelmann, ich melde: Klasse 7b ist zum Deutschunterricht bereit, Viola Stein und Steffen Krause fehlen."

LEHRERIN:

"Danke schön."

KOMMENTAR:

Doch was im DDR-Klassenzimmer eingetrichtert wurde, das lasse sich nicht so schnell gegen eine neue Gesinnung eintauschen. Am besten, meine der Wissenschaftler, die Umerziehung begänne schon in der Kinderkrippe. Hier sei der Wille zur Leistung früh genug zu verabreichen. So könnte die innere Einheit dann doch irgendwann entstehen. Denn Roethe bringt sein Rezept auf die für ihn einfache Formel:

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DR. THOMAS ROETHE:

"Nicht mehr Geld verlangen, sondern mehr arbeiten."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Das ist einseitig, provokant und bisweilen auch polemisch. Für PANORAMA nur der Auftakt zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema "10 Jahre Mauerfall". In den kommenden Tagen und Wochen werden Sie dazu vermutlich viel hören, sehen und lesen. Bei uns gibt es heute in drei Wochen den nächsten Diskussionsbeitrag, dann - aus Gewogenheit - natürlich aus östlicher Sicht.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 23.09.1999 | 21:00 Uhr