Falsche Zahlen, falsche Prognosen - Die Wahrheit über den Arbeitsmarkt

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Alles wird wieder gut. Das könnte man zumindest annehmen, wenn man die neuesten Arbeitsmarktzahlen betrachtet und vor allem die Interpretationen dazu vernimmt: Der Aufschwung ist endlich da, heißt es. Unsere Regierung hat’s geschafft und nun: Weiter so, Deutschland. Das wünscht sich der Kanzler und seine Gefolgschaft. Der Aufschwung sei nicht nur da, sondern auch schon seiner, behauptet aber auch Kohls Herausforderer Gerhard Schröder in markanter Selbstüberschätzung. Beide schüren die Hoffnung, die Misere der Massenarbeitslosigkeit sei nur ein vorübergehendes Phänomen. Aber das ist - leider - nur Wählertäuschung, derber gesagt: reine Volksverdummung. Meine Kollegen haben sich um die triste Wahrheit auf dem Arbeitsmarkt gekümmert.

Die Wahrheit über den Arbeitsmarkt
Was hat es mit den offiziellen Arbeitsmarktzahlen während des laufenden Bundestagswahlkampfes 1998 tatsächlich auf sich?

KOMMENTAR:

In den Zeiten des Wahlkampfes gibt’s kaum Wichtigeres, Journalisten balgen sich um die aktuellen Arbeitsmarktzahlen. Neue Arbeit verkündet die Bundesregierung dem Volk, und die Bekanntgabe der Zahlen besorgt jetzt der Regierungssprecher höchstpersönlich, garniert mit Erfolgsgetöse.

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OTTO HAUSER: (Regierungssprecher, 3.7.98)

"Die Zahlen beweisen es ganz deutlich: Der wirtschaftliche Aufschwung gewinnt an Breite und an Dynamik."

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HELMUT KOHL: (Bundeskanzler)

"Das heißt, wir kommen gut voran. Ich behaupte, wir werden im Herbst dieses Jahres - das ist auch ein guter Termin - die vier Millionenzahl unterschreiten."

KOMMENTAR:

London. Hier sitzen die wichtigsten Rating-Agenturen der Welt. Sie beurteilen den Zustand europäischer Volkswirtschaften. Kohls Prognose von unter vier Millionen Arbeitslosen fällt glatt durch.

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OLAF WEEKEN: (Analyst Agentur "Ideal")

"Das Problem ist nur, daß ich bis zum Ende des Jahres normalerweise noch keine Drei vor dem Komma sehen kann, die der deutsche Arbeitsmarkt aus eigener Kraft schaffen kann."

KOMMENTAR:

Großbanken in aller Welt verlassen sich auf das Urteil dieser Finanzexperten, und die mahnen in ihren Berichten zur Vorsicht gegenüber der deutschen Aufschwungeuphorie.

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NATASCHA GEWALTIG: (Analystin Agentur "H.E.L.P.")

"Man muß immer darauf hinweisen, daß wir im September eine Wahl haben in Deutschland und daß vieles an diesen Zahlen natürlich jetzt auf die Wahl ausgerichtet ist, das heißt, die Aktionen der Bundesregierung auf die Wahl gerichtet sind."

KOMMENTAR:

Und der Wahlkampf in Deutschland geht jetzt in seine heiße Phase. Der Aufschwung sei da, neue Arbeit schon geschaffen, tönt der Regierungssprecher.

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OTTO HAUSER: (Regierungssprecher, 3.7.98)

"Die Zahl der Beschäftigten hat weiter deutlich zugenommen. Im Juni waren 120.000 Arbeitslose weniger registriert als im Vormonat."

KOMMENTAR:

Weniger Arbeitslose, das heißt: immer mehr Beschäftigte, so schwadroniert Ökonom Hause.

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OTTO HAUSER

"Die Abnahme der Arbeitslosenzahl korrespondiert automatisch mit der Zunahme der Beschäftigung."

KOMMENTAR:

Der Mann hat offenbar keine Ahnung. Die offiziellen Zahlen sprechen eine ganz andere, erschreckende Sprache. So hat sich über die letzten Monate die Zahl der Arbeitslosen zwar verringert: um 160.000, doch bis zur letzten Erhebung im April zeigt die Statistik nicht, daß diese Arbeitslosen einen neuen Job gefunden haben. Die Zahl der Menschen in Lohn und Brot blieb gleich.

In der Forschungsabteilung der Bundesanstalt für Arbeit fragt man sich, wo die Arbeitslosen geblieben sind. Mit dem vermeintlichen Aufschwung habe das nichts zu tun, erklärt uns der Leiter des Instituts. Vielmehr gingen immer mehr Arbeitslose in Rente, und immer weniger Ausländer kämen zum Arbeiten nach Deutschland. Dadurch nehme die Zahl der Arbeitskräfte ab.

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PROF. GERHARD KLEINHENZ: (Bundesanstalt für Arbeit)

"Dieser Rückgang des Erwerbspersonenpotentials durch die Alterung wird jetzt nicht mehr in dem Maße kompensiert durch Zuwanderung, wie das früher der Fall war. Wir rechnen damit, daß das im Jahresverlauf etwa 170.000 Minderung des Potentials ausmacht."

KOMMENTAR:

Minderung des Potentials, das heißt: die Arbeitslosigkeit fällt, weil immer weniger Arbeitskräfte nach Jobs suchen. Eine zweite Ursache liegt in ein paar kleinen, aber feinen Änderungen im Sozialgesetzbuch. Sie wirken sich besonders in den 181 Arbeitsämtern im ganzen Land aus. Die Empfänger von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe müssen sich seit dem 1. Januar alle drei Monate erneut auf dem Amt melden. Persönliches und rechtzeitiges Erscheinen ist Pflicht, sonst stellt die Behörde ohne Vorwarnung die Zahlung ein. Der Computer registriert automatisch jeden Säumigen. Seit April, so sagen die Arbeitsberater, hat es auf diese Weise zahlreiche Abgänge aus der Statistik gegeben. Die Leistungsempfänger bekommen es oft nicht mit, wenn dieser Paragraph sie wieder aus dem Rennen wirft.

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MANFRED DETERING: (Arbeitsloseninitiative Hamburg)

"Es kann sein, daß Arbeitslose es gar nicht merken, daß sie die Frist versäumt haben, sie sehen das erst am Ende des Monate, wenn sie auf ihren Kontoauszug gucken, und dann sehen, daß sie weniger Geld oder Hilfe bekommen haben. Sie fallen aber auch gleichzeitig aus der Statistik raus."

KOMMENTAR:

Wie stark das neue Gesetz die Arbeitslosenstatistik schönt und säubert, hat die Bundesanstalt für Arbeit bisher nie öffentlich gesagt. Ganz zögerlich und stockend legt der Chef des Forschungsinstituts das Ausmaß im Gespräch offen.

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PROF. GERHARD KLEINHENZ: (Bundesanstalt für Arbeit)

"Also, dann muß ich die Grenze etwas reduzieren, also wir kommen da auf 17.000 maximal oder so."

KOMMENTAR:

17.000 Arbeitslose weniger durch einen statistischen Trick - aber die CDU schwärmt unverdrossen vom Aufschwung.

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HELMUT KOHL: (Bundeskanzler)

"Ganz, ganz wichtig ist, daß sich die Prognose deutlich herausstellt, daß wir im Bereich der Arbeitsplätze wesentlich bessere Situation haben. Die Zahl der Arbeitslosen ist in den letzten vier Monaten um 740.000 zurückgegangen."

KOMMENTAR:

740.000 Arbeitslose weniger, das hört sich gut an. Aber unverfroren hat die Regierung in diese Erfolgsbilanz 580.000 Jobs eingerechnet, die es jedes Jahr gibt, saisonbedingt. Wenn das Wetter schöner wird, gibt es mehr Arbeit auf dem Bau und auf den Feldern. Mit Politik hat das gar nichts zu tun, und im Winter sind diese Jobs wieder weg.

Übrig bleiben nur 160.000, und auch die haben wenig mit Aufschwung zu tun. Der Löwenanteil davon geht auf das Konto milliardenschwerer Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Regierung pünktlich zum Wahljahr. Dann folgt der Rückgang der Arbeitskräfte aus Altersgründen und schließlich die Folgen des neuen Meldegesetzes. Tatsächlich gibt es auch einen Aufschwung: Nach wohlmeinenden Schätzungen der Nürnberger Forscher sind das allenfalls 10.000 neue Arbeitsplätze. Das sind die Fakten, der Rest ist Wahlkampf.

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HELMUT KOHL:

"Das heißt, wir kommen gut voran."

KOMMENTAR:

Als objektives Institut hat der Kanzler die Nürnberger Forschungsstelle erst kürzlich gepriesen. Die von Helmut Kohl beschworene Trendwende sieht man hier noch nicht.

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PROF. GERHARD KLEINHENZ: (Bundesanstalt für Arbeit)

"Ich selbst habe also den Begriff der Trendwende eigentlich noch nicht gebraucht, sondern ich denke, wir müssen auf die Beschäftigung schauen. Selbst im besten sind wir eben noch auf einer stabilen Talsohle. Aber wir haben noch nicht sozusagen die aktuelle Information, daß es wirklich aufwärts geht."

KOMMENTAR:

Aber solche Zweifel plagen die Wahlkampfstrategen der Union nicht.

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HELMUT KOHL:

"Jetzt haben wir 720.000 neue Stellen für Arbeitslose."

KOMMENTAR:

720.000 neue Stellen - ist das eine redliche Zahl?

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PROF. GERHARD KLEINHENZ:

"Ich habe nicht zu beurteilen, was die Politik für redlich hält."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Das ist nicht redlich. Aber die Aufschwung-Jubelmeldungen passen eben besser ins Wahlkampfkonzept.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 16.07.1998 | 21:15 Uhr