Empörte Kunden, frustrierte Mitarbeiter - Das Chaos bei der Deutschen Bahn

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Über’s Bahnfahren zu schimpfen, ist schon fast zu einfach: Die Züge sind unpünktlich und zu voll, die Tarife sind für normal Begabte nicht mehr zu durchschauen. Der Service ist schlecht oder gar nicht vorhanden. Kurzum: das Image ist miserabel, und fast jedes Klischee stimmt. Noch vor wenigen Tagen schrieb Bahnchef Johannes Ludewig seinen Mitarbeitern, nun müsse endlich "ein Ruck" durch das Unternehmen gehen. Der Ruck und so mancher Zug blieben bisher aus und die "Reisewelt auf hohem Niveau", die die Bahn-AG uns so gern verkaufen wollte, auch.

Chaos bei der deutschen Bahn - alles wie immer
Das Image der Deutschen Bahn AG unter der Führung ihres Vorstandsvorsitzenden Johannes Ludewig ist miserabel.

Eine Menge Mißmanagement - darüber berichten jetzt Nicola von Hollander und Stephan Wels. Sie sind in den vergangenen Tagen viel mit dem Zug gereist.

KOMMENTAR:

Bund und lustig, so feiert sich das Unternehmen Zukunft. Eine Lok, bemalt mit Mickey-Mäusen wird auf Gleis gesetzt, und der Vorstandsvorsitzende herzt einen neuen Freund. Spaß muß sein, und der Boss ist stolz auf Service und Präzision seines modernen Dienstleistungsunternehmens.

0-Ton JOHANNES LUDEWIG:

(Vorstandsvors. Deutsche Bahn AG)

"Die deutsche Bahn ist ziemlich pünktlich. Wenn Sie mal hier die Werte angucken an den Bahnhöfen, die haben wir ja überall extra ausgeschildert. Macht übrigens kein Unternehmen, nicht mal die Lufthansa, niemand macht das, nur wir. Wir schreiben an jedem großen Bahnhof unsere Pünktlichkeitswerte auf. Und wenn Sie mal sehen, wir haben im Moment Werte, die auf jeden Fall in den 80 Prozent liegen."

KOMMENTAR:

In der Tat, auf Ludewigs Tafeln ist der Zustand des Unternehmens dokumentiert. Seit einem Jahr ist er im Amt. Vollmundig kündigte er an, die Bahn wolle erreichen, daß 95 Prozent aller Züge pünktlich sind. Aber an diesem Bahnhof etwa liegt der Tageswert im Fernverkehr nur bei rund 80 Prozent. Anders als im Interview hat Ludewig die derzeitige Situation in einem Brief an die Mitarbeiter heftig beklagt. Der aktuelle Zustand ist nicht akzeptabel, so schrieb er. Es muß also ein Ruck durch das Unternehmen gehen. Was Ludewig intern kritisiert, prangert die Gewerkschaft öffentlich an.

0-Ton NORBERT HANSEN:

(Gewerkschaft der Eisenbahner)

"Also, der Pünktlichkeitsgrad ist zunehmend schlechter geworden in den letzten Monaten und inzwischen so schlecht, daß es gegenüber den Kunden nicht mehr zu vertreten ist. Und es muß dringend etwas geändert werden."

KOMMENTAR:

Abenteuer Bahnfahren. Der ICE Frankfurt-Mannheim. Am Freitag nachmittag genießen wir das Leben in vollen Zügen. Keiner murrt, obwohl die Stimmung doch eher gedämpft ist. Alle erfahren hier am eigenen Leib: Die Bahn hat den ersten Schritt zum gewinnorientierten Privatunternehmen getan. Auf engstem Raum erwirtschaftet sie höchste Erträge. Geschäftsleute können hier die segensreichen Wirkungen eines Monopols studieren.

0-Ton INTERVIEWERIN:

"Was haben Sie denn zum Beispiel für so eine Karte bezahlt?"

FAHRGAST:

"Für eine Jahreskarte zwischen Karlsruhe und Frankfurt 4.600 Mark."

INTERVIEWERIN:

"Und ist es immer hier so auf dieser Strecke?"

FAHRGAST:

"Man kann nicht sagen immer, aber immer öfter."

KOMMENTAR:

Nicht auf allen Strecken ist es so voll. Am gleichen Tag sind wir von Hamburg nach Frankfurt unterwegs. Entspanntes Bahnfahren, aber dann geht plötzlich ein Ruck durch das Unternehmen. Der Zug steht, das Material ist alt.

Vorne in der Lok sitzt Peter Roß. Viele Überstunden hat er angesammelt, nachdem etliche seiner Kollegen wegrationalisiert wurden. Sparmaßnahmen auch bei der Technik. Die Lokomotiven werden seltener als früher gewartet. Da liegen die Ursachen für die Pannen, meinen viele, und nicht bei den Mitarbeitern.

0-Ton INTERVIEWERIN: "Worüber ärgern Sie sich am meisten?"

LOKFÜHRER:

"Am meisten, daß auf dem Personal rumgetreten wird, daß immer, wenn irgendwas falsch läuft oder schief läuft, ist das Personal unten an der Basis die Schuldigen. Und der Vorstand schiebt das halt nach unten ab. Das ist, wie gehabt, nach oben buckeln und nach unten treten."

KOMMENTAR:

Wir sind am Frankfurter Hauptbahnhof angekommen und wollen nach Worms weiterfahren. Aber an Gleis 17 ist plötzlich Endstation. Warum, weiß eigentlich keiner so recht. Die Stimmung am Bahnsteig ist nicht gut.

0-Ton INTERVIEWER:

"Guten Tag, eine Frage: Wir machen hier eine Reportage über die Verspätungen bei der Deutschen Bahn, haben Sie ein Problem damit?"

MANN:

"Seit Wochen habe ich das."

INTERVIEWER:

"Seit Wochen? Und wie sieht es aus?"

MANN:

"Katastrophe."

FRAU:

"Es kommt mitunter vor, daß Sie sich abends gar nichts vornehmen können. Oder wenn Sie jetzt Termine planen -

FRAU:

"- muß man eine Stunde minimal noch mal einplanen."

KOMMENTAR:

Hartnäckig versuchen alle, die Ursache dieser Panne zu ergründen.

0-Ton INTERVIEWER:

"Woran liegt’s denn?"

BAHNANGESTELLTER:

"Ich weiß es nicht, ich kann es Ihnen nicht sagen. Bei uns liegt’s nicht, also wir sind fahrbereit. Wir sollten 21 fahren."

INTERVIEWER:

"Aber Sie müssen doch wissen, woran es liegt."

BAHNANGESTELLTER:

"Ich weiß es nicht, ich kann es Ihnen nicht sagen."

INTERVIEWER:

"Und was ist denn jetzt hier zum Beispiel los?"

BAHNANGESTELLTER:

"Kein Kommentar."

INTERVIEWER:

"Kein Kommentar?"

KOMMENTAR:

Dann eine Erklärung, die immer stimmt und alle Kunden zum Schweigen bringt.

0-Ton BAHNANGESTELLTER:

"Ja, das ist betriebsbedingte Verspätung. Ich hab’ da nachgeschaut, ich wollte mich auch informieren, und da stand: betriebsbedingte...."

INTERVIEWER:

"Aber was ist eine betriebsbedingte Störung?"

BAHNANGESTELLTER:

"Das ist leider so, da kriegen wir auch so eine Information, und so Konkretes wissen wir auch nicht. Das ist leider so."

KOMMENTAR:

Das sogenannte Call Center in Schwerin. Die Luft schwirrt vom Zorn der Kunden. Hier spricht die Bahn mit ihren Opfern. Aber so modern, wie sie jetzt ist, vermeidet sie den banalen Begriff der Beschwerde.

0-Ton INTERVIEWER:

"Das ist ja kein Beschwerde-Telefon, sondern das heißt ja anders. Wie ist das zu verstehen?"

FRAU:

"Beschwerde-Hotline, Qualitäts-Hotline."

KOMMENTAR:

Qualitäts-Hotline. Dreckige Toiletten, Verspätungen, unfreundliche Schaffner, alles wird hier fein säuberlich notiert. Was ist denn passiert, oh, tut uns leid, das nehmen wir auf. Die Wut der Kunden gerinnt zur Aktennotiz. Wir erleben, wie ein Reisender in Stendal gestrandet ist.

0-Ton REISENDER:

"Ich muß jede Woche pendeln, und ich habe hier ständig Verspätung, ob ICE, ob IC, ob Interregio. So, und was mache ich jetzt? Jetzt sitze ich in Stendal, und ich muß hier noch über eine Stunde warten."

BAHNANGESTELLTE:

"Wo müssen Sie hin?"

REISENDER:

"Nach Rostock."

BAHNANGESTELLTE:

"Nach Rostock - ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen, ich kann Ihnen nur die Telefonnummer geben von der fernmündlichen Reiseauskunft, weil für solche Sachen - ich würde Ihnen gerne helfen, aber ..."

REISENDER:

"Die Auskunft nützt mir nichts, ich weiß, wie ich dahin komme. Aber ich bin zwei Stunden später zu Hause, und dann? Wer bezahlt uns diese ganzen Verspätungen. Auch der Arbeitgeber, wenn ich da später komme...."

BAHNANGESTELLTE:

"Also ich mache folgendes: Ich kann einfach nur Ihre Beschwerde aufnehmen. Das wird dann nach Frankfurt weitergefaxt, und Frankfurt wird sich dann mit Ihnen in Verbindung setzen."

KOMMENTAR:

Frankfurt, Sitz der Konzernzentrale. Hier sammeln sich Beschwerden, aber hier sammeln sich auch immer mehr Führungskräfte, deren Qualitäten als Eisenbahnmanager umstritten sind.

Der Vorstandsvorsitzende Johannes Ludewig, CDU-Mann und von Kohl auf diesen Posten gehoben. Kritiker werfen ihm Bürokratismus und fehlende Führungskraft vor.

Fernverkehrschef Axel Nawrocki, auch CDU-Mann. Zuletzt hatte er sich als erfolgloser Chef der Berliner Olympiagesellschaft blamiert.

Als Bahn-Vertreter in Brüssel fungiert CDU-Mann Werner Münch, früher Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt. Er brauchte einen neuen Job.

0-Ton NORBERT HANSEN:

(Gewerkschaft der Eisenbahner)

"Der Eindruck, daß hier nicht nach fachlichen Qualifikationen Personalpolitik gemacht worden ist, sondern nach Parteibuch, drängt sich natürlich auf, und wir haben auch in einigen Fällen bereits erste Anhaltspunkte dafür, daß die fachlichen Qualifikationen fehlen. Und das werden wir sehr kritisch weiter beobachten und in der Sache kritisieren, nicht wegen der Parteibücher. Aber ich sage noch einmal, der Eindruck drängt sich auf."

KOMMENTAR:

Frankfurt Hauptbahnhof. Hier drängen sich die Kunden am Service Point. Aber am Service hakt’s noch etwas. Diesmal ist eine Lok ausgefallen.

0-Töne REISENDE:

"Jetzt wollen wir mit diesem Zug nach Hause fahren, und dann wurde uns gesagt, die Lok ist kaputt. Die Lok wird aber nicht ausgewechselt, und jetzt werden wir weggeschickt."

"Vertröstet wurden wir, daß die Lok also ausgewechselt wird. Und das stimmt überhaupt nicht."

"Das Trug und Lug bei der Deutschen Bundesbahn."

INTERVIEWER:

"Was machen Sie jetzt?"

REISENDE:

"Die bleiben hier stehen, und wir müssen mit dem nächsten Zug fahren, der fährt eine halbe Stunde später."

INTERVIEWER:

"Ehrlich?"

REISENDE:

"Ja."

INTERVIEWER:

"Und die wollen die Lok doch nicht auswechseln?"

REISENDE:

"Das machen die doch gar nicht."

"Die stehen da vorne nur rum."

INTERVIEWER:

"Was wird mit der Lok?"

BAHNANGESTELLTER:

"Keine Ahnung, ich habe den Lokführer nicht gesprochen, keine Ahnung."

KOMMENTAR:

Ratlose Mitarbeiter, aber schließlich müssen wir begreifen: bei dieser Panne lief alles perfekt.

0-Ton INTERVIEWER:

"Es ist alles vorschriftsmäßig abgelaufen?"

OEMER PATZER;

(Reisemanager Deutsche Bahn AG)

"Jawohl, die Meldung an uns ist vorschriftsmäßig erfolgt, in dem Fall an meine Aufsichtsbeamtenkollegin. Die Meldung ging weiter an unser Stellwerk, an die Betriebsüberwachung. Und die Entscheidung war in dem Falle ganz klar: Um weitere Störungen an der Maschine zu vermeiden, Lok wird abgehängt, muß getauscht werden."

INTERVIEWER:

"Was hat man vorschriftsmäßig mit dem Kunden gemacht?"

OEMER PATZER:

"Der Zugführer hat sehr vorschriftsmäßig einen Gang durch den Zug gemacht, um die Leute persönlich zu informieren, daß der Zug vermutlich ausfallen wird, zumindest mit großer Verspätung abfahren wird. Man hat sie auf den nächsten Tag verwiesen, 19 Uhr 31 auf Gleis 4. Das ist eine sehr gute persönliche Information. Lautsprecherdurchsagen sind auch erfolgt."

INTERVIEWER:

"Waren die Kunden vorschriftsmäßig zufrieden?"

OEMER PATZER:

"Vorschriftsmäßig zufrieden kann man natürlich nicht sagen, welcher Kunde ist schon zufrieden, wenn der Zug ausfällt? Ich wäre auch nicht zufrieden, wenn ich später nach Hause komme oder später zu einem Termin komme. Aber die Kunden haben die Situation wahrgenommen, haben es akzeptiert, haben Verständnis gezeigt, aufgrund der frühzeitigen und rechtzeitigen Information."

KOMMENTAR:

Die Vorschriften befolgt, die Lok kaputt, die Kunden sauer. Prost, Herr Ludewig.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 19.11.1998 | 21:00 Uhr