Brauner Terror für den Sieg - Nazis auf Stimmenfang

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Und zurückgewichen wird nicht nur vor der Mafia. Oft geschieht das zunächst viel unspektakulärer. Es gibt Dörfer, ganze Regionen in Deutschland, in denen zum Beispiel kriminelle Rechtsradikale ungehindert pöbeln und schlagen, stehlen und sogar morden können. Die Polizei hat dort längst kapituliert, die Gerichte sind einfach überfordert. Rechtsfreie Zonen. Und die Menschen dort ducken sich, schauen weg oder reden schön - aus Angst. Realität in einigen Landstrichen Mecklenburg-Vorpommerns. Auch dort wird in zehn Tagen gewählt.

Nazis auf Stimmenfang: Brauner Terror für den Sieg
Vor der Bundestagswahl werden Wahlhelfer liberaler Parteien massiv durch kriminelle Rechtsradikale bedroht.

Meine Kollegen berichten über Angst und Ohnmacht.

KOMMENTAR:

Ein Skinhead wartet an der Ostsee auf seine Kameraden. Doch die Nazis sind noch in der Stadt unterwegs, in Wolgast. Sie kleben Plakate, für die NPD. Ihre Parole: "Wir räumen auf". Die Nazis haben alle Plakate der anderen Parteien abgerissen, wieder mal, wie so oft. Die Polizei - machtlos. Angst vor dem braunen Terror. Auch die Mitarbeiter des Bürgermeisters werden angegriffen.

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JÜRGEN KANEHL:

(Bürgermeister Wolgast)

"Es geht dahin, daß diejenigen, die für andere Parteien plakatieren, massiv bedroht werden. Es steigert sich dahingehend, daß die Mitarbeiter von unserem städtischen Baubetriebshof konkret bedroht werden. Und das ganze hat eigentlich nur die Zielstellung, Angst zu erzeugen, um zu erreichen, daß die Bevölkerung, insbesondere aber die Staatsgewalt, auch die Stadt, vor ihnen zurückweichen. Ich glaube, das ist das entscheidende Ziel, was sie anstreben."

KOMMENTAR:

Die rollende Kommandozentrale der NPD-Truppe. Mit diesem BMW fahren sie Streife durch Wolgast. Kontrolle von morgens bis abends. Mit uns reden wollen sie nicht. Fest steht: Gleich mehrere dieser NPD-Kämpfer sind wegen schwerer Gewalttaten vorbestraft: Körperverletzung, Erpressung und so weiter.

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KANEHL:

"Die Mitglieder der Skinhead-Szene sind in ihrer überwiegenden Mehrheit alle im kriminellen Milieu tätig, und man muß immer wieder sagen, daß, was weitestgehend gemacht wird, die Leute, die von Deutschtum, die von Demokratie und von Aufräumen sprechen, im großen und ganzen nichts anderes sind als in ihrer Mehrheit Gangster, Kriminelle, Verurteilte, in weiten Bereichen als viel zu wenig Verurteilte, weil die Justiz immer wieder alle Augen zudrückt."

KOMMENTAR:

Auch von der Polizei fühlen sich viele Bürger schon lange nicht mehr geschützt. Wahlkämpfer anderer Parteien haben sogar Angst um ihre Familie. Hilflosigkeit.

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CHRISTA JAEKEL:

(Jugendhaus Wolgast)

"Daß man meiner Mutter was tut oder meiner Tochter. Ich meine, wenn mir was passiert, okay, kann ich mir ja selber zuschreiben, aber die anderen, die können ja nichts dafür. Und das könnte ich mir nie verzeihen."

KOMMENTAR:

Direkt bei der Stadt Wolgast die Insel Usedom. In vielen Dörfern auf dieser Insel sind die Nazis noch einen Schritt weiter. Hier haben fast alle Bewohner den Widerstand aufgegeben, haben sich angepaßt. Die gewalttätigen Skinheads im Ort haben sie zum Schweigen gebracht.

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PASSANTEN:

"Das sagen wir nichts zu, sonst werden wir selber unter Druck gesetzt. Nee, nee, da lassen wir unsere Finger von. Wir sagen da nichts. Die sehen uns nachher im Fernsehen, und dann sind wir dran, und dann steht unser Haus auch in Flammen."

"Ich sag’ da nichts drüber, nichts."

"Nee, nee, da sage ich nichts."

"Ich sage, die Bürger werden Ihnen kaum die Wahrheit sagen, um am nächsten Tag noch am Leben zu sein."

"Sie müssen hier nicht leben."

KOMMENTAR:

Niemand legt sich mit den rechten Skinheads hier an. Viele haben sich an die neuen Verhältnisse gewöhnt. Hier haben die Rechten das Kommando schon fast übernommen.

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JÜRGEN KANEHL:

(Bürgermeister Wolgast)

"Mir persönlich macht es eigentlich schon Angst, ja, weil ich im Moment nicht einschätzen kann, ob es gelingt, diese Szene in den Griff zu kriegen."

KOMMENTAR:

Ein paar Kilometer weiter. Auch hier brauner Terror. Das Opfer: ein Bundeswehrsoldat. Er hat Angst, will deshalb nicht erkannt werden.

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BUNDESWEHRSOLDAT:

"Dann tauchten sechs ... auf, und die haben uns dann einfach zusammengeschlagen. Und dann wurde bloß noch mit Stiefeln zugetreten, also jetzt gegen Kopf, Rippen und Beine."

KOMMENTAR:

Die Vorpommern- Kaserne in Eggesin. Hier ist der Soldat stationiert. Haben sich die Nazis bei der Wahl ihres Opfers einfach nur geirrt?

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ERNST LUTZ:

(Brigadegeneral)

"Es war kein Einzelfall. Diese Dinge sind auch letztes Jahr schon vorgekommen, wo junge Soldaten auf dem Heimweg zur Kaserne auf irgendwelchen Feldwegen, auf Abkürzungen oder ganz einfach auf ganz normalen Straßen angepöbelt, angerempelt und dann auch geschlagen worden sind. Und wenn Sie in die Zeitung sehen, dann sehen Sie, daß andere Bevölkerungsgruppen wir Urlauber und Menschen, die irgendwo unterwegs sind, genauso angegriffen werden. Ich glaube nicht, daß wir als Soldaten eine besondere Zielgruppe sind, aber wo die Gelegenheit sich ergibt, da wird das schon auch mitgenommen."

KOMMENTAR:

Einige Soldaten in Eggesin haben jetzt Angst, auch das Opfer des letzten Überfalls.

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ERNST LUTZ:

"Man muß auch respektieren, wenn er selber es vorzieht, nicht erkannt zu werden, das ist seine Entscheidung, und ich kann die durchaus nachvollziehen. Er will schließlich die Zeit hier in dieser Region für sich vollends heil überstehen."

INTERVIEWER:

"Haben die Soldaten hier denn Angst?"

ERNST LUTZ:

"Ja, Angst ist auch dabei."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Der Bürgermeister in Wolgast bekommt seit dem Interview, das er uns gegeben hat, regelmäßig Todesdrohungen. Man versucht, ihn einzuschüchtern. Nachts stehen Skinheads in seinem Garten, Glatzköpfe haben versucht, seinen Sohn zusammenzuschlagen. Doch der Bürgermeister will sich nicht mundtot machen lassen. Er will, daß sich - nicht nur in Wolgast - endlich etwas ändert.

Wir haben Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Bernd Seite zum Rechtsradikalismus in seinem Land befragt. Er erklärte kurze Haare für einen - so wörtlich - "Modetrend", die Rechten für eine "verschwindende Minderheit", und Statistiken, die anderes aussagen, nannte er "einseitig".

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 17.09.1998 | 23:00 Uhr