Angst vor der Wahrheit - Eine Gemeinde nach dem Speicheltest

von Bericht: Ilka Brecht und Christoph Mestmacher

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Ein kleines Dorf ist in den vergangenen Wochen sehr bekannt geworden: Strücklingen, die Heimat der elfjährigen Christina Nytsch, genannt Nelly, das Mädchen, das auf bestialische Weise mißbraucht und ermordet wurde. Der Speicheltest, mit dessen Hilfe die Polizei nun den Täter finden will, rückte das Dorf wieder ins Rampenlicht. Jetzt sind Reporter und Kamerateams abgezogen, aber zur Ruhe kommen die Menschen dort noch lange nicht. Gerüchte, Mißtrauen, Erpressungen, die Aufdeckung alter Straftaten und Angst vor dem Täter, Angst vor der Wahrheit. Der Frieden in dem 2.500-Seelen-Dorf ist nachhaltig gestört.

Angst vor der Wahrheit - Eine Gemeinde nach dem Speicheltest
Ein Bericht von 1998 über das Dorf Strücklingen: Nach dem Mord an der 11-jährigen Christina herrscht Misstrauen.

Meine Kollegen Ilka Brecht und Christoph Mestmacher sind noch einmal in Strücklingen gewesen.

KOMMENTAR:

Strücklingen am vergangenen Sonntag. Wie immer künden die Glocken vom Beginn der Messe. Wie immer folgen sie hier dem Ruf zahlreich. Doch nichts ist hier wie immer, seit der Ermordung der kleinen Christina Nytsch, von allen Nelly genannt. An diesem Sonntag wäre sie zwölf Jahre alt geworden. Die Tat - allgegenwärtig, jeder ist auf seine Art dabei.

Auch hier, am Fundort der Leiche - Wochen nach dem Mord - reger Andrang. Immer wieder kommen ganze Familien und versuchen mit dem, was sie sich nicht erklären können, fertig zu werden. Sie gehen an den Ort des Schreckens, als sei er eine Wallfahrtsstätte.

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INTERVIEWER:

"An was denkt ihr jetzt, wenn ihr hier steht?"

MÄDCHEN:

"Ja, was Christina so für Schmerzen hatte, als das passiert ist."

KOMMENTAR:

Der, der sie gequält hat, ist immer noch nicht gefaßt. Der Verdacht: er kommt aus der Gemeinde. Deshalb haben sie im Saterland die 18-bis 30jährigen zum Speicheltest gerufen, auf freiwilliger Basis.

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MICHAEL LOOTS:

(Lokalredakteur NWZ)

"Alle, die hierher kommen, sehen den Sinn dieser Aufgabe, und vor allen Dingen einige Vereine machen regelrecht ein kleines Happening daraus, daß sie hier geschlossen erscheinen und eben halt ihrer Pflicht nachgehen."

KOMMENTAR:

Doch diese freiwillige Pflicht haben noch nicht alle erfüllt. Die Polizei macht deshalb Hausbesuche in Sachen Speicheltest. Die Folgen:

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MICHAEL LOOTS:

"Wenn beispielsweise die Polizei jetzt bei jemandem auftaucht, um diesen Speicheltest noch nachzuholen, dann schießen die Gerüchte natürlich ins Kraut. Und das geht wie im Schneeballsystem. Und grade so auf einem Dorf, wo jeder jeden kennt."

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MANN:

"Praktisch ist es ja so, wenn man heute begegnet, kann man ja praktisch jeden verdächtigen, wenn wir so wollen. Einer war es ja."

KOMMENTAR:

Die Auswertung des Speicheltests kann noch Monate dauern. Die Ungewißheit wird bleiben, und so lange kann auch der Nachbar ein potentieller Mörder sein. Bei der Polizei gehen anonyme Anrufe ein.

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POLIZIST:

"Ich kenn' da jemand, der wohnt da und da, und der fährt so ein Auto mit dem und dem Kennzeichen. Und ich will meinen Namen aber nicht nennen, weil ich nicht möchte, daß, wenn das rauskommt, und der kriegt raus, daß ich das gesagt hab', dann ist Holland in Not sozusagen. Und anschließend wird aufgelegt."

KOMMENTAR:

Auch er galt einigen schon als Mörder. Unbekannte schwärzten Klaus Dieter Framme bei der Polizei an. Wie fühlt man sich, wenn man abends im Dorf beim Bier hört: Es gibt welche, die sagen, du sollst es gewesen sein?"

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KLAUS DIETER FRAMME:

"So ein bißchen gemischte Gefühle. Einerseits sage ich, es müssen ja Bekannte sein, die mich auch kennen, hier aus dem Ort, daß die einem überhaupt sowas zutrauen. Andersrum hat ja auch die Vergangenheit gezeigt, daß es eben oftmals die besten Bekannten sind oder die Familie sogar gewesen ist, wenn solche Fälle vorgekommen sind. Und man kann es ihnen irgendwo gar nicht richtig übelnehmen."

KOMMENTAR:

Für ihn war der Speicheltest eine Möglichkeit, den anderen seine Unschuld zu demonstrieren. Und dennoch: Hinter den Fassaden von Strücklingen herrscht seit Wochen der Ausnahmezustand. Nach dem Mord an Christina holt die Vergangenheit die Gemeinde ein. Weitere Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder wurden plötzlich gemeldet. Der Schock sitzt tief.

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POLIZIST:

"Diese Sache, da war ich persönlich, ja, überrascht nicht, schockiert, was aufgrund dieser Straftat, dieser schrecklichen Geschichte hier, mit nach oben gekommen ist, was an die Öffentlichkeit geraten ist. Das waren auch hauptsächlich alles anonyme Hinweise, wo bekannt wurde, daß schon des öfteren irgendwelche Mißhandlungen oder Nötigungen stattgefunden haben, sei es an Kindern oder sei es an Erwachsenen."

KOMMENTAR:

Auch abends in der Kneipe am Stammtisch: Schon fragen sich einige Saterländer, ob ihre Gemeinde ein Hort von Sexualstraftätern ist. Doch vor der Kamera wollen sie das nicht sagen. Zu oft wurde Strücklingen schon als das Mörderdorf gebrandmarkt. Hier soll endlich wieder Ruhe einkehren. Aber sie kommen nicht zur Ruhe. Ein Trittbrettfahrer nutzt die Angst der Leute aus. Er verschickt Erpresserbriefe, fordert fünf Millionen Mark, sonst sterbe ein weiteres Kind aus Strücklingen.

Die Menschen hier werden die Angst nicht los. Kaum ein Kind, das noch alleine mit dem Fahrrad fährt, das alleine zur Schule geht. Die Eltern haben Fahrgemeinschaften gebildet. Dabei dachte man früher, auf dem Dorf, da kann uns nichts passieren.

Hier, wo sich die Giebel gleichen und die Hecken stets akkurat geschnitten sind, traf der Mordfall Nelly mitten in deutsche Gemütlichkeit.

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WIRT:

"Wenn hier fremde Kennzeichen durch den Ort fahren, da haben wir früher nie geachtet - ach Gott, das ist SFR oder SFL oder was weiß ich, und heute: Wo kommt der wohl her? Da achtet man einfach drauf, auf das Kennzeichen. Vielleicht ist es ja jemand, der usw. usf. - Sie wissen, wie ich das meine."

KOMMENTAR:

Schlimmer noch: Jetzt richtet sich das Mißtrauen gegen die eigenen Reihen, und das hier, im Saterland, wo man sich am Stammtisch sieht, wo jeder jeden kennt. Täglich trifft man sich organisiert: Anglerverein, Musikverein oder Tennisclub - eine verschworene Gemeinschaft. Und deshalb hofft hier jeder: Hauptsache, es ist keiner von uns. Aus diesem Grund gehen die Vereine geschlossen zum Speicheltest, um zumindest symbolisch Gewißheit zu haben: Von uns war es keiner. Und was, wenn doch?

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ANGLER:

"Tja, also dann wäre meine Enttäuschung noch größer, muß ich sagen, wenn das der Fall wäre. Dann wüßte ich überhaupt nicht mehr, was Sache wäre, wenn ich den richtig kennen würde. Man sagt, man kann einen Menschen vor den Kopf gucken, aber nicht rein, das ist ein altes Sprichwort, aber wir wollen ja hoffen, daß es keiner von uns war, können wir nur hoffen. Aber was ist nicht alles möglich.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 30.04.1998 | 21:00 Uhr