Abschied vom Schuldenberg - Der letzte Tag des Ministers Theo Waigel

von Bericht: Klaus Scherer

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Noch einmal geht es um ein uns allen bekanntes Gesicht. Jahrelang gab es fast keine Nachrichtensendung ohne ihn. Er gilt als erdenfest, aber dünnhäutig, etwas glücklos, zuweilen als ungeschickt. Er war neun Jahre lang Kassenwart und Watschenmann der Bundesregierung. Denn aus der deutschen Einheit konnte er kein Kapital schlagen. Er wurde zum Schuldenminister. Der CSU-Abgeordnete Theo Waigel, seit vorgestern Finanzminister a.D., zieht ins ehemalige Fraktionszimmer von Franz-Josef Strauß. Abschied vom Schuldenberg - Klaus Scherer begleitete Theo Waigel in seinen letzten Stunden als Finanzminister.

Letzter Tag des Ministers Waigel
Reportage über den letzten Arbeitstag von Theo Waigel als Bundesminister der Finanzen.

KOMMENTAR:

Wäre nicht die Deutschlandfahne in der Ecke, es könnte auch der Schreibtisch eines Kreissparkassen-Chefs gewesen sein. So, sagt Theo Waigel, habe ich meinen Arbeitsplatz hier vor neun Jahren vorgefunden, und so verlasse ich ihn wieder. Der Abschied von dem Raum falle ihm nicht schwer. Vorgestern morgen, vor dem letzten Machtwechsel der Bonner Republik:

0-Ton INTERVIEWER:

"Was ist das, was Sie hier gelassen haben?"

THEO WAIGEL: (Bundesminister a.D.)

"Entschuldigung, das sind Geräte, die zum Hause gehören. Hier der Fernsehapparat, wo ich mal, wenn ich hier war, die Nachrichten mir angeschaut habe, oder wenn auch mal ein Fußballspiel lief - es war eine komische Mischung: hier Arbeit und nach links hinten zum Ergebnis oder zum Fußballspiel zu schauen. Also das bleibt. Ob es der Nachfolger übernimmt oder nicht, weiß ich nicht."

KOMMENTAR:

Theo Waigel, Bundesminister a.D.: Weggefährten halten ihm längst zugute, daß er eigentlich kein krachlederner CSU-Mann war. Und Waigel widerspricht da nicht.

0-Ton THEO WAIGEL:

"Wir haben alle im Leben manchmal mehrere Rollen zu spielen."

KOMMENTAR:

Ob krachledern oder eher dünnhäutig - die Rolle, die Waigel jetzt spielt, ist nicht mehr so wichtig. Halb elf, die Kanzlerwahl steht an. "Ich muß ihn zwar nicht wählen", sagt Waigel, "aber ich muß hin."

Kurz darauf ist Schröder gewählt. Übertragung der Glückwünsche im Bundestagsfoyer. Waigels Blick: eher griesgrämig.

Im Finanzministerium kämpft seine Sekretärin unterdessen mit den Tränen.

0-Ton SEKRETÄRIN:

"Ich war 16 Jahre bei ihm. Es war eine wunderschöne Zeit. Ich habe sehr, sehr viel gelernt. Und, na gut, die Zeiten ändern sich, ich werde mich jetzt neu orientieren."

KOMMENTAR:

Der persönliche Referent kommt, mit einem Abschiedsgeschenk, das er originell findet.

0-Ton REFERENT:

"Herr Minister, Sie waren lange bei uns, und es hat sich viel personell auch in diesen Jahren getan, und wir haben alle Organisationspläne des Ministeriums für Sie noch mal zusammenstellen lassen."

THEO WAIGEL:

"Schön, ja, das ist ein schönes Andenken, weil einem manchmal die Namen doch nicht mehr so präsent sind. Das ist eine prima Idee."

KOMMENTAR:

Dazu eine Erinnerung an bessere Zeiten - jenseits des Schuldenbergs.

0-Ton INTERVIEWER:

"Sie haben gesagt, Sie gehen erhobenen Hauptes. Warum haben Sie das so betont?"

THEO WAIGEL:

"Ja, weil man immer wieder mal versucht hat, auch mit Überschriften, in einem reichgegliederten Finanzministerium - ich denke an Treuhand, und ich denke an Zoll - mir einen Skandal anzuhängen. Nichts ist geblieben, nichts, aber auch gar nichts, und darauf bin ich stolz."

KOMMENTAR:

Die Blumen kommen, für die Staatssekretärin. Auch sie wurde aus dem Amt gewählt. Von wegen nichts geblieben! Man muß nicht weit laufen, zu erfahren, warum Waigel gehen mußte.

0-Ton PASSANT:

"Der war lange genug."

INTERVIEWER:

"Was würden Sie ihm für eine Note geben?"

PASSANTIN:

"Wie hoch gehen Sie denn?"

INTERVIEWER:

"Naja, wie in der Schule, 1 bis 6."

PASSANTIN:

"Ja, dann gebe ich eine 6."

INTERVIEWER:

"Warum?"

PASSANTIN:

"Ja, der hat uns ganz schön reingeritten."

PASSANT:

"5 minus."

PASSANTIN:

"Mäßiger Politiker, würde ich auch sagen."

PASSANT:

"Um Gottes willen, mein Chef."

KOMMENTAR:

14 Uhr 30, Warten auf die Verabschiedung ranghoher Mitarbeiter. Die Atmosphäre nicht förmlich, aber auch nicht locker.

Die Kreissparkasse läßt wieder grüßen - bis Waigel aus dem Nähkästchen plaudert.

0-Ton THEO WAIGEL:

"Es gibt übrigens Zwischenrufe, die sind so gut, daß man jeden Minister und jeden Staatssekretär völlig aus dem Konzept bringt. Zum Beispiel, wenn einer ganz langweilig spricht, dann muß man plötzlich aus der ersten Reihe rufen: Das nehmen Sie aber sofort zurück! Der erschrickt zu Tode, weiß gar nicht mehr, was er gesagt hat ....".

KOMMENTAR:

Es gebe verschiedene Phasen des Abschieds, sagt Waigel, der von den Mitarbeitern falls ihm am schwersten.

16 Uhr, Waigel muß noch mal in den Bundestag. Der Machtwechsel vollzieht sich weiter, auch wenn es manchen noch an der Routine fehlt.

Nach neun Jahren Amtszeit wird Waigel gleich mit ansehen, wie sein Nachfolger vereidigt wird.

0-Ton WOLFGANG THIERSE: (Bundestagspräsident)

"... Herrn Oskar Lafontaine zum Bundesminister der Finanzen."

KOMMENTAR:

Wäre er nicht auch erleichtert, er würde keine Witze machen. Hier ruft er Lafontaine zu, daß der auf seinem Stuhl sitze.

Niederlage? Bitternis? Waigels Antwort ist auch eine an sich selbst.

0-Ton INTERVIEWER:

"War es schlimm?"

THEO WAIGEL:

"Was soll die Frage? Ein normaler Tag. Die gleiche Frage kann ich an Sie stellen: War’s schlimm?"

INTERVIEWER:

"Wirklich ein normaler Tag?"

THEO WAIGEL:

"Ja, sicher."

KOMMENTAR:

Derweil wird nebenan die Republik rot-grün - auch wegen der Fehler Theo Waigels, etwa der unhaltbaren Ankündigung: keine Steuererhöhungen für die deutsche Einheit? Da bleibt er trotzig:

0-Ton THEO WAIGEL:

"Das habe ich nie gesagt, sondern - nein, Sie werden nichts finden, wo ich das gesagt habe. Ich habe gesagt, wir werden alles daran setzen, Steuererhöhungen zu vermeiden - ich habe sie nie ausgeschlossen."

KOMMENTAR:

Dafür hat er beizeiten ausgeschlossen, daß seine Krawatte nicht zum Anzug paßte.. Wir sind wieder beim Humoristen Waigel.

0-Ton THEO WAIGEL:

"Wenn ich die Anzüge gekauft hatte und die Hemden und die Krawatten, dann hat der Verkäufer klugerweise immer gleich ein Foto gemacht, also welches Hemd zu welcher Krawatte oder umgekehrt paßt und zu welchem Anzug."

KOMMENTAR:

Solche Geschichten aus der Bonner Urzeit werden sie sich an diesem Abend auch bei der Lindenwirtin Ännchen erzählt haben, sozusagen am Kabinettstisch der Wahlverlierer. Die einen schon jenseits von gut und böse, die anderen, wie Kanther, Rüttgers und Frau Merkel, noch im Stimmungstief.

Der Rest ist schnell erzählt. Gestern morgen Schlüsselübergabe - "Einer mehr in meiner Laufbahn", sagt der Pförtner.

0-Ton PFÖRTNER:

"Ich habe bereits fünf Wechsel mitgemacht im Haus, also muß ich sagen, absolut nicht."

INTERVIEWER:

"Routine?"

PFÖRTNER:

"Das ist reine Routine, ja."

0-Ton THEO WAIGEL:

"Also tschüß."



Abmoderation PATRICIA SCHLESINGER: Theo Waigel wirkt eigentlich wie befreit. Jetzt haben andere die Probleme zu lösen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 29.10.1998 | 21:00 Uhr