Politik ganz unten - Auch in Bonn blickt kaum einer durch

von Bericht: Gesine Enwaldt, Volker Steinhoff

Anmoderation:

CHRISTOPH LÜTGERT:

Bonner Abgeordnete im Plenarsaal des Bundestages © dpa - Bildarchiv

Letzter Beitrag - mit etwas Positivem. Es stimmt gar nicht, daß sich unsere Politiker vom Volk entfernt haben, wie ihnen immer wieder unterstellt wird. Per Umfrage wurde kürzlich ermittelt, daß die meisten Bürger gar nicht wissen, was in Bonn geplant und entschieden wird. Kein Grund, sich zu schämen, denn unsere Abgeordneten wissen es oft auch nicht, sie sind also doch noch echte Repräsentanten des Volkes.

Steuergipfel: auch Bonner Politiker blicken nicht durch
Satirische Umfrage von 1997 unter Passanten und Abgeordneten zum Thema Steuerreform. Sattelfest scheint niemand zu sein.

Gesine Enwaldt und Volker Steinhoff dokumentieren die Solidarität der ahnungslosen Demokraten.

KOMMENTAR:

Neue Informationen aus dem Zentrum der Macht. Die Koalition bei der Verkündigung. Auch die Opposition in wichtiger Mission, von Gipfel zu Gipfel. Die Botschaft muß raus, Adressat: der mündige Bürger. Der steht wenige Meter entfernt. Besuch im Bonner Regierungsviertel. Stichprobe.

0-Ton

INTERVIEWER:

"Wissen Sie, worum es geht bei dem Steuergipfel?"

BESUCHERIN:

"Nein."

INTERVIEWER:

"Und Sie?"

BESUCHERIN:

"Nee, die werden uns höchstens mehr aufbrummen."

KOMMENTAR:

Das Volk in fröhlicher Ahnungslosigkeit. Keine Ausnahme, wie Umfragen aus Allensbach offenbaren.

0-Ton

INTERVIEWERIN:

"Was verstehen die Deutschen von den Bonner Reformplänen?"

RENATE KÖCHER:

(Institut für Demoskopie Allensbach)

"Eigentlich sehr wenig, und das wissen die Leute auch selbst, das heißt, nach monatelanger Diskussion sagen die meisten, was da konkret geplant ist, das weiß ich bestenfalls so in Konturen, aber nicht genau. Und wenn man hier konkrete Gewissensfragen stellt, dann sieht man, daß diese Selbsteinschätzung eher noch eine Übertreibung ist, das heißt, daß das konkrete Wissen über die Pläne auf einem sehr niedrigen Niveau ist."

KOMMENTAR:

Weniger als wenig wissen die Bürger zum Beispiel beim Dauerthema Euro: Nur noch 19 Prozent kennen gerade mal eins, über 80 Prozent überhaupt kein Beitrittskriterium für die Währungsunion - trotz aller Pressekonferenzen.

Aber wissen denn die Politiker überhaupt, wovon sie reden? Testfrage zum Euro an unsere Volksvertreter im Bundestag.

0-Ton

INTERVIEWER:

"Welches sind die drei wichtigsten Konvergenzkriterien?"

KOMMENTAR:

Die richtige Antwort wäre: Staatsverschuldung, Inflation, Haushaltsdefizit.

0-Ton

JOSEF VOSEN:

(SPD-Abgeordneter)

"Oh, Sie sind aber jetzt - da müßte ich erstmal ein bißchen - es war einmal, glaube ich, die Verschuldung, dann war es das Kriterium, was wir wohl nicht erfüllen werden: Wie ist es mit der Beschäftigung, Arbeitslosigkeit spielt da eine Rolle. Bei den drei Kriterien müßte ich erstmal nachgucken, ja."

0-Ton

INGE WETTIG-DANIELMEIER:

(SPD-Abgeordnete)

"Ja, das - ja, eigentlich kenne ich sie, aber trotzdem wüßte ich sie im Moment nicht."

0-Ton

IRIS FOLLAK:

(SPD-Abgeordnete)

"Die Staatsverschuldung also, was mir gleich einfällt. Also wissen Sie, ich muß Ihnen das jetzt auch mal sagen, es ist wirklich so, daß, auch wenn ich nach Hause komme, oft mein Ehemann mehr weiß, was in der Weltgeschichte ist, wie ich, wenn man eine Woche hier in Bonn ist. Man ist wirklich auf sein Gebiet spezialisiert."

0-Ton

GEORG JANOVSKY:

(CDU-Abgeordneter)

"Verschuldung der öffentlichen Hand ist aus meiner Sicht das wichtigste Konvergenzkriterium. Die anderen halte ich für nicht so entscheidend."

INTERVIEWER:

"Und welche sind die?"

GEORG JANOVSKY:

"Bin ich auch etwas überfragt."

KOMMENTAR:

Er brauchte keine Angst vor Allensbach zu haben, denn Abgeordnete wurden von den Meinungsforschern nicht befragt.

0-Ton

RENATE KÖCHER:

(Institut für Demoskopie Allensbach)

"Der Informationsstand der Bundestagsabgeordneten - da kann ich mir kein Urteil zutrauen. Aber als geborener Optimist gehe ich davon aus, daß er deutlich höher wäre als der der Bevölkerung."

KOMMENTAR:

Richtig komisch wird es bei den Steuersätzen. Fast alle der gutverdienenden Volksvertreter kennen den Spitzensteuersatz, beim Eingangssteuersatz für die kleinen Leute: Fiasko. Das aber wenigstens souverän vorgetragen.

0-Ton

INTERVIEWERIN:

"Wie hoch ist denn zur Zeit der Eingangssteuersatz?"

KOMMENTAR:

Richtige Antwort: 25,9 Prozent. Und auf geht's.

0-Ton

ANTWORTEN:

"Der Eingangssteuersatz ist jetzt bei 22,5 Prozent."

"Der ist bei 15 Prozent zur Zeit."

"Bei 19 Prozent."

"Bei 22 Prozent."

"Bei 22,5 Prozent."

"Bei 26 Prozent."

"Da bringen Sie mich in Verlegenheit - 23? 28?"

"Der Eingangssteuersatz - oh, da muß ich im Moment passen."

0-Ton

INTERVIEWER:

"Kann es denn sein, daß Politiker selber mit den Zahlen auch nicht immer genau wissen, weil es sind ja so viele Zahlen jetzt im Gespräch?"

INGE WETTIG-DANIELMEIER:

(SPD-Abgeordnete)

"Also ich habe jedenfalls - alle Debatten, die ich mitgemacht habe, waren so, daß die Politiker wußten, worüber sie geredet haben, und auch die Zahlen im Kopf hatten."

0-Ton

INTERVIEWERIN:

"Was verstehen Sie noch von der Politik? Ist Ihnen das immer alles klar, was da passiert?"

FRAU:

"Im Moment alles ein Durcheinander, überhaupt nichts mehr."

KOMMENTAR:

Wissenslücken auch im Volk auch beim Thema Osttransfer. Laut Allensbach wissen nur 6 Prozent zumindest ungefähr, dafür 94 Prozent überhaupt nicht, wieviel Geld in den Osten fließt. Auch hier einige Politiker ganz volksnah ahnungslos, pikanterweise gerade die aus dem Osten.

0--Ton

INTERVIEWER:

"Wieviel Geld fließt dieses Jahr aus dem Bundeshaushalt eigentlich insgesamt in den Osten?"

KOMMENTAR:

Richtige Antwort: 128 Milliarden Mark.

0-Ton

GEORG JANOVSKY:

(CDU-Abgeordneter)

"Rund 13,5 Milliarden."

INTERVIEWER:

"Aus dem Bundeshaushalt?"

GEORG JANOVSKY:

"Ja."

IRIS FOLLAK:

(SPD-Abgeordnete)

"Ja, das ist eine ganze Menge, aber diese Zahl kann ich Ihnen jetzt auch nicht aus dem Kopf sagen."

INTERVIEWER:

"Nur so die Größenordnung - Millionen, Milliarden?"

IRIS FOLLAK:

"Ich will da wirklich nichts Verkehrtes sagen."

HANS-ULRICH KÖHLER:

(CDU-Abgeordneter)

"Das kann ich Ihnen nicht aus dem Stegreif sagen, wieviel zur Zeit Förderleistung Richtung Ost gehen."

INTERVIEWER:

"Von der Größenordnung her?"

HANS-ULRICH KÖHLER:

"1,5 Milliarden bis - ich kann Ihnen das jetzt im Moment nicht sagen. Ich habe die Zahlen jetzt vom Bundeshaushalt nicht parat."

IRIS FOLLAK:

"Nehmen Sie mir das nicht übel, aber das ist ganz - wissen Sie, dauernd wird man befragt, es wird angerufen, das ist schlimm."

Abmoderation:

CHRISTOPH LÜTGERT:

Nein doch, ist nicht so schlimm. Wir leben schließlich im christlichen Abendland und werden christlich regiert, deshalb frei nach der Bibel: Wähler, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun - und gib solchen Leuten weiter deine Stimme.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 24.04.1997 | 21:00 Uhr