Mysteriöse Krebsfälle bei Kindern - Ein Dorf zwischen Verdrängung und Panik

von Bericht: Klaus Böcker und Tom Ockers

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Ein leukämiekranker Junge spielt auf der Krebsstation mit einer Pädagogin. © picture-alliance/dpa

Haben Sie Kinder? Stellen Sie sich vor, Sie lebten in einem Dorf, in dem mehr als doppelt so viele Kinder an Krebs erkrankt sind als im Bundesdurchschnitt - und vielleicht ist auch Ihres dabei. Dann, so denke ich - Sie vielleicht auch - müßte sich ein Gesundheitsamt um eine genaue Statistik, vor allem um die Ursachen des Kinderkrebses kümmern. Daß die Realität ganz anders aussieht, erleben die Bewohner von Büdelsdorf im Landkreis Rendsburg-Eckernförde. Heute abend, genau in diesem Moment, treffen sich Eltern, Ärzte und Beamte, weil die Situation für sie einfach unerträglich ist.

Mysteriöse Krebsfälle bei Kindern
In Büdelsdorf sind in den letzten Jahren doppelt soviel Kinder an Leukämie erkrankt wie im Bundesdurchschnitt.

Klaus Böcker und Tom Ockers waren in den vergangenen Tagen in Büdelsdorf.

KOMMENTAR:

Alltag eines Neunjährigen. Alle drei Wochen trifft sich Thorben Koplin mit seinem besten Freund Daniel in der Kieler Kinderklinik. Beide Jungen haben Krebs, und beide kommen aus demselben Dorf in Schleswig-Holstein hierher zur Chemotherapie. Zu Hause können sie sich nicht oft sehen, denn wegen ihrer Infektionsanfälligkeit verlassen sie die Wohnung so selten wie möglich und dürfen auch nicht mehr in die Schule. Um nicht den Anschluß zu verlieren, bekommt Thorben täglich eine Stunde Heimunterricht. Außerdem lenkt ihn das ab von der Hilflosigkeit und Ohnmacht um ihn herum. Kinderkrebs - ein Schicksal, das nicht zu begreifen ist.

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ANDREA KOPLIN: (Thorbens Mutter)

"Richtig befassen tut man sich mit diesem Thema meist erst, wenn man selber betroffen ist. Wir haben vorher uns auch nicht viel damit befaßt, man hat es irgendwo gehört und fand es ganz schlimm und ganz schrecklich, aber das war's auch."

KOMMENTAR:

Doch seit Thorben im letzten Jahr erkrankt ist, ist seine Mutter aufmerksam geworden. Ist der Krebs von Thorben wirklich ein Zufall? Ihre Beobachtungen lassen sie daran zweifeln.

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ANDREA KOPLIN:

"Also hier bei uns im Haus, es sind Freunde im Haus, da war eine Familie, die hatten beide Krebs, bei uns unten im Haus war ein kleines Mädchen, das jetzt nicht mehr hier wohnt, das auch an Leukämie erkrankt war. Hier die Straße runter wohnt ein kleiner Junge, der Krebs hat. Und es sollen auch hier in der Straße etliche Erwachsene sein, die schon an Krebs erkrankt sind."

KOMMENTAR:

Büdelsdorf, ein unscheinbarer Ort in Schleswig-Holstein. Ganze zehntausend Menschen leben hier. Wenige hundert Meter von Thorbens Zuhause wohnt Familie Bornhöft. Beide Kinder sind nacheinander an Blutkrebs erkrankt, und das können sie nicht vergessen.

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INTERVIEWER:

"Hast du auch eigentlich Angst davor gehabt, vielleicht mal zu sterben?"

MARC:

"Ja."

INTERVIEWER:

"Hast du das jetzt auch noch manchmal?"

MARC:

"Eigentlich nicht."

INTERVIEWER:

"Wie ist das bei dir, André?"

ANDRÉ:

"Doch."

INTERVIEWER:

"Hast du jetzt auch noch? Und was machst du dann, wenn du solche Angst hast?"

ANDRÉ:

"Weiß ich nicht."

INTERVIEWER:

"Sprichst du da nicht jemandem drüber dann?"

ANDRÉ:

"Nee."

MARC:

"Als ich in der Zeit im Krankenhaus war, da sind auch, also die da waren, da sind auch schon eine ganze Menge schon gestorben."

INTERVIEWER:

"Und das hat dich wahrscheinlich umgehauen?"

MARC:

"Ja, hab' ich nur gesagt, Glück, ich hab' ein Glück, daß ich das nicht war also."

KOMMENTAR:

Insgesamt sind in den letzten Jahren sechzehn Kinder in Büdelsdorf an Krebs erkrankt. Alleine sechs davon besuchten die Emil-Nolde-Schule, mitten im Ort.

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KARIN REIMERS: (Lehrerin)

"Die Eltern haben das natürlich in Verbindung gemacht, die Krebserkrankung mit dieser Schule. Und dagegen hab' ich mich ein bißchen gewehrt. Und Eltern haben zu mir gesagt: Können wir unsere Kinder eigentlich noch in diese verseuchte Schule schicken, oder müssen wir sie vielleicht in der anderen Grundschule anmelden? Und da denke ich schon, wenn Eltern solche Fragen stellen, das ist schon berechtigt. Und ich denke, es ist viel Unruhe im Ort."

KOMMENTAR:

Auch das zuständige Gesundheitsamt hat von der auffälligen Entwicklung gehört. Doch man sieht sich außerstande, nach möglichen Ursachen zu suchen.

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DR. PETER IDEL: (Gesundheitsamt)

"Wir wissen, daß es eine erhöhte Erkrankungsrate an Kinderkrebs im Kreisgebiet gibt. Wir können aber nicht die Eltern aufsuchen, da wir die Namen der Eltern nicht kennen. Und die Universitätskinderklinik in Kiel darf uns aus datenschutzrechtlichen Gründen die Namen nicht mitteilen."

KOMMENTAR:

Der riesige Landkreis Rendsburg-Eckernförde. Hier sind in den letzten zehn Jahren 72 Kinder an Krebs erkrankt, doch die Verteilung ist ungewöhnlich: 16 der Kinder wohnen im winzigen Büdelsdorf. Alles noch im Rahmen des Zufalls für die Statistiker des Kinderkrebsregisters in Mainz, für sie gilt nur der ganze Landkreis.

Doch wir setzen uns darüber hinweg. Eine Detailanalyse ergibt: Die Kinderkrebsrate in Büdelsdorf liegt 3,4-fach über dem Bundesdurchschnitt. Das gibt berechtigten Anlaß zu Spekulationen über mögliche Ursachen, denn Umweltskandale gab es hier in den letzten Jahren zur genüge. Doch danach wird bisher nicht geforscht. Alle ziehen sich auf die Aussagen der Statistiker zurück. Krebskranke Kinder sind nicht krank in Büdelsdorf, sondern im großen Landkreis.

Einer, der das anders sieht: Der Kinderarzt Horst Reibisch hat die sechzehn krebskranken Büdelsdorfer Kinder in seiner Praxis als erster gesehen.

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DR. HORST REIBISCH: (Kinderarzt)

"In dem Punkt akzeptiere ich solche statistischen Äußerungen oder Festlegungen nicht, weil hier vor Ort sind die Betroffenen, und sie sind mehr betroffen als in anderen Gemeinden oder Regionen, und das ist das Entscheidende. Wenn Forschung, dann richtige Forschung. Ich denke, Alibiforschung können wir uns zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht mehr leisten."

KOMMENTAR:

Für das Problem Büdelsdorf reichen die Zahlen des Kinderkrebsregisters in Mainz vorne und hinten nicht, auch wenn sie keine Alibiforschung sind.

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DR. REINHARD SCHNEPPENHEIM: (Kinderarzt)

"Das Mainzer Kinderkrebsregister ist allerdings nicht in der Lage, bis auf Stadtviertelebene hinunter jetzt sogenannte Nester mit besonderen Häufungen an Kinderkrebs festzustellen. Das kann das Register nicht leisten, weil das ein zu großer Aufwand wäre."

KOMMENTAR:

Und weil das Register das nicht leisten kann, gibt es auch keine Häufung in Büdelsdorf. Entwarnung durch Statistik?

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DR. REINHARD SCHNEPPENHEIM:

"Das Verfahren, jetzt eine interessante Region, in der man vorher schon eine Häufung festgestellt hat, noch mal gezielter zu untersuchen, also einen engeren Kreis darum zu schlagen, das ist statistisch nicht zulässig. Trotzdem kann es einen Hinweis bieten. Es ist eine statistische Häufung nach den Zahlen, die Sie ermittelt haben, auch in diesem engeren Kreis nachgewiesen. Das hatten wir aber auch schon aufgrund der anderen Zahlen vermutet."

KOMMENTAR:

Doch dabei ist es zunächst einmal geblieben. Allerdings wurden die Krebsfälle in der Kieler Kinderklinik sorgfältig diagnostiziert und gezählt. Deshalb liebt hier vielleicht auch der Schlüssel zur möglichen Klärung der Ursachen. In den Labors lagern von allen krebskranken Kindern aus Büdelsdorf Gewebsproben. Eine Untersuchung des Erbgutes ihrer Zellen wäre eine der sinnvollsten Methoden, die Suche nach möglichen Ursachen voranzutreiben. Doch bis heute ruhen die Proben tiefgekühlt bei minus 72 Grad unangetastet in flüssigem Stickstoff.

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DR. REINHARD SCHNEPPENHEIM:

"Wenn man das in einem kleinen Rahmen machen will und sich nur ein oder zwei interessante Gene anschauen will, dann, denke ich, kommt man mit einem Betrag von etwa 400.000 bis 500.000 Mark aus."

KOMMENTAR:

Doch diese Gelder fehlen, und solange sie nicht bewilligt werden, können die Mediziner aus der Kieler Kinderklinik keine Ursachenforschung betreiben. Und ohne Ursachenforschung bleibt nur die Therapie, und die ist grausam - fast so grausam wie die Krankheit.

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MARC:

"Also Freunde, die ich früher hatte in der Grundschule, bevor ich krank geworden bin, die dachten nachher, daß es ansteckend ist und so."

ANDRÉ:

"Und manche lachen bei uns auch darüber."

MARC:

"Ja, ich glaube, die wissen gar nicht, was es ist."

INTERVIEWER:

"Und was machst du dann, wenn die lachen?"

ANDRÉ:

"Ich lache nicht mit."

MARC:

"Ja, sowieso nicht."

ANDRÉ:

"Dann sage ich, die müssen das mal selber mitmachen."

KOMMENTAR:

Ein trostloser Ausblick für die Kinder von Büdelsdorf. Niemand weiß, ob sie gefährdeter sind als ihre Altersgenossen anderswo im Land. Doch ohne neue Forschungsansätze wird es auch niemand erfahren.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 20.02.1997 | 21:00 Uhr