Leugnen und Schimpfen - Reaktionen auf Panorama-Enthüllung zur Tornado-Rakete

von Bericht: Christoph Mestmacher

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Volker Rühe © dpa / picture-alliance Foto: Sven Simon

In der vergangenen Sendung berichteten wir über einen unzuverlässigen Raketentyp, genannt "Harm", den die deutsche Luftwaffe einsetzt. Die Reaktionen waren eindeutig: Bundesverteidigungsminister Volker Rühe wollte erst einmal noch nie etwas davon gehört haben, dann - so hieß es - hätten die Papiere, die wir öffentlich gemacht haben und die die Gefährlichkeit dieser Waffen belegen, die Führungsebene der Luftwaffe nie erreicht. Als nichts mehr half und der Verteidigungsausschuß sogar in der Sommerpause zur Sondersitzung rief, da mußte man dann eben die Wahrheit lügen, sie zumindest ein wenig großzügiger auslegen als üblich.

Reaktionen auf Panorama-Enthüllung zur Tornado-Rakete
Empörung und Dementi: Sondersitzung des Verteidigungsausschußes nach Enthüllungen über das Waffensystems Harm.

Christoph Mestmacher möchte - im Sinne der Aufklärung - noch einmal nachlegen, nur damit da nichts zu schnell wieder in der Versenkung verschwendet.

KOMMENTAR:

Die Risikowaffe namens Harm. Zusammen mit diesem ECR Tornado ist sie jederzeit einsatzbereit für die Bosnien-Mission der Bundeswehr. Und das, obwohl PANORAMA vor drei Wochen enthüllte: Dieses Waffensystem wird innerhalb der Bundeswehr bereits seit Jahren als extrem unsicher eingestuft. Eigentlich sollte Harm feindliche Radarstellungen präzise bekämpfen. In vertraulichen Papieren der Hardthöhe wird jedoch festgehalten: Die Rakete kann nach dem Abschuß außer Kontrolle geraten. Harm, so heißt es wörtlich, sei eine "Gefährdung der Zivilbevölkerung und eigener Truppen".

Doch diese Kritik schien dem zuständigen Verteidigungsminister neu zu sein. Nach der Enthüllung gab er sich ahnungslos.

0-Ton

VOLKER RÜHE:

(Verteidigungsminister)

"Ich hab' keine Hinweise gehabt."

KOMMENTAR:

Einen Tag später - jetzt mußte die Spitze des Ministeriums die Existenz der Papiere zugeben. Schadensbegrenzung:

0-Ton

VOLKER RÜHE:

"Naja, also die Papiere, die rausgespielt worden sind, sind von niemandem so gebilligt worden, also nicht von der Führung der Luftwaffe, nicht von der Rüstungsabteilung. Das heißt, es sind Sachbearbeiter."

KOMMENTAR:

Sachbearbeiter? Niemand in der Führung kannte und billigte die Papiere? Nach Rühes Logik wären das hier also Sachbearbeiter. Zu ihnen gehört dann auch der Inspekteur der Luftwaffe, Bernhard Mende. Auch er kannte die brisanten Dokumente, sie wurden ihm zur Billigung vorgelegt - und er zeichnete sie ab. Wissenslücken, die die Opposition dem Verteidigungsminister inzwischen vorhält, denn die Insider-Informationen der Luftwaffe fehlten auch den politischen Entscheidungsträgern.

0-Ton

MANFRED OPEL:

(SPD, Verteidigungsexperte)

"Ich bin sehr sicher, daß weder die politische Leitung des Verteidigungsministeriums noch die Kolleginnen und Kollegen im Bundestag um das ganze Ausmaß des Risikos des Einsatzes des ECR Tornados und der Harm-Rakete wußten."

KOMMENTAR:

Statt Mängel zuzugeben, entscheidet sich Rühe erneut für einen Strategiewechsel, er lenkt ab.

0-Ton

VOLKER RÜHE:

"Wir haben das beste System, was besser ist als das, was die Amerikaner und Italiener haben, nämlich den ECR Tornado, mit einem sogenannten ELS-System, was die Schwächen minimiert, so daß man sagen kann: Es gibt weltweit kein besseres System als die Kombination der deutschen ECR Tornados und dieser Harm-Raketen."

KOMMENTAR:

Rühe hält also immer noch fest an der Mär vom sicheren Tornado. Der Grund: Es komme eigentlich nur auf die Flugzeugelektronik an. Gemeint ist das Emitter Locater System, kurz ELS. So soll es funktionieren: Am Flügel identifizieren Sensoren feindliche Radarstrahlen, deren Position ortet ein Computer und gibt die Zieldaten an die Rakete weiter. So weit jedenfalls die Theorie, doch auch das ist zweifelhaft.

0-Ton

MANFRED OPEL:

(SPD, Verteidigungsexperte)

"Wir kennen keinerlei Zahlen über die Zuverlässigkeit der Harm zusammen mit dem Emitter Locater System. Dieses ist dem Verteidigungsausschuß zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt worden, und genau dieses brauchen wir, um ein eigenes Urteil abgeben zu können."

KOMMENTAR:

Einmal mehr hat womöglich die Luftwaffe ihr Wissen für sich behalten. Seit zwei Jahren sind nach PANORAMA-Informationen in streng geheimen Unterlagen auch Mängel der Elektronik benannt: Die Funktionsfähigkeit des ELS, so heißt es wörtlich, ist beim Tiefflug eingeschränkt. Und: Die Leistungsfähigkeit des ELS ist bei starken Flugmanövern nicht gegeben. Zudem kann das ELS Flugzeuge der eigenen Streitkräfte mit feindlichen Radarstellungen verwechseln - eine tödliche Bedrohung für diese Piloten. Doch Rühe bleibt dabei:

0-Ton

VOLKER RÜHE:

"Noch einmal: Diese Harm sind am besten aufgehoben im deutschen System, ECR Tornado, und deswegen war das eine große Windmaschine damals von PANORAMA."

0-Ton

MANFRED OPEL:

"Mein Eindruck ist der, daß der Minister nicht vollständig informiert war. Mein Eindruck ist, daß er heute wesentlich mehr weiß über das Risiko von Harm, und mein Eindruck ist, daß er intern Regelungen getroffen hat, damit solche Fehlinformationen des Parlaments nicht mehr vorkommen. Ich glaube, er ist außerordentlich betroffen, und er wußte selbst nicht, daß die Harm-Rakete Wohnungen, Schulen, Kindergärten, ähnliches treffen kann."

KOMMENTAR:

Seit unseren Recherchen ist klar: Die gravierenden Risiken waren zumindest der Luftwaffe seit Jahren bekannt. Der Bundestag blieb ahnungslos. Das System Tornado wurde als perfekt vorgestellt. Warum wohl?

0-Ton

MANFRED OPEL:

"Meine Mutmaßung geht dahin, daß die Luftwaffe unbedingt dabei sein wollte, beim Einsatz in Jugoslawien, mit diesem ECR Tornado und daß sie deswegen keine vollständige Information dem Parlament gab."

KOMMENTAR:

Im Klartext: Mit den jetzt bekannten Mängeln hätte der Bundestag dem Tornado-Einsatz so nie zugestimmt. Dafür trägt Rühe die Verantwortung und für das Risiko, wenn diese Waffen zum Einsatz kommen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 17.07.1997 | 21:15 Uhr