Fünfzehn Meter Akten für zwei Sätze - Reformstau in Deutschland

von Bericht: Klaus Scherer

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Ein Arzt zwingt über Jahre seine Patientinnen zum Sex - und wird gerade mal zu 5.000 Mark Geldbuße verurteilt. Unerträglich wenig, das fanden unsere Justizbeamten auch, mußten aber feststellen, daß die deutschen Gesetze nicht mehr zuließen. Das war vor sechs Jahren. Alle waren sich einig: So geht es nicht weiter, das Gesetz - genaugenommen nur zwei Sätze darin - muß geändert werden.

Reformstau in Deutschland
In einem Beitrag von 1997 beleuchtet Panorama den langen Weg eines Reformantrages in der Justiz.

Was geschieht, wenn in unserem eigentlich gut funktionierendem deutschen Gemeinwesen etwas verbessert werden soll, hat sich Klaus Scherer angesehen: Über eine Flut von Planungs-, Genehmigungs- und Kontrollinstanzen und über unsere Demokratie im Schwitzkasten ihrer eigenen Apparate und Regeln.

KOMMENTAR:

Das ist Justiz-Mitarbeiter Wolfgang P. auf dem Wege des Gesetzes, genauer: eines Strafrechtsänderungsgesetzes, in Gang gebracht in Hamburg vor sechs Jahren.

0-Ton

WOLFGANG HOFFMANN-RIEM:

(Justizsenator Hamburg)

"Es gab im Jahre 1991 einen spektakulären Skandal in Hamburg, der zu einer großen Anfrage in der Bürgerschaft geführt hatte, und die Diskussion danach brachte die Justizbehörde dazu, einen Gesetzentwurf zu erarbeiten."

KOMMENTAR:

Ein Psychotherapeut hatte damals Patientinnen zum Sex gedrängt, ein Fall, den offenbar das Strafgesetz bisher nicht kannte. Zwei Sätze sollten diese Lücke fortan schließen, dachte die damalige Senatorin und schickte sie zum Bundesrat nach Bonn.

0-Ton

WOLFGANG HOFFMANN-RIEM:

"Der Bundesrat mußte dann die verschiedenen Bundesländer um Stellungnahmen bitten. Diese Stellungnahmen sind eingegangen, verarbeitet worden. Die Bundesregierung kam als nächstes. Sie hat sich auch mit dem Verfahren beschäftigt, hat eine wissenschaftliche Untersuchung beauftragt."

KOMMENTAR:

Selbst die Parteien waren sich in der Sache einig, was Wolfgang P. die Arbeit etwas leichter machte und auch dem nächstfolgenden Justizsenator. Die Regierung aber konnte den bundesdeutschen Rechtsweg deshalb nicht verkürzen.

0-Ton

WOLFGANG HOFFMANN-RIEM:

"Sie mußte das natürlich auch mit anderen, verschiedenen Ressorts abstimmen. Dann ist es wieder zurück in den Bundesrat gegangen. Der Rechtsausschuß hat die Sache erneut beraten, und jetzt befindet es sich am Ende, nämlich wieder beim Bundestag."

KOMMENTAR:

Wenn Wolfgang P. nun etwas Glück hat, kommt die Gesetzesänderung bis 1998 noch ins Ziel. Erste Gelegenheit für alle, eine Gesamtbilanz zu wagen.

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WOLFGANG HOFFMANN-RIEM:

"Meine Vermutung ist, daß allein bei den Bundesländern etwa fünf Meter Akten entstanden sind, vermutlich noch mal ein ähnlich hoher Aktenstapel in den Bundesressorts und mehrere Meter vermutlich auch bei den Interessenverbänden."

KOMMENTAR:

Nicht daß der Senator diesen Berg verteidigt, im Gegenteil: er hätte - wenn es sich denn machen ließe - gern eine Reform.

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WOLFGANG HOFFMANN-RIEM:

"Ich finde es umständlich, ich finde es auch unnötig umständlich. Es ist aber, weil es Normalität ist, nach der jetzigen Verfassungsordnung als solches nicht zu beanstanden."

KOMMENTAR:

Aber wer bloß sollte die Verfassung ändern, wenn nicht wieder alle. Gemessen an dem Personal, das dann verschlissen würde, sind drei Senatoren für zwei Sätze vermutlich voll im Rahmen.

Abmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Demokratie - hier manchmal so unbeweglich wie ein zu fett gewordenes Haustier.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 07.08.1997 | 21:00 Uhr