Explodierende Jugendkriminalität - Die Ohnmacht der Justiz

von Bericht: Gita Ekberg und Christoph Mestmacher

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Es ist Wahlkampf in Deutschland, und da sollte man nicht alles ernst nehmen, was man uns so erzählt. Wir haben uns mal um das gekümmert, was man uns nicht erzählt, zum Beispiel das Ergebnis einer Studie über Jugendkriminalität, in Auftrag gegeben vom Hamburger Senat. "Wir sind liberal, aber nicht blöd", hat Henning Voscherau zum Thema innere Sicherheit gesagt. Dazu gehört wahrscheinlich, diese Studie möglichst unter Verschluß zu halten bis nach der Hamburger Wahl im kommenden Monat. Wir fragen: Wie ernst nehmen unsere Politiker, und zwar auch die in der Opposition, eigentlich Themen wie Jugendkriminalität und innere Sicherheit?

Explodierende Jugendkriminalität - Die Ohnmacht der Justiz
Ein Bericht von 1997 über die Studie "Jugenddelinquenz und jugendrechtliche Praxis in Hamburg."

Gita Ekberg und Christoph Mestmacher können uns dazu so einiges erzählen.

KOMMENTAR:

Ein Hamburger Stadtteil trägt Trauer, Februar '97. Fassungslos die Eltern über den Tod ihres Sohnes. Klassenkameraden trauern um ihren Freund. Was war passiert? Eine Jugendbande hatte den 17jährigen Jungen ein Jahr lang erpreßt und bedroht. Dann sah Mirco keinen anderen Ausweg - er warf sich vor die S-Bahn in Hamburg Neuwiedenthal.

Sieben Monate später "high noon" im Hamburger Wahlkampf. Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau und niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder werben um Stimmen mit markigen Sprüchen zur Kriminalitätsbekämpfung.

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HENNING VOSCHERAU:

(Erster Bürgermeister Hamburg)

"Da ist es Verpflichtung der Menschen in der Regierung, zu sagen: Das so mit uns nicht, Schluß mit Gewalt."

KOMMENTAR:

Was die Wähler nicht erfahren: Seit Monaten hält Voscherau eine brisante Studie zu diesem Thema unter Verschluß. Der Grund ist simpel: Sie stellt der Bekämpfung der Jugendkriminalität in Hamburg ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Zwar stieg die Zahl der Straftäter in der Gruppe der 25- bis 30jährigen gering, doch das ist kein Grund zur Entwarnung. Denn wie ein Flächenbrand stieg die Kriminalitätsentwicklung bei den Jüngeren. Die 14- bis 18jährigen liegen mittlerweile an der Spitze. Und schon lange - so die Studie - haben Politik und Justiz kapituliert.

Rene, 19, seit fünf Jahren lebt er in Hamburg. Seine kriminelle Karriere begann er in Leipzig. Wie die Justiz mit ihm umgegangen ist, das ist typisch für deutsche Großstädte. Als 14jähriger verprügelt Rene mit seinen Kumpeln in Leipzig Gleichaltrige.

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RENE:

"Mit Kreuzschlägen, Fußtritten und so habe ich die auf den Boden gebracht, dann liegen gelassen und abgehauen. Und die haben dann am nächsten Tag halt Anzeige gemacht."

KOMMENTAR:

Die Entscheidung des Staatsanwalts per Computerausdruck. Das Ermittlungsverfahren gegen Rene wird eingestellt. Der Grund: die Verfehlung sei geringfügig. Dann die Warnung: Gäbe es ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen Rene, könne er nicht damit rechnen, daß dieses in gleicher Weise eingestellt werde. Das kann ganz normal sein, sagt der Autor der Studie, Christian Pfeiffer.

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DR. CHRISTIAN PFEIFFER:

(Kriminologe)

"Körperverletzungen unter Jugendlichen sind völlig normal. Man kann davon ausgehen, daß allein der Ärger, zur Polizei zu müssen und den Eltern das sagen zu müssen, all dieses schon bewirkt bei den normalen Familien, daß sie aufmerksam wird und daß sie das Notwendige tut, daß es keine Wiederholungen gibt."

KOMMENTAR:

Wenige Monate später: Rene schlägt wieder zu.

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RENE:

"Ja, auch Körperverletzung, 'ne normale. Aber da ist auch nichts passiert."

KOMMENTAR:

Wieder wird das Verfahren eingestellt, wieder wegen Geringfügigkeit. Und erneut wird Rene gewarnt: Beim nächsten Mal käme er nicht so glimpflich davon. Doch Rene macht weiter. Nach der zweiten Körperverletzung die nächste Straftat, diesmal ein Diebstahl.

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RENE:

"Autoradiodiebstahl. Da war auch nichts weiter. Haben sie mich zu fassen gekriegt, ja, haben mir das vorgelegt. Ja, und dann auch so Art Verwarnung gekriegt. Das war's dann."

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DR. CHRISTIAN PFEIFFER:

"Aus meiner Sicht grundverkehrt, denn schon beim zweiten Mal, wenn es dieselbe Tat ist, wenn er wieder eine Körperverletzung begeht, wäre jetzt Anlaß gewesen, zu sagen: Junge, jetzt wollen wir doch mit dir reden, und jetzt wollen wir dann mal schauen, ob nicht eine Konfrontation mit einem Opfer, wenn sich die Geschichte abgekühlt hat, dazu beitragen kann, daß er innehält, daß er bewußt wird, was er hier anrichtet, und daß man ihn vor allem auch zur Wiedergutmachung verpflichtet, Schmerzensgeld zahlen und so weiter. Also da müßte mehr passieren, und das ist offensichtlich versäumt worden."

KOMMENTAR:

Das blieb bei Rene aus. Er setzt seine Laufbahn unbeeindruckt fort. Straftat Nr. 4: Körperverletzung mit Mordversuch.

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RENE:

"Kam so'n Typ vorbei, hat uns den Stinkefinger gezeigt oder Fuckfinger. Ja, wir sind hinterher, meine Kollegen und ich. Ich hab' mir den Typen dann zur Brust genommen, hab' ihn zusammengeschlagen. Er lag auf dem Boden. Ich hab' mein Messer gezückt und ihm an den Hals gehalten. Und meine Kollegen haben mich dann zurückgehalten, haben mir das Messer weggenommen. Und das war's."

KOMMENTAR:

Auch dieses und noch ein weiteres Verfahren werden auf die gleiche Weise eingestellt, ohne daß Rene je einen Richter oder Staatsanwalt zu Gesicht bekommen hätte.

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RENE:

"Bei den ersten zwei Malen hatte ich Panik schon bekommen, was nun passiert und so. Aber dann, wo ich gesehen hab', daß ich nichts bekomme, hab' ich gesagt: Naja, wenn da nichts ist, passiert bei den anderen auch nichts."

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DR. CHRISTIAN PFEIFFER:

"Der nimmt die Justiz nicht mehr ernst, wenn er zum x-ten Mal ein Schreiben kriegt, wo gesagt wird: Du, du, nicht noch mal, sonst wird's ernst - und dann wird es nicht ernst. Also von daher völlig falsch, wenn die Justiz so reagiert."

KOMMENTAR:

Rene ist kein Einzelfall. Die Studie enthüllt, daß die Bekämpfung der Jugendkriminalität in Hamburg zur reinen Formblattjustiz verkommen ist. Seit 1990 stieg die Zahl der so eingestellten Verfahren gegenüber Wiederholungstätern um 237 Prozent.

In der Hamburger Jugendstaatsanwaltschaft türmen sich die Aktenberge. Auf jeden Staatsanwalt kommen pro Monat 187 neue Fälle. Jugendkriminalität wird hier nur noch verwaltet. Notwehrreaktion nennt die Studie diese Praxis. Hauptgrund: Trotz dramatisch steigender Straftaten wurden Stellen gestrichen.

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DR. CHRISTIAN PFEIFFER:

"Es ist klar, daß sie irgendwie überleben müssen in dieser ständigen Arbeitsüberlastung und daß sie dann nach Aktenlage wegdrücken, was gerade geht, und sich auf die schweren Fälle konzentrieren, um denen noch einigermaßen gerecht zu werden. Also von daher erste Kritik daran, daß man diese Personalpolitik über Jahre hinweg so hat laufen lassen, ohne die Staatsanwaltschaft personell zu verstärken."

KOMMENTAR:

Verantwortlich für diesen Mißstand: der Hamburger Senat, an der Spitze Bürgermeister Voscherau. Der unterhält sein Publikum derweil mit Wahlkampfreden.

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HENNING VOSCHERAU:

"..... gerade gegenüber einem Messerstecher, der 19 ist, oder gegenüber einem Bengel, der mit einem Ballermann auf einem Schulhof in Wilhelmsburg einer 16jährigen durch den Oberschenkel schießt. Da wird Gerechtigkeit nur dann geschaffen, wenn sie schnell kommt. Und das will ich."

KOMMENTAR:

Späte Einsicht. Schon seit Jahren greifen jugendliche Gewalttäter in Hamburg immer häufiger zu Schuß- und Stichwaffen. Auffällig ist: Die Jugendgewalt bedroht nur selten Ältere Menschen, die meisten Opfer dieser Gewalt sind unter 21. Während Gewalttagen wie diese drastisch steigen, nehmen Strafen und wichtige therapeutische Maßnahmen ab. So entsteht der Eindruck, Straftaten blieben folgenlos:

Freiheitsstrafen gingen um 53,8 Prozent zurück, gemeinnützige Arbeit um 73,9 Prozent, Geldbußen um 64,6 Prozent.

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DR. CHRISTIAN PFEIFFER:

"Ich könnte mir denken, wenn alte Omas oder erwachsene Menschen wie unsereins auf der Straße die Opfer von Jugendgewalt wären, würde die Staatsanwaltschaft früher ernsthaft reagieren. Aber weil es ja Gleichaltrige sind, denkt sie vielleicht, das muß man nicht so ernst nehmen, und das ist falsch."

KOMMENTAR:

Dabei haben die Gutachter den Politikern eins unmißverständlich klargemacht: Die schlechteste Lösung wäre der schnelle Ruf nach Knaststrafen.

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DR. CHRISTIAN PFEIFFER:

"Gefängnis ist, wenn es früh eingesetzt wird bei sehr jungen Leuten, der beste Weg, um einen stabilen Rückfalltäter zu erzeugen. Die Rückfallquoten liegen über 80 Prozent. Gefängnis ist ein Ort, wo viele gescheiterte Existenzen leben und wo das Stämmen von Gewichten manchmal die wichtigste Freizeitbetätigung darstellt. Dort blüht die Brutalität, auch das Drogenabhängigwerden geschieht oft im Gefängnis. Also keine Illusionen: Den Betroffenen tut man nichts Gutes an, von daher höchst sparsamer Gebrauch mit Gefängnis. Aber vorher alle Chancen besser nutzen, dem Jugendlichen Grenzen aufzuzeigen."

KOMMENTAR:

Der Wahlkämpfer Henning Voscherau auf Stimmenfang. Sein Thema: innere Sicherheit. Seine Mängelliste hält er da lieber unter Verschluß, obwohl ihm ins Stammbuch geschrieben wurde: Wir haben mit unseren Forschungsergebnissen zur Jugendkriminalität eine Bringschuld gegenüber der Öffentlichkeit.

0-Ton: Pfeifender Voscherau

Abmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Man muß den Hamburger Bürgermeister fragen, wer ihn daran gehindert hat, innere Sicherheit, Kriminalität unter Jugendlichen und deren Bekämpfung zum Kardinalthema seiner Regierungsarbeit zu machen. Da stellt sich der Eindruck ein, daß hier ein rotes Mäntelchen in den Wind gehängt wird.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 28.08.1997 | 21:00 Uhr