Angst vor Kälte und Hunger - Mit deutschen Ärzten in Bulgarien

von Bericht: Gesine Enwaldt

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Angst vor dem Winter, das Geld reicht entweder nur zum Heizen oder nur zum Essen, und das auch nur mit viel Improvisation. In den Krankenhäusern zu wenig Decken und Medikamente, Operationen werden vielfach ohne Narkose durchgeführt. Ein Szenario aus deutschen Kriegszeiten? Ganz und gar nicht. Realität an der Südostflanke der EU. Bulgarien kämpft um den Anschluß an die "atlantische Zivilisation", so sagt die politische Führung selbst - genaugenommen aber um den Anschluß an Demokratie und Wohlstand. Mitten in Europa leben Menschen in einem Elend, das sich viele Europäer gar nicht vorstellen können.

Mit deutschen Ärzten in Bulgarien
Panorama begleitet ein deutsches Ärtzeteam in Bulgarien und berichtet über erschreckende medizinische Unterversorgung.

Deutsche Ärzte versuchen, dort zu helfen. Meine Kollegin Gesine Enwaldt hat sie begleitet. Was sie gesehen hat, ist erschütternd.

KOMMENTAR:

Nur die Fotos auf den Totenscheinen erinnern an ihr kurzes Leben. Körperlich oder geistig behindert kamen die bulgarischen Kinder zur Welt, gestorben sind sie an Hunger und Kälte, in diesem Jahr. Kaum jemand wird sich an sie erinnern, aber ihr Tod hält die Angst wach, hier in diesem Heim, weitab im Norden Bulgariens, die Angst vor diesem Winter.

Von ihren Eltern abgeschoben und vergessen, leben hier über sechzig Kinder. Sergin ist 14 Jahre alt, unterernährt wie die meisten hier. Es geht ihm schlecht, er sei krank, heißt es. Ein Arzt kommt hier nur ab und zu vorbei.

Hospitalismus, die Kinder wiegen ihren Körper gegen die Einsamkeit. Diese beiden sind blind, und man setzt sie zu zweit ins Bett, damit sie wenigstens Körperwärme spüren. Es gibt keine Zeit für Zuwendung.

Wir begleiten ein Team der deutschen Ärztegemeinschaft für medizinische Zusammenarbeit. Seit einiger Zeit leiten sie Sachspenden in bulgarische Heime und Hospitäler. Die Deutschen wissen, daß es hier am Nötigsten fehlt, an Medikamenten, Einwegmaterialien, Bettzeug, Nahrungsmitteln. Sie wissen, daß der Heizvorrat nur bis zum Januar reicht. Es sind die katastrophalen Winter der letzten Jahre, die sie hierherführen.

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ELENA KIEFEL:

(Deutsche Ärztegemeinschaft für medizinische Zusammenarbeit)

"Die Töpfe sind leer. Das Staat, das Ministerium, genauer auch die Gemeinden haben nicht die finanziellen Mittel gehabt, vor allen Dingen in dem kalten vorigen Winter für Heizung zu sorgen, für Nahrung zu sorgen, Medikamentenschränke waren total leer. Und das hat natürlich zu sehr großen Katastrophen geführt, leider auch zu höherer Letalitätsrate, also Sterblichkeitsrate."

KOMMENTAR:

Ob die schwachen Kinder den Winter überleben, hängt von den Spenden ab. Die kräftigeren Kinder haben kein Spielzeug. Sie sind aggressiv gegen andere, vor allem auch gegen sich selbst, wie David, er schlägt immer wieder seinen Kopf gegen die Wand, wenn er unbeaufsichtigt ist. Ob seine Krankheit oder die Umstände ihn dazu treiben, weiß man nicht. Es gibt hier keine richtigen medizinischen Diagnosen, auch für die Älteren nicht, erst recht keine Therapien, keine Förderung.

Die Fahrt mit den deutschen Ärzten durch die bulgarische Provinz, vorbei an Dörfern mit neunzig Prozent Arbeitslosigkeit. Zwar ist die Währung jetzt stabil, aber die Löhne stagnieren, und die Kosten steigen. Es gibt hier noch kein Versicherungssystem. Mehr denn je bedeutet Krankheit in Bulgarien: Absteigen weit unter die Armutsgrenze.

Vergiß nicht, daß Bulgarien deine Heimat ist, singen diese Kinder. Sie lieben das Singen, sagen die Schwestern, wenn sie singen, vergessen sie, daß sie Heimweh haben. Viele leben schon seit Monaten hier in der Lungenklinik Triavna, weil ihren Eltern das Geld fehlt für die nötigen Nahrungsmittel oder für Medikamente.

Nicolai leidet unter Asthma. Seine Erstickungsanfälle kommen unregelmäßig, unvorhersehbar. Nur hier bekommt er die lebensrettende Medizin.

Diese Klinik, wissen die Deutschen, liegt in einer Region, in der die TBC-Rate erschreckend angestiegen ist. Hospitäler wie diese können froh sein, wenn sie vom bankrotten Staat die Hälfte ihres Grundbedarfes bezahlt bekommen. Um die andere Hälfte zu decken, hangeln sie sich von Spende zu Spende.

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RAINER KNIEBEL:

(Deutsche Ärztegemeinschaft für medizin. Zusammenarbeit)

"Wie der Chefarzt mir gerade sagte, haben wir Probleme im Bereich der Medikamente, nach etwa drei, vier Monaten, dann wird es schon wieder knapp."

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ELENA KIEFEL:

(Dtsch. Ärztegemeinsch. für medizin. Zusammenarbeit)

"Es geht tatsächlich um Überleben, es geht gar nicht um Luxus oder um Aufbau oder so, es geht tatsächlich um momentane, sofortige Hilfe."

KOMMENTAR:

Auch für Nicolai geht es ums Überleben. Seine Schwester hatte ihn vor dem Ersticken bewahrt vor zwei Monaten, kurz bevor er hier eingeliefert wurde. Nicolai, der zuvor wie normale Asthmakranke mit Medikamenten zu Hause versorgt werden konnte, hängt jetzt am Tropf des schmalen Arzneibudgets der Klinik. Er darf die Klinik nie verlassen. Um die Therapeutika zu besorgen, wird immer wieder am Essensplan gestrichen. Graupensuppe, Bohnensuppe, Brot, das Mittagessen heute. Keine Vitamine, niemals Fleisch, Joghurt wird mit Wasser verdünnt.

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TRUFKA POLJAKOWA: (Übersetzung)

(Lungenklinik Triavna)

"Ich denke nicht, daß das Essen ausreicht, es ist weniger geworden. Dabei ist es notwendig für die Kinder, daß sie auch am Nachmittag eine Mahlzeit bekommen. Sie sind an TBC erkrankt, und sie nehmen sehr viele Medikamente. Sie sollten Fleisch essen, etwas Nahrhaftes."

KOMMENTAR:

Die Wohnung von Nicolais Familie. Nur noch die Mutter hat Arbeit, für 80 Mark im Monat. In diesem Winter können sie nicht mal mehr die Heizung bezahlen. Keine Chance, den asthmakranken Nicolai nach Hause zu holen.

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KREMENA KOJTSCHEWA: (Übersetzung)

(Schwester)

"Das klingt vielleicht seltsam, aber ich würde mich eher umbringen, als noch mal zu sehen, wie mein Bruder fast erstickt. Es ist schrecklich, daß er leidet und daß wir diese notwendigen Medikamente nicht zu Hause haben können. Ohne ihn ist es im Haus total leer, eine Wüste."

KOMMENTAR:

Die Hospitäler müssen mehr und mehr die Armut auffangen. Die Lungenklinik von Triavna nimmt auch Kinder auf, die eigentlich nicht hierher gehörten. Man spricht mit uns hier nicht gern darüber, aber wir wissen, daß diese vier Geschwister in einem erbarmungswürdigen Zustand ankamen, ohne Schuhe, in Lumpen, ausgehungert, mit schwerer Bronchitis. Am frühen Morgen treffen wir ihre Mutter, Nora Entcheva. Sie hat Frühstückspause, sie arbeitet in einer Weberei für vier Mark am Tag, ein Hungerlohn. Niemand in diesem Wohnblock hat eine Heizung oder ein Bad. Die Toilette teilt sie mit 85 anderen auf dem Hof. Zu siebt wohnten sie in diesem kleinen Zimmer. Irgendwann reichte das Geld nicht mehr, sie mußte mit ansehen, wie ihre Kinder verwahrlosten, alle vier wurden krank, die Klinik war die letzte Rettung. Wie viele in Bulgarien schämt sie sich für ihre Armut, sie ist verlegen, lacht, mag eigentlich nicht mit uns sprechen.

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NORA ENTCHEVA: (Übersetzung)

(Mutter)

"Wirklich keine Ahnung, wie wir den Winter überleben werden. Gott sei Dank können die Kinder im Hospital zur Schule gehen. Ich hoffe, daß sie wirklich da bleiben dürfen."

KOMMENTAR:

Die Heime, die wir besuchen, liegen alle fernab von jeder Zivilisation. Im Winter gibt es Transportprobleme. Auf dem Weg zur letzten Station: eine Anstalt für geistig behinderte und psychisch kranke Frauen. Kein Telefonanschluß, kein Auto.

Wie überall hat man sich auf die deutschen Gäste vorbereitet. Ein Festlied zur Begrüßung. Der da singt, sagt, er sei hier Krankenpfleger, Boddyguard und Totengräber in einem. Er führt die deutschen Gäste herum, zeigt ihnen Vorzeigepatientinnen. Wie häufig auf dieser Reise erleben wir, wie die Heimleiter versuchen, einen guten Eindruck zu machen. Sie schämen sich, das wahre Ausmaß ihrer Bedürftigkeit zu zeigen. Erst auf Drängen sehen wir die Räume am Ende des Flurs, die geschlossene Abteilung. Über zwanzig Frauen werden hier gehalten wie Tiere. Sie vegetieren in diesen Räumen vor sich hin. Sie kratzen den Mörtel von den Wänden und essen ihn. Ein paar Lumpen übergeworfen, keine Unterwäsche. Eine Toilette gibt es hier nicht, sie entleeren sich auf dem blanken Boden, der Geruch ist unerträglich.

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RUMEN RATSCHEW: (Übersetzung)

(Anstaltsleiter)

"Im Moment können wir sie nur ernähren und warmhalten und auch das nur drei bis vier Stunden am Tag. Wegen der Kleidung haben wir nur Rennerei, alles läuft über Spenden und Gottes Hilfe."

KOMMENTAR:

Die Pfleger haben Angst vor den Frauen, sie seien gefährlich, aggressiv. Kein Psychologe kümmert sich um sie. Wir dürfen nur kurz bleiben.

Nicolai singt das Lied eines bulgarischen Widerstandskämpfers. Er weiß, daß er stark sein muß. Wann seine Eltern ihn nach Hause holen können, weiß er nicht.

Abmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Dagegen ist das, was uns hier bedrückt, geradezu lächerlich.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 11.12.1997 | 21:00 Uhr