Aids auf Rezept - Almosen statt Entschädigung für die Opfer des Bluterskandals

von Bericht: Diane Zweng

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Blutspendebeutel füllt sich mit Blut eines Spenders. © (c) dpa - Report

Daß sich Politiker bei uns, bei der Bevölkerung, entschuldigen, kommt nicht alle Tage vor. Es war vor zweieinhalb Jahren eine große Geste, als Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer bei den Opfern des Aids-Blut-Skandals um Verzeihung bat. Sie erinnern sich: In den achtziger Jahren waren über 1.300 Bluterkranke durch HIV-verseuchtes Plasma und Medikamente infiziert worden. Horst Seehofer hat damals eine - so wörtlich - "Fehleinschätzung der Bundesbehörden" eingeräumt und den Opfern zugesichert, daß sie zumindest finanziell entschädigt würden. Trotz eingestandener Schuld haben sich die Bundesbehörden aus der Verantwortung gestohlen, und die Opfer dieser seit dem Contergan-Skandal größten Arzneimittelkatastrophe werden jetzt mit Billigrenten abgespeist.

Aids auf Rezept - Almosen für Bluterskandal-Opfer
Betroffene des Aids-Skandals durch verseuchte Blutgerinnungsmittel sind verbittert über die Entschädigungsregelungen.

Diane Zweng über das würdelose Trauerspiel des Blutskandals.

KOMMENTAR:

Ursula und Hans Heydorn trauern um ihren Sohn. Er starb in der kleinen Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung seiner Eltern. Sie hatten ihr Schlafzimmer für den sterbenskranken Gerold geräumt, ihn liebevoll gepflegt, bis zum Schluß. Was bleibt, sind Videos. Gerold war Bluter und bekam Aids. Er wurde nur 29 Jahre alt.

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URSULA HEYDORN:

(Mutter)

"Zwei Tage vor seinem Tod hat er immer gesagt: Oh Gott, oh Gott. Fürchterlich."

KOMMENTAR:

Der tödliche Aids-Virus kam aus dem Blutgerinnungsmittel Faktor 8. Die Hersteller hatten es nicht sterilisiert - aus Kostengründen. Auch staatliche Aufsichtsbehörden trugen Schuld, viel zu lange zögerten sie mit Sicherheitsvorschriften. Das kostete bisher schon 700 Menschenleben in Deutschland. Die staatliche Mitschuld hat die Bundesregierung eingestanden.

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HORST SEEHOFER:

(CSU Bundesgesundheitsminister, 25.1.95)

"Für die Fehleinschätzungen der Bundesbehörden möchte ich die Betroffenen im Namen der Bundesregierung um Verzeihung bitten."

KOMMENTAR:

Eine noble Geste, die aber Gerolds Eltern nicht besänftigen kann.

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HANS HEYDORN:

(Vater)

"Ohne Namen zu nennen und so weiter, also meinetwegen, könnte ich das, gibt's Politiker in der Bundesrepublik Deutschland, die haben unseren Sohn getötet."

KOMMENTAR:

Zu sehen, wie jeden Tag ein Stück von Gerold verlorenging, machte die Eltern krank und arbeitsunfähig. Der Vater erlitt drei Schlaganfälle, die Mutter einen Nervenzusammenbruch. Dann starb Gerold, zwei Tage vor einem entscheidenden Stichtag, dem 31. Juli 1995. An diesem Tag trat ein Gesetz in Kraft. Es regelt die Verteilung von 250 Millionen Mark - eine läppische Summe. Aids-Infizierte, -Erkrankte und ihre Familien sollen - so das Gesetz - eine Rentennachzahlung erhalten, rückwirkend für anderthalb Jahre. Gerold aber nicht, denn er war zwei Tage zu früh gestorben.

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URSULA HEYDORN:

(Mutter)

"Diese ganze Zeit wurde es - die Rückzahlung sein soll, von Anfang '94 bis zu seinem Tod, diese ganze Zeit hat er durchleiden müssen und wir auch, er hat gelebt. Und da sehe ich nicht ein, daß wir nicht diese Nachzahlung erhalten sollen."

HANS HEYDORN:

(Vater)

"Wenn ich mal so ganz kraß darüber nachdenke, mit was für Menschen ich es zu tun habe, dann weiß ich nicht, warum ich nicht so ein Mensch sein könnte, meinen Sohn noch zwei Tage liegen lassen, und dann sage ich: Mein Sohn ist gestorben. Dann hätten wir das ganze Theater nicht gehabt, dann hätte ich das Geld gekriegt."

KOMMENTAR:

Gerold starb also, ohne eine müde Mark für die Mitschuld des Staates gesehen zu haben. Sein langsames und qualvolles Sterben hat die Eltern gesundheitlich geschädigt und finanziell ausgelaugt. Hätte Gerold nur noch zwei Tage durchgehalten, hätten seine Eltern die Nachzahlung geerbt. Kein Einzelfall.

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DR. JÜRGEN SCHACHT:

(Medizin-Anwalt)

"Es gibt Eltern, die haben sich aufopferungsvoll für ihre Kinder verwandt. Die sind aufgrund der Stichtagsregelung - zum 31.7.95 ist das Gesetz in Kraft getreten - rausgefallen, manchmal nur um Tage, teils um Stunden."

KOMMENTAR:

Das Video zeigt einen sterbenskranken Jungen. Er freut sich über eine Show in einem Filmstudio. Christian Vogel hatte Aids. Verseuchte Blutprodukte haben ihn erst krank gemacht, dann, mit 17, getötet, langsam und qualvoll.

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KARIN VOGEL:

(Mutter)

"Dies ist Christians oder war Christians Zimmer."

KOMMENTAR:

Ihrem sterbenden Sohn erfüllten die Eltern alle letzten Wünsche.

KARIN VOGEL:

"Die Bilderwand ist noch ganz und gar geblieben, die haben wir so gelassen. Es sind alles Bilder, wo wir mit ihm waren."

KOMMENTAR:

Christian starb nur wenige Monate vor dem Stichtag.

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KARIN VOGEL:

"Christian hat noch '94 gelebt, Februar '95 ist er gestorben, und wir sind der Meinung, da steht uns für diese 14 Monate diese Entschädigung noch zu, und wir bekommen sie nicht. Alle Eltern, deren Kinder in diesem Zeitraum gestorben sind, denen steht diese Entschädigung nicht zu."

KOMMENTAR:

Hilfe und Unterstützung hatten die Politiker vor zwei Jahren versprochen, als der Aids-Untersuchungsausschuß öffentlichkeitswirksam seinen Bericht vorlegte. Doch statt der versprochenen Entschädigung gab es nur Almosen: für Aids-erkrankte Opfer läppische 3.000 Mark im Monat, für Aids-Infizierte gar nur 1.500, für Kinder 1.000 Mark, aber nur nach dem Tod des Vaters, für hinterbliebene Ehefrauen 1.000, aber nur, sofern der Mann vor dem 31. Juli 95 gestorben ist. Alle Witwen, deren Männer nach diesem Stichtag starben, bekommen nichts.

Zum Beispiel: Doris Jankowiak-Ullbrich. Sie trauert um ihren Mann, der erst vor einem Jahr starb, mit 35. Hans Ullbrich war ein Bluter, der Aids bekam, weil seine Krankenkasse ihm ein sterilisiertes Medikament verweigerte, aus Kostengründen, sagt die Witwe. Ihr Mann hat wenigstens seine ohnehin geringe Nachzahlung bekommen, gerade so viel, um sich seine letzten Lebenstage zu verschönern. Seine Witwe ist Studentin und bleibt ohne Absicherung, so will es das Gesetz.

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DORIS JANKOWIAK-ULLBRICH

"Das einzige, was ich monatlich sicher bekomme, ist vom gesetzlichen Rententräger meines Mannes, das sind 180 Mark im Monat. Durch die jungen Lebensjahre meines Mannes bekomme ich eben nur die kleine Witwenrente, das sind 180 Mark, und den Rest muß ich einfach durch Nachtwachen dazu verdienen."

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DR. JÜRGEN SCHACHT:

(Medizin-Anwalt)

"Das Gesetz hat hier eigentlich einen Webfehler, das Gesetz ist zu schematisch konstruiert und braucht in diesem Punkt Flexibilität. Und dieses Schematische führt eigentlich auch dazu, daß man nicht mehr schaut, was liegt rechts und links am Weg, sondern eigentlich da den Gerechtigkeitsgedanken auch zu früh abschneidet. Das Gesetz muß ja immer irgendwo auch Gerechtigkeit verkörpern, und dieses Gesetz tut es nur zum Teil."

KOMMENTAR:

Er nennt sich ironisch "Langzeit-Überlebender". Thomas H. wirkt nach außen gesund, aber der 29jährige Bluter hat Aids. Ein verseuchtes Blutgerinnungsmittel bezahlt er nach und nach mit seinem Leben. Der Zynismus: Je länger die Betroffenen leben, desto schneller sind die 250 Millionen verbraucht.

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THOMAS H.:

(Aids-krank durch Blutprodukte)

"Es gibt jetzt immer so ab und zu sporadische Hochrechnungen: wieviele sind schon tot, wieviel Geld ist noch übrig, wie lange, wenn man also so lange leben würde, wie lange würde man Geld bekommen. Und das ist immer so ein running gag bei uns Betroffenen, daß wir immer sagen: Ja, irgendwann sieht es so aus, dann bin ich irgendwie 40 Jahre alt, nicht richtig tot, aber auch nicht richtig am leben, so halbkrank, und dann irgendwie werden die Gelder eingestellt, und dann stehen wir da."

KOMMENTAR:

Der Vorstand des größten deutschen Bluterverbandes und der Medizin-Anwalt Jürgen Schacht auf dem Weg zum Gesundheitsminister. Ihr Anliegen: eine Härtefallregelung für die Hinterbliebenen und eine bessere Absicherung der noch Lebenden, die durch staatliche Mitschuld sterben werden. Das Gespräch dauert zwei Stunden.

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INTERVIEWERIN:

"Welche konkreten Ergebnisse können die Betroffenen jetzt von Ihnen erfahren?"

DR. JÜRGEN SCHACHT:

(Medizin-Anwalt)

"Keine. Es gibt nichts, was sich bewegt hat, es ist alles steckengeblieben bisher in der Politik."

KOMMENTAR:

Dann kommt der Minister.

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INTERVIEWERIN:

"Herr Minister Seehofer, der NDR würde Sie gerne fragen, was bei dem Gespräch gerade eben herausgekommen ist."

HORST SEEHOFER:

(Bundesgesundheitsminister)

"Wissen Sie, ich möchte nicht über Gespräche, die ich tagtäglich und stündlich führe, dann anschließend Interviews geben. Das war ein sehr ernstes und notwendiges Gespräch, aber ich bitte um Verständnis."

KOMMENTAR:

Ein Verständnis, das die Opfer nicht mehr haben.

Abmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Sieben Wochen lang hatte Horst Seehofer keine Zeit für uns - zu diesem Thema wollte der sonst so forsche Minister kein Interview geben.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 05.06.1997 | 21:00 Uhr