Hilflose Frauen, ratlose Polizei - Das boomende Geschäft mit der Zwangsprostitution

Anmoderation

JOACHIM WAGNER:

Prostituierte in einem Bordell © AP Foto: STR

Im ersten Film haben wir berichtet, daß insbesondere Nachtclubbesitzer, Bordellwirte und Zuhälter gute Kunden von Schleuserringen sind. Mit Jobangeboten als Serviererinnen oder Tänzerinnen locken sie vor allem Frauen aus Osteuropa und Südamerika nach Deutschland. Hier werden sie dann entweder mit Gewalt zur Prostitution gezwungen oder für mehrere tausend Mark an Zuhälter verkauft.

Einblicke von Klaus Scherer und Margarete Wohlan.

KOMMENTAR:

Ein Waldstück in Polen, eine Autostunde hinter der deutschen Grenze bei Stettin. Ermittler der polnischen Kripo finden die Leichen zweier Männer aus dem Hamburger Zuhältermilieu, der eine erdrosselt, der andere erschlagen.

In der Nähe von Stettin sitzt wenig später eine Frau in Untersuchungshaft. Mit einem Freund zusammen, das gibt sie zu, hat sie die beiden umgebracht. Angelika, 18 Jahre alt, eine Polin. Hier könnte die Geschichte aufhören, wäre da nicht die Vorgeschichte. Angelika wurde vier Monate lang zur Prostitution gezwungen, in Hamburg.

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ANGELIKA: (Übersetzung)

"Sie sagten, ich könnte in einem Imbiß arbeiten, auch ohne Ausbildung, ich müßte nur spülen. Ich sagte ja, weil ich Geld brauchte. Ich wohnte damals bei einer Freundin."

KOMMENTAR:

Der Ort heißt Pilchowo. Von hier hatte sich Angelika weglocken lassen, von Leuten, die sie lange kannte. Das passiert vielen, sagt uns die Frau vom Kiosk.

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FRAU: (Übersetzung)

"Ja, das hört man hier oft. In einem anderen Dorf war jetzt wieder so ein Fall, da hat sogar eine ältere Frau mitgeholfen, Mädchen an Zuhälter zu verkaufen. In der ganzen Gegend hier sind das schon Hunderte von Mädchen."

KOMMENTAR:

Wir besuchen die Staatsanwaltschaft in Stettin. Ihr ging zuletzt ein Mittelsmann ins Netz, der allein ein paar Hundert junge Frauen an Zuhälter verkauft hat. Die Zahl der Fälle steigt. 0-Ton

ANNA GAWLOWSKA: (Übersetzung)

"Die sind alle zwischen 16 und 20, meistens nur Volksschule, können also keine Fremdsprachen. Viele haben kleine Kinder, die sie ernähren müssen, und sie haben selten Rückhalt in der Familie."

KOMMENTAR:

Angelika hatte auch keinen Rückhalt: die Mutter lange tot, der Vater Alkoholiker, und ein Kind zu ernähren hatte sie auch. In Hamburg wird sie in ein Mietshaus gebracht, kein Rotlichtviertel, sondern ein Vorstadthaus mit drei Modellwohnungen, Arbeitsplatz für acht Prostituierte.

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FRAU: (Übersetzung)

"Es bringt nichts, sich zu wehren, sagten mir die Frauen, die schon da waren. Das hier ist ein Bordell, wir arbeiten hier alle als Nutten. Einer haben sie das Gesicht verunstaltet, sagten sie. Die hatte versucht, sich zu wehren. Ich sagte: Aha, ich verstehe."

KOMMENTAR:

Irgendwann, so erzählt sie, hat sie sich Mut angetrunken, dann hat sie den Gasherd aufgedreht und mit einem Feuerzeug gedroht.

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FRAU: (Übersetzung)

"Der Aufpasser hat mich zuerst beruhigt, damit ich das Feuerzeug weglege. Und dann schlug er mit der Faust in mein Gesicht, so fest, daß ich einen Schneidezahn verloren habe."

KOMMENTAR:

Die Lücke möchte sie vor der Kamera nicht zeigen, sie ist ihr peinlich. Andere, etwa in diesem Hamburger Hinterhaus, erlitten noch mehr. Zeugenaussage einer Zwangsprostituierten:

0-Ton (nachgestellte Szene)

FRAU:

"Ich war ständig in der Wohnung eingeschlossen und konnte sie nur in Begleitung der Männer verlassen. Sie sagten mir, daß sie mich gekauft haben und daß ich ihre Gefangene bin. Ich habe mir dann ein Paketband besorgt und mir um den Bauch gewickelt, um mich aus dem Fenster abzuseilen. Dabei bin ich dann abgestürzt und habe mir das Becken gebrochen. Anwohner haben dann die Polizei gerufen."

KOMMENTAR:

Auch von Vergewaltigungen ist in den Akten die Rede, oft schon während der Fahrt nach Deutschland.

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ANNA GAWLOWSKA: (Übersetzung)

(Staatsanwaltschaft Stettin)

"Die Zuhälter bezahlen an die Mittelsmänner mehrere tausend Mark pro Frau, und sie begreifen das als Investition, die die Frau zunächst abarbeiten muß. Wenn sich da eine Frau weigert oder aussteigen will, haben sie ihre Mittel, um sie gefügig zu machen."

KOMMENTAR:

Eine Modellwohnung in Hamburg. Inzwischen arbeitet jede dritte Prostituierte der Stadt in so einem Quartier, erwirtschaftet dem Zuhälter bis zu tausend Mark pro Tag. Der Anteil der Frauen aus Osteuropa steigt, das Ausmaß der Gewalt auch. Was nicht steigt, ist die Aufklärungsquote. Ohne Zeugen kein Beweis, und Zwangsprostituierte gehen kaum zur Polizei.

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ARMIN KADEN: (Landeskriminalamt Hamburg)

"Sie sind einmal Opfer einer Straftat geworden, und zum anderen sind sie selbst Beschuldigte einer Straftat, nämlich eines ausländerrechtlichen Verstoßes, weil eine Ausländerin sich hier nicht in Deutschland prostituieren darf."

KOMMENTAR:

Dazu kommt die Angst vor Rache, die Scham vor Angehörigen und Verdrängung - beste Bedingungen für einen Boom der Privatbordelle, die sich inzwischen über das ganze Stadtgebiet verteilen. 2.000 Prostituierte arbeiten hier schon in Modellwohnungen. Einer dieser Punkte war Angelikas Wohnung.

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ANGELIKA: (Übersetzung)

"Was ich damals fühlte: Nun, ich versuchte meine Gefühle zu unterdrücken. Erst nach vier Wochen gestand ich mir ein, daß ich jetzt eine Nutte war. Aber in mir staute sich Wut an, und ich hoffte, es ihnen irgendwann heimzuzahlen."

KOMMENTAR:

Unterdessen verdienten andere mit. Erste Protestaktionen weisen inzwischen auf Boulevardblätter wie die Hamburger Morgenpost und die Bildzeitung als Nutznießer von Zuhälterei und Menschenhandel hin. "Neue Polin", steht da, mit Anschrift und Telefon, "Schöne Lustzofe", "Ordinär und scharf". Allein die Morgenpost druckt schon mal knapp 700 solcher Anzeigen am Tag, das ergibt Jahreseinnahmen von über 10 Millionen Mark. Stellungnahmen dazu gab es für uns nicht. Solche Anzeigen sind eigentlich verboten, den Freiern aber weisen sie den Weg.

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ARMIN KADEN: (Landeskriminalamt Hamburg)

"In der Modellprostitution stellt sie Werbung in Tageszeitungen die Grundlage dar, das heißt, ohne diese Werbung würde dieser Bereich der Prostitution nicht existieren können."

KOMMENTAR:

Zeitungen und Zuhälter konnten sich bisher auf eine großzügige Politik verlassen, was Ermittler erstmals offen kritisieren.

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ARMIN KADEN:

"Nun muß man wissen, daß die zuständige Ahndungsbehörde bisher die Auffassung vertreten hat, daß in der Welt- und Hafenstadt Hamburg mit sehr vielen Touristen, daß man da etwas toleranter, großzügiger, liberaler sein sollte und aus Opportunitätsgründen von einer Verfolgung dieser Ordnungswidrigkeiten absehen sollte. Nur bin ich - und nur ich - der Meinung, daß aufgrund der derzeitigen Kriminalitätsentwicklung diese Entscheidung einer Überprüfung unterzogen werden sollte."

KOMMENTAR:

Auch Angelikas Vermieter verdiente gut an ihren Zwangsdiensten: 100 bis 120 Mark Miete pro Frau habe er täglich abgeholt, gab er bei der Vernehmung an. Bei acht Frauen in drei Appartements macht das annähernd 300.000 Mark im Jahr. Als wir ihn besuchen wollen, da, wo er wohnt, schickt er seine Frau vor. Von Menschenhandel und Gewalt will sie nichts wissen.

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INTERVIEWER:

"Zuhälterei nicht?"

EHEFRAU:

"Nein."

INTERVIEWER:

"Was für Miete nehmen Sie denn ein in diesem Haus?"

EHEFRAU:

"Ach, wir brauchen Ihnen doch keine Auskunft geben."

KOMMENTAR:

Bleibt die Rolle der Freier. Wir fragen Angelika, ob nicht von den Freiern einer hätte helfen können, ob sie sich jemandem anvertraute.

ANGELIKA: (Übersetzung)

"Einmal habe ich einem gesagt, daß ich geschlagen werde. Er sagte: Ich habe Familie, ich kann mich doch nicht mit der Mafia anlegen."

KOMMENTAR:

Die Geschichte endet da, wo sie angefangen hat: in Polen. Angelika täuscht eine Schwangerschaft vor. Man bringt sie nach Stettin, dort soll sie abtreiben. Als ihre Zuhälter sie später wieder abholen wollen, ist Angelika in Begleitung und gewappnet. Am nächsten Morgen sind die beiden tot. Was empfindet sie heute?

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ANGELIKA: (Übersetzung)

"Erleichterung. Ich weiß, jetzt wird niemand mehr durch sie leiden."

KOMMENTAR:

Sogar die Staatsanwaltschaft kann das offenbar nachempfinden. Die Anklage lautet nicht auf Mord, sondern wegen psychischer Notlage auf Totschlag.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 05.12.1996 | 21:00 Uhr