Kinderlärm in Wohnungen - Juristischer Kleinkrieg unter Nachbarn

Anmoderation

JOACHIM WAGNER:

Aktenordner liegen auf dem Tisch im Sozialgericht. © picture-alliance/ ZB Foto: Johannes Eisele

"Ein Mehrfamilienhaus ist" - nach Auffassung des Amtsgerichts Neuß - "kein Kloster, und Kinder können auch nicht wie Hunde an die Kette gelegt werden". Wären alle Gerichte so kinderfreundlich eingestellt, hätten vermutlich nicht so viele kinderreiche Familien juristischen Zoff mit Nachbarn und Vermietern. Seitdem in unseren Häusern immer mehr Singles und ältere Leute leben, sinkt die Toleranz gegenüber Kinderlärm. Immer mehr Nachbarn sehen in einem kleinen Fußballkick im Wohnzhimmer oder einer Skateboard-Fahrt auf dem Flur unzumutbare Belästigungen, die sie zu einer Mietminderung nutzen.

Den neuen Trend beschreiben Inge Altemeier und Beate Greindl.

KOMMENTAR:

Ein Mietshaus irgendwo in Deutschland.

Erster Akt. Der Streit um Kinderlärm.

Der zweijährige Pascual Kronefeld mit seinem Softball. Er spielt zu gerne damit. Doch dann regen sich die Nachbarn unten mächtig auf. Mit 70 Jahren und Herzbeschwerden wollen die Fürsts ihre Ruhe haben. Doch der Kinderlärm von oben macht sie fix und fertig.

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IRMGARD FÜRST:

"Es ist irgendwie - in Spannung sitzt man dann da. Und dann geht es ja auch schon meistens denn los."

INTERVIEWERIN:

"Also Sie warten im Endeffekt schon darauf jetzt -"

IRMGARD FÜRST:

"Daß es jetzt - genau."

KOMMENTAR:

Die Fürsts haben gute Ohren, denn während unser Mikrophon und wir selber kaum was wahrnehmen, verstehen sie jedes Wort. Was sie hören, flüstern sie nach, zum Beispiel "Schieß".

Ein bißchen Bewegung für das Kind muß drin sein, meinen die Kronefelds, außerhalb der Ruhezeiten.

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HEIKO KRONEFELD:

(Vater) "Ich kann mein Kind nicht so einschränken, daß ich immer nur sag': Mal jetzt oder sitz vorm Fernseher, er muß sich auch ein bißchen bewegen. Und er geht eben nicht durch die Wohnung, wenn er irgendwo hinläuft, ins Kinderzimmer, dann läuft er ins Kinderzimmer, und er geht nicht. Da kann man nicht sagen: Pascual, du darfst nicht laufen, dann weiß er auch gar nicht mehr, was er machen soll. Ich will mein Kind nicht so einschränken, der kriegt nachher auch einen Knacks weg."

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BENNO FÜRST:

"Das kann ich Ihnen gar nicht beschreiben. Ich hab' so einen Haß und eine Wut und stell' mir dann immer hinterher die Frage, weil Mutti dann sagt: Beruhige dich, wir müssen das so hinnehmen, bis - wie lange soll ich das hinnehmen?"

KOMMENTAR:

Weil sich die Streithähne nicht einigen können, beschweren sie sich immer wieder beim Vermieter. Der ist entnervt.

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CARL-HEINZ ROTHTEICH: (Vermieter)

"Ich sag', hör' mal zu, mit som Scheiß müßt ihr doch eigentlich einen Hauswirt nicht belästigen, da müßt ihr euch doch selber einig werden können. Ich bin doch keine Großmutter für die, die alles regeln muß."

KOMMENTAR:

Das Ehepaar Fürst greift inzwischen regelmäßig zur Beruhigungspille. Doch das soll bald ein Ende haben. Sie drohen, in Zukunft einfach weniger Miete zu zahlen, also Mietminderung zu machen - ein Druckmittel gegen den Vermieter. Der soll die Kronefelds zur Ordnung rufen. Jede Lärmstörung wird jetzt penibel notiert, das Ehepaar Fürst sammelt Beweismaterial.

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IRMGARD FÜRST:

"Am 19.11. von 17 Uhr bis 20 Uhr nur eins: Laufen, Springen, Hinschmeißen, es ist ganz schlimm. 8.30 Uhr immer noch keine Ruhe. Um 9.30 Uhr immer noch Gepolter."

KOMMENTAR:

Irmgard Fürst hat jetzt einen Anwalt eingeschaltet. Nach 24 Jahren in diesem Haus fühlt sie sich im Recht. Sie ist nicht die einzige. In einer Gesellschaft, in der es immer mehr Alte und immer weniger Kinder gibt, gehört Kinderlärm nicht mehr selbstverständlich dazu. Zu den Mietrechtsexperten kommen oft auch Singles wegen Kinderlärm. Ihre Grundlage: ein beispielhaftes Urteil von '88, das Kinderlärm als Wohnungsmangel einstuft.

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JOACHIM KÜNKEL: (Rechtsanwalt)

"In meiner Praxiserfahrung weiß ich aus etwa 20.000 Mietverhältnissen, daß das Problem um Kinderlärm zunimmt. Ich weiß auch aus Gesprächen mit Mietrechtsexperten, daß es generell in Deutschland als ein Problem zunehmender Intoleranz der Mitmenschen untereinander gesehen wird."

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DORIS WITTMER: (Mieterverein Stuttgart)

"Die Eltern sind teilweise nicht mehr dazu bereit, den Kindern die erforderliche Disziplin beizubringen. Wir sind vielleicht auch auf mehr Selbstverwirklichung bedacht. Und von daher werden die Kinder eben lauter, was in einem Mehrfamilienhaus sehr stören kann."

KOMMENTAR:

2. Akt. Die Miete wird gekürzt.

Auch sie sind angeblich unerträgliche Lärmbelästiger: Steven und Andre aus Hamburg. Die Eltern werden vom Vermieter offiziell abgemahnt, denn der kann nicht so einfach hinnehmen, daß die Nachbarn unten schon seit Monaten wegen Kinderlärm die Miete kürzen. Das selbsternannte Lärmopfer führt uns vor, wie sehr sie unter den Kindern leidet. Sie muß im Wohnzimmer schlafen. Erkannt werden will sie nicht, für alle Auskünfte, speziell über die Mietminderung, ist ihr Rechtsanwalt zuständig.

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THOMAS RICHTER: (Rechtsanwalt)

"Der Prozentsatz, den wir hier angesetzt haben, ist 15 Prozent der Miete. Das liegt für solche Fälle wohl schon am oberen Bereich. Aber hier waren die Störungen eben schon sehr lange und sehr intensiv, und die Mieter fühlten sich extrem gestört."

KOMMENTAR:

Die perfekte Lärmkontrolle ist bei Kindern schwer durchführbar, doch die Graaks geben sich Mühe.

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HERR GRAAK:

"Ein bißchen leiser jetzt, ein bißchen leiser jetzt, ihr wißt, was los ist, nicht?"

INTERVIEWERIN:

"Andre, schimpft dich denn deine Mami manchmal, wenn du zu laut bist? Was sagt sie denn dann?"

ANDRE:

"Ich soll das nicht machen."

INTERVIEWERIN:

"Und warum nicht?"

ANDRE:

"Weil sonst kommen die Nachbarn hoch."

KOMMENTAR:

Wir wollen uns selbst über den Lärm ein Bild machen und feuern die Kinder an, richtig zu toben. Bis zur Erschöpfung jagen wir sie über den Flur. Doch wir sind erstaunt, wie wenig wir hören, wenn man bedenkt, daß in dieser Sache schon seit Monaten ein Rechtsanwalt tätig ist und fleißig Briefe schreibt.

Die lärmempfindlichen Beschwerdeführer haben einen langen Atem. Der Streit kostet sie keinen Pfennig, sie haben schließlich eine Rechtsschutzversicherung, die bezahlt den Rechtsanwalt.

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JOCHEN KIERSCH: (Deutscher Mieterbund Kiel)

"Wir haben natürlich das Problem, daß über die Vielzahl der Rechtsschutzversicherungen, die bestehen, es relativ leicht ist, so eine Sache vor Gericht zu bringen und als Auseinandersetzung auch richtig hochzukochen. Das gilt um so mehr, als Familien mit Kindern über die Kinder eben auch sehr verletzlich sind."

KOMMENTAR:

3. Akt. Die Lärmopfer kriegen recht.

Stuttgart. Ein schwäbischer Handwerksmeister macht Nägel mit Köpfen. Erst 25 Prozent, jetzt 10 Prozent Mietminderung hat er durchgesetzt. Bemerkenswert, denn der Meister hört den angeblich unzumutbaren Kinderlärm sogar durch zwei Etagen, und die Familie dazwischen kriegt davon nichts mit.

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ANDREA RÜTTEN: (Nachbarin)

"Es ist ja recht ruhig, also meines Erachtens normal, eine Familie, die verursacht eben einen Geräuschpegel, und dafür sind Kinder eigentlich da. Und ansonsten sind es Geräusche, die halt hausüblich sind.

" KOMMENTAR:

Der Beschwerdeführer und seine Frau sind für uns nicht zu sprechen. Doch ihre Liste mit den aufgezeichneten Störungen spricht für sich. Seit 1994 wird genauestens Buch geführt. Hier ist alles erfaßt, auch wenn es nur um eine halbe Minute Trampeln oder zwei Minuten Schreien geht - ein wichtiges Beweismittel vor Gericht gegen die Familie mit zwei Kindern oben. Die trauen sich nicht vor die Kamera, haben Angst vor Kündigung, denn das Gericht hat schon einmal für die andere Seite und damit gegen sie entschieden.

Das Stuttgarter Urteil:

"Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, daß die Mietzinsminderung gemäß § 537 BGB zu Recht vorgenommen wurde."

Der gemeinnützige und eigentlich kinderfreundliche Vermieter steht jetzt vor einer schwierigen Entscheidung.

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RAINER SCHÜLE: (Rechtsanwalt)

"Der Mieter bezahlt weiterhin nicht die volle Miete. Es wird auf die Dauer ein immer größerer Schaden, da müssen wir uns echt überlegen: Gehen wir aufgrund dieses Urteils jetzt gegen diesen Mieter vor, der die Kinder hat, und klagen gegen ihn auf Räumung? Wir kommen wieder zum selben Gericht, und ich bin davon überzeugt, bei diesem Gericht würden wir recht bekommen, dem Gericht bleibt gar nichts anderes übrig."

KOMMENTAR:

Das heißt: Die Familie mit Kindern fliegt raus. Solche Urteile können Schule machen, mit unabsehbaren Folgen in einer ohnehin kinderfeindlichen Gesellschaft.

4. Akt. Die Kündigung wegen Kinderlärm.

Diese Familie mit sechs Kindern kann jeden Tag auf die Straße gesetzt werden. Mehrere Nachbarn hatten sich wegen der Lärmbelästigung beschwert. Der Erfolg: Kündigung. Der Lärm habe das zumutbare Maß überstiegen, urteilt das Kieler Amtsgericht. Der Schutz für Familien mit Kindern wird so häufig in Frage gestellt. Familien wie auch die Kirchners sitzen in der Falle, vor allem, wenn sie sich das eigene Haus im Grünen eben nicht leisten können.

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INTERVIEWERIN:

"Was machen Sie denn, wenn Sie wirklich rausfliegen aus der Wohnung, was passiert dann?"

THORSTEN KIRCHNER: (Vater)

"Gute Frage - weiß ich nicht. Dann sitze ich mit meinen Kindern auf der Straße."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 05.12.1996 | 21:00 Uhr