Schreiben statt Fixen - Straßenkinder als Zeitungsmacher

KOMMENTAR:

Straßenkind Pepsi schreibt einen Artikel in der Berliner Redaktion 'Zeitdruck' © Panorama/ARD Foto: Sreenshot

Pepsi konzentriert sich. Das Thema ihres Artikels ist schwer genug, es geht um Gewalt. O-Ton PEPSI: "Wenn ich beispielsweise schlechte Laune habe aus irgendeinem Grund, behandle ich Leute, die mir überhaupt nichts getan haben, oft aggressiv. Und ich denke, daß dahinter einfach ein Stück Angst steckt, Angst und auch Selbstzweifel oder auch manchmal Haß: Ihr habt mich leiden lassen, jetzt lasse ich euch leiden."

KOMMENTAR:

Wenn Pepsi schreibt, tut sie etwas, was unter Straßenkindern eher ungewöhnlich ist: Sie muß ihre Gedanken ordnen. Das Schreiben zwingt sie, ihr Leben zu überprüfen.

O-Ton PEPSI:

"Letzthin hab' ich mir Gedanken über manche Dinge gemacht und bekam auf einmal ein total schönes, ausgeglichenes Gefühl, einfach weil ich mich so ungemein freue, daß ich so viele Menschen kenne, die ich mag."

KOMMENTAR:

Wie alle hier in der Berliner Redaktion "Zeitdruck" hat Pepsi sich entschieden, das eigene Leben zu führen, ohne festen Wohnsitz, ohne Geld. Auf der Redaktionssitzung gibt es Frühstück. "Zeitdruck" ist das erste und einzige von Straßenkindern gemachte Magazin. Alle kommen freiwillig, wollen mitarbeiten an der nächsten Ausgabe. Es gibt keine Hierarchie, die einzige Regel: keine Drogen. Ihre Themen: die eigene Geschichte, die Zerwürfnisse mit den Eltern, der Überlebenskampf auf der Straße und das Leben in besetzten Häusern.

O-Ton

Layouter CARSTEN:

"Die meisten Leute denken, ja, Haus besetzung, und: schmeißt die Leute raus, und: das ist illegal und so. Aber das einfach mal aus der Sichtweise der Be troffenen - wo liest man denn das heut zutage?"

KOMMENTAR:

In "Zeitdruck" sprechen sie ihre eigene Sprache, unzensiert, seit zwei Jahren. Von den anderen Medien fühlen sie sich mißverstanden, die Journalisten seien nicht wirklich interessiert, sie seien immer nur auf der Suche nach dem Klischee des Straßenkindes.

O-Töne MÄDCHEN:

"Am liebsten 14 Jahre, auf den Strich gehen und am Drücken. Das ist so das, was die haben wollen. Die rufen ja teilweise sogar schon hier an und fragen, ob wir nicht zufälligerweise ein vierzehnjähriges Mädchen haben, das auf den Strich geht und heroinabhängig ist." "Wenn irgendjemand was mit mir machen will, dann sag' ich auch gleich von vornherein: Das muß da unbedingt rein, daß ich kein Mitleid will. Ich hab' mir meine Lebensweise einfach selber so gewählt, ich will so leben, also will ich auch kein Mitleid, basta, und das sag' ich auch."

KOMMENTAR:

Eine Ladenwohnung in Berlin-Lichtenberg, von "Zeitdruck" vermittelt. Drei Mitarbeiter sind hier vorübergehend untergekommen. Sie leben hier ohne Gas und Wasser, dafür aber auch ohne Räumungsgefahr. Schlumpf repariert den Rolladen. Er ist 18. Seit er zehn ist, lebt er auf der Straße. Noch nie hat er länger als vier Monate in einer Wohnung gewohnt. In einer Mischung aus Stolz und Trotz hat er wie viele andere seinen Geburtsnamen abgelegt.

O-Ton SCHLUMPF:

"Wenn ich mir schon denk', wenn ich schon von der Gesellschaft irgendwie abgespaltet werden will, dann ändere ich auch meinen Namen. Das ist einfach mehr auch Deckname. Also wenn mich die Polizei fragt, wie ich heiße, sag' ich Schlumpf, damit basta. Wenn's denen nicht paßt, haben sie selber Schuld."

KOMMENTAR:

Schlumpf kommt wie einige hier aus sogenanntem guten Haus. Sein Vater ist wohlhabender Bauingenieur aus Bayern.

O-Ton

SCHLUMPF:

"Also, es war ein Scheidungsgrund von meinen Eltern da. Und mein Vater hat dann sozusagen meine Mutter erst psychisch irgendwie kaputtgemacht, und dann hat er mich kaputtgemacht und hat mich also dann auch wirklich psychisch drangsaliert, so daß ich das einfach nicht verkraften konnte."

KOMMENTAR:

Die meisten Straßenkinder sprechen nicht gerne über die Gründe, warum sie weggelaufen sind, bleiben bei Erklärungen vage. Schlumpf und Diane planen ihre Arbeit für die nächste Ausgabe. Sie wollen Straßeninterviews machen. Hinter ihnen steht Eleni. Sie ist seit anderthalb Monaten in Berlin, kommt aus München, aus einer betreuten Wohngemeinschaft. Durch Zufall landete sie bei "Zeitdruck", sollte dort über ihr Leben schreiben und ist dabei zu dem Schluß gekommen, daß sie sich als Straßenkind unwohl fühlt.

O-Ton ELENI:

"Also manchmal kotzt mich das schon an, weil ich auch selber merke, daß ich stinke und so, schon irgendwie ein bißchen eklig manchmal. Also meistens gibt's schon was zu essen und so, und es gibt ja auch viele Möglichkeiten, wo man umsonst essen kann. Aber daß ich halt echt manchmal,zum Beispiel am Abend oder so, voll den Freßflash krieg', und dann ist nichts zu essen da."

KOMMENTAR:

Eleni verkauft die Zeitungen, eine Mark für sie, eine für den Verlag, Geld, um wieder nach Hause zu kommen. Straßenverkauf oder Abo, so finanziert sich "Zeitdruck". Am Alexanderplatz stranden viele der rund 3.000 Straßenkinder aus ganz Deutschland, Hier hängen sie ab, wie sie selber sagen. Schlumpf hat keine Zeit dazu, im Gegenteil: Er überschreitet gerade eigene Grenzen, das Straßenkind, das jede Menge Straftaten, Gefängnis, Drogenabhängigkeiten hinter sich hat, nähert sich als Reporter sogar seinem natürlichen Feind, der Polizei.

O-Ton SCHLUMPF:

"Es geht darum, also ich tippe darüber einen Bericht, also es kommt auch jetzt nicht offiziell raus, sondern für uns selber über das Thema Gewalt und Zärtlichkeit. Nicht? Gut."

O-Ton INTERVIEWERIN:

"Was gibt dir das, wenn du für 'Zeitdruck' arbeitest?"

SCHLUMPF:

"Selbstwertgefühl, daß ich was schaffen kann, daB ich sagen kann, wenn ich zum Beispie jetzt die verkaufe und das andere Leute lesen, und da ist ein Bericht von mir drin, daß ich einfach, wenn ich das selber lese, sagen kann: Das hab' ich gemacht, und darauf kann ich stolz sein, ich hab' was geschafft sozusagen."

DIANE:

"Und die Redaktion hat morgens von 10 bis 17 Uhr geöffnet, und es ist auf jeden Fall schon ein guter Schritt Tag, den man verbringt, ohne an irgendeinen Schluck Alkohol, an irgendeine Droge oder sonstiges zu denken. Und es passiert auch nicht, daß irgendwelche Leute sich vielleicht vorher irgendwas einpfeifen und dann dahin kommen, dann werden sie auch rausgeschmissen. Es ist einfach wirklich Freizeit ohne Drogen, wie es halt auch heißt."

KOMMENTAR:

Marco hat sich dazugesetzt. Schwer zu sagen, wie alt er ist, 11 oder 12. Er lebt seit drei Monaten auf der Straße, verweigert jegliche Hilfe. Die "Zeitdruck"Reportage von den Straßenkindern aus Bukarest mag er überhaupt nicht, schlimm sehen die aus, sagt er. Er selber schlägt sich durch, hat mittlerweile keine Schuhe mehr. Ärger mit den Eltern, mit der Schule habe ihn weggetrieben, so sagt er. Es ist eine Frage der Zeit, wann er die Schwelle zur Drogensucht und Stricherkarriere überschreitet.

O-Ton MARCO:

"Ich geh' halt schnorren, und - ja da kommen halt doofe Sprüche von irgendwelchen Leuten - geht auf den Strich oder sonstwas kommt da - geh' arbeiten. Dann sag' ich halt, ich will nicht auf den Strich gehen, oder: der Staat gibt mir keine Arbeit."

INTERVIEWERIN:

"Hast du auch manchmal Sehnsucht nach Zuhause, nach deinen Eltern?"

MARACO:

"Ja, manchmal auch, manchmal lieg' ich abends im Bett und tu nur heulen, tu nur denken: warum bin ich nur abgehauen, warum tu ich nur rauchen, warum tu ich nur kiffen oder irgendwas, was die ganze Scheiße nur soll."

O-Ton SCHLUMPF:

"Diese Lösung Straße, die ist zwar manchmal - für Leute - die nehmen das sehr okay auf, aber ich mein', dauerhaft, glaub' ich, kannst du das nicht durchmachen. Du bist jetzt noch sehr jung, will ich mal sagen, da kannst du das verändern, auf jeden Fall."

KOMMENTAR:

Die "Zeitdruck"-Reporter wissen aus eigener Erfahrung, wie Marco sich fühlt, und deswegen läuft Marco vor ihnen nicht weg. Das Thema der letzten Ausgabe heißt Freiheit, zentrales Problem und Sehnsucht der Straßenkinder. "Freiheit ist wie Laufen, irgendwann bist du entkräftet, du wirst müde und bleibst stehen" - geschrieben von Würfel, 17 Jahre.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 04.07.1996 | 21:00 Uhr