Ärzte-Einkommen

von Bericht: Stephan Wels

JOACHIM WAGNER:

Jahrzehnte standen die Ärzte an der Spitze der Einkommenspyramide. Daß sie seit einigen Jahren im Durchschnitt etwas weniger verdienen und es einigen wenigen finanziell wirklich schlecht geht, an diese Erfahrung können sich die Äskulap-Jünger offenbar nicht gewöhnen. In den letzten Wochen gingen sie wiederholt auf die Straße, um gegen eine angeblich drohende Pleitenwelle zu demonstrieren. Jammern auf hohem Niveau, wie Stephan Wels findet . :

KOMMENTAR: :

München Odeonsplatz, der dritte Samstag hintereinander, Ärzte demonstrieren - gegen drohende Konkurse, ihr Honorarsystem und die Sparpläne der Regierung. :

0-Ton :

DEMONSTRANTEN: :

"Das ist die totale Pleite, das machen wir nicht mit." :

"Bravo." :

KOMMENTAR: :

Einst die Gewinner, jetzt die Verlierer? Die armen Ärzte. Das Thema ist gut für Schlagzeilen. Aber wie arm sind die Ärzte wirklich? Dieser Mann sucht einen Wochenendjob. :

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INTERVIEWER: :

"Wie sieht denn Ihre Einkommenssituation aus?" :

DEMONSTRANT: :

"Kann ich nur sagen: schlecht. Ich hab' das Gefühl, das Wasser steht mir nicht nur bis zum Hals, einige Verlierer gegenüber. Auf der Demo treffen wir auch einen Chirurgen, kürzlich sondern höher.":

INTERVIEWER::

"Was heißt das in Zahlen ausgedrückt?" :

DEMONSTRANT: :

"Muß ich leider passen. Also Sie werden's mir nicht glauben, die Finanzgeschäfte macht die Frau, und ich bin absolut mit dem medizinischen Teil beschäftigt." :

INTERVIEWER: :

"Das heißt, Sie wissen nicht sozusagen, wieviel Sie für Steuern haben?" :

DEMONSTRANT: :

"Nee, das kann ich Ihnen nicht sagen." :

KOMMENTAR: :

Genaueres wenig später. Wir treffen einen Arzt mit derzeit 130.000 Mark Jahreseinkommen. :

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INTERVIEWER: :

"Was würden Sie denn selbst so für angemessen halten?" :

ARZT: :

"Ich meine, wenigstens 140, 150 müssen auf Dauer möglich sein. Und ich habe ja auch eine lange Strecke hinter mir, wo ich weniger verdient habe, ich war ja lange genug im Krankenhaus. Ich muß für meine Zukunft vorsorgen. Ich habe ja nichts ansonsten.":

KOMMENTAR: :

Tatsächlich, der Mann hat ernste Sorgen, unter Ärzten ist er Geringverdiener. Die offizielle Statistik zeigt, das durchschnittliche Einkommen liegt trotz Einbußen noch bei 191.000 Mark. :

Hausärzte, seit jeher nicht ganz so königlich bezahlt, lagen 1995 bei 161.000 Mark :

Der Durchschnitt jammert also auf hohem Niveau. Aber den Spitzenverdienern stehen tatsächlich einige Verlierer gegenüber. Auf der Demo treffen wir auch einen Chirurgen, kürzlich niedergelassen, fürchtet er jetzt den Ruin. :

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CHIRURG: :

"Die Situation ist im letzten Jahr so gewesen, daß ich knappe 40.000 Mark übrig hatte von einem Jahresumsatz von 250.000. Die Kosten sind riesig, und bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von ungefähr 60 Stunden ist der Stundenlohn lächerlich." :

KOMMENTAR: :

Aber solche Fälle haben klare Ursachen. Nicht die Politik ist Schuld, eher die Ärzte selbst. Ihr gesetzlich festgelegter Honorarkuchen ist zwar nicht geringer geworden, aber immer mehr beißen von ihm ab. Die Zulassungszahlen der Ärzte stiegen deutlich an, seit 1992 um 14,5 Prozent. Und Landarzt wollten nur wenige sein. Groß war lange der Run auf die Metropolen. Die Arztdichte in den Flächenstaaten liegt bei etwa 300 Ärzten pro 100.000 Einwohner. Hamburg, München und Berlin bringen es auf etwa 480. :

Die Großstädte haben es den Ärzten angetan. All diese Gebiete sind überversorgt, die Ärzte nehmen sich hier gegenseitig die Patienten weg. Manche Praxis ist marode. Neugründungen waren sinnlose Investitionen in einen gesättigten Markt. :

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GABRIELE PRAHL::

(Unternehmensberaterin Ges. f. Gesundheitsökonomie) :

"Es ist immer wieder erstaunlich, daß sich noch Ärzte in Städten niederlassen, die offensichtlich keine Existenzgrundlage mehr bieten. Also das heißt, sie haben einfach zu wenig Patienten. Das ist immer wieder zu beobachten. Trotzdem glaubt der einzelne Arzt oder die Ärztin daran, daß ein Wunder geschieht und daß sie es nun gerade doch noch schaffen werden." :

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ECKART FIEDLER: :

(Vorstandsvors. Barmer Ersatzkasse) :

"Wir haben in den Ballungsgebieten fast überall eine Überversorgung, und man kann eigentlich nur abraten, sich dort noch niederzulassen. Ich glaube auch aus der Sicht jetzt der Kostenträger, der Versichertengemeinschaft: mehr Ärzte bedeuten nicht mehr unbedingt mehr Gesundheit." :

KOMMENTAR: :

Aber derlei ökonomische Überlegungen ignorieren viele der Demonstranten. :

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INTERVIEWER: :

"Von Überversorgung wollen Sie nichts hören, daß in München Überversorgung ist?" :

DEMONSTRANTIN: :

"Nein, möchte ich nichts hören." :

KOMMENTAR: :

Da trommelt man doch lieber gegen das Honorarsystem und vergißt offenbar, daß Kassenzulassung und Gebührenordnung nicht von unternehmerischem Risiko befreien. :

ÄRZTE MISSBRAUCHEN:

GEBÜHRENORDNUNG:

JOACHIM WAGNER: :

Die ärztliche Gebührenordnung hat das Ziel, die jährlich rund 40 Milliarden Mark Honorar unter den deutschen Kassenärzten gerecht zu verteilen. Das funktioniert schlecht bis gar nicht. Da die Höhe des Honorarbudgets jährlich festgeschrieben wird, hat unter den Ärzten ein harter Verteilungskampf um den Honorarkuchen begonnen. Denn wer am meisten Punkte abrechnet, der bekommt auch das meiste Geld. Dieses Prinzip führt dazu, daß sich die Ärzte wechselseitig das Geld aus der Tasche ziehen - durch Abrechnungstricks und eine Ausweitung ärztlicher Leistungen. Damit verstärkt sich ein Verdacht, der seit Beginn der Gesundheitsreform 1985 besteht: daß sich nämlich einige Ärzte bei der Behandlung von Patienten nicht nur nach deren Krankheiten, sondern auch nach dem Honorarrahmen richten. :

Bernd Seguin stellt eine neue Studie des niedersächsischen Sozialministeriums vor, die diese These erhärtet. :

KOMMENTAR: :

Dieser Mann ist auf einem Auge blind. Ein Universitätsgutachten bestätigt: :

Er ist das Opfer einer Operation . :

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GERHARD HASELAU::

"Ich habe nachfolgend den grauen Star erlitten und zusätzlich eine Netzhautblutung, sogenannter Fuchs'scher Fleck, und auch dadurch mein Augenlicht verloren. Ich bin jetzt praktisch auf dem rechten Auge blind." :

KOMMENTAR: :

Kein Einzelfall. Immer häufiger klagen Gutachter und Anwälte über medizinisch überflüssige Behandlungen. :

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WILHELM FUNKE: :

(Patientenanwalt) :

"Ja, uns fällt auf, daß wir zunehmend Fälle haben, in welchen wir bei der Aufarbeitung des Falles feststellen und Gutachten einholen, daß sich dann rausstellt, daß eine Indikation für die jeweilige operative Maßnahme gar nicht bestanden hat. Das ist schon seit einigen Jahren zunehmend für uns hier ein Problem.":

KOMMENTAR: :

Der schlimme Verdacht: Ärzte schaffen es offensichtlich immer wieder, das Honorarsystem zu mißbrauchen, um sich zu Unrecht zu bereichern. Profit statt Patientenschutz. :

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HANS-DIETER KORING: :

(Vorstand Techniker Krankenkasse) :

"Es ist so, daß viele hochspezialisierte Ärzte allein um des Aspektes der Auslastung ihrer Praxen, des Einspielens der Praxiskosten natürlich Leistungen, vielleicht auch um jeden Preis erbringen müssen. Wir haben hier einen ersten Hinweis aus den Abrechnungen des ersten Quartals im ambulanten Bereich, daß dort plötzlich dreißig Prozent Leistungsausweitungen festzustellen sind, kann ja nicht mit einer grundsätzlichen Expulsion, einer Krankheitswelle in der Bevölkerung, begründet werden. Dieses sind Hinweise, die unseren Verdacht dort bestätigen." :

KOMMENTAR: :

Bisher nur ein vager Verdacht, weil Daten und Fakten fehlten. Die aber hat jetzt das Niedersächsische Sozialministerium. In diesen bundesweit einmaligen Untersuchungen, die PANORAMA vorliegen, ist das Ministerium zu brisanten Ergebnissen gekommen. :

Eine Schlußfolgerung: Die Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen werden von Ärzten unterlaufen. Norbert Blüm machte 1985 diese Erfahrung, 1992 Horst Seehofer. Trotz ihrer Reformversuche steigen die Kosten ständig weiter. Erstes Beispiel: Herzkatheter-Untersuchungen. Vor der Blüm-Reform wurden 52.000 dieser Untersuchungen durchgeführt. Als Horst Seehofer 1992 die Kosten senken wollte, waren es stolze 250.000, drei Jahre später gar 350.000. :

Wissenschaftliche Studien stellten fest: Knapp 40 Prozent aller Herzkatheter-Untersuchungen sind überflüssig, weil es dafür keine medizinische Notwendigkeit gäbe. Der Schaden beträgt nach Angaben von Krankenkassen mindestens 150 Millionen Mark pro Jahr. :

Zweites Beispiel: Ballon-Dilatation. Eine Behandlung, um verengte Herzkranzgefäße wieder zu öffnen. 1984 wurden 2.000 Eingriffe verordnet, 1992 waren es bereits 54.000. Trotz Kostendämpfungen stieg die Zahl dramatisch an auf 95.000. Experten schätzen, jeder fünfte Eingriff ist völlig überflüssig, der Schaden für die Krankenkassen nach deren Hochrechnungen: rund 80 Millionen Mark pro Jahr. :

Drittes Beispiel: Herzoperationen. 1984 wurden 18.000 Patienten am Herzen operiert. 1992 waren es schon 45.000 Eingriffe und 1995 schließlich 70.000. Steigerungsraten, als ob nach jedem Versuch, die Gesundheitskosten zu senken, in Deutschland massenhaft Herzattacken einsetzen. Wissenschaftler sehen dies allerdings anders. Herzkrankheiten sind ein lukratives Geschäft, es geht um Milliarden. :

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DR. ERNST BRUCKENBERGER: :

(Nierdersächs. Sozialministerium) :

"Wenn man die Ergebnisse des Jahres 1995 als Basis nimmt, man nimmt die Herzoperationen, die Linksherz-Katheter-Untersuchungen, die Ballon-Dilatation und die veranlaßten Reha-Maßnahmen, dann sind das Ausgaben für diese vier Bereiche von rund vier Milliarden D-Mark in ganz Deutschland. Das entspricht faktisch den Gesamtausgaben für die Krankenhausbehandlung der Länder Sachsen oder Rheinland-Pfalz." :

KOMMENTAR: :

So wird in Deutschland operiert und endoskopiert, oft zwar ohne medizinische Notwendigkeit, dafür aber immer für Geld aus dem Honorartopf. :

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HANNS DIERK SCHEINERT: :

(Ersatzkassenverbände) :

"Wir haben den Verdacht, daß zu viele Mandeloperationen gemacht werden, daß zu viele Operationen an den Nasenscheidewänden gemacht werden. Wir haben den Verdacht, daß zu viele Blinddärme operiert werden und auch zu viele Gallenblasen entfernt werden und daß zu viele Krampfadern operiert werden. Und ganz besonders haben wir den Verdacht, daß auch im Bereich des Kniegelenkes zu viel operiert wird, was nicht notwendig ist." :

KOMMENTAR: :

Die Untersuchungen des Niedersächsischen Sozialministeriums haben auch die Kostenstrukturen der Krankenhäuser durchleuchtet, mit einem verblüffenden Ergebnis. Seit 1974 wurden 20 Prozent der Krankenhausbetten abgebaut, die Zahl der behandelten Patienten stieg um 50 Prozent, die der Krankenhausärzte um 100 Prozent. Die Leistungen aber explodierten um sagenhafte 250 Prozent. Eine Uralt-Diskussion muß jetzt neu geführt werden, aber anders. :

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DR. ERNST BRUCKENBERGER::

(Niedersächs. Sozialministerium) :

"Wir diskutieren die Betten, das eigentliche Problem sind die Leistungen." :

KOMMENTAR: :

Beispiel Ballenoperationen in Niedersachsen. 1984 gab es 10.000, 1992 bereits 14.500, ein Jahr später schon 15.500. Auch wenn neue Zahlen noch nicht ausgewertet sind, der Trend setzt sich fort. Steigungsraten, die den Verfasser der Studien ins Grübeln bringen.:

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DR. ERNST BRUCKENBERGER::

"Ja, sie haben so ein merkwürdiges Phänomen, das geht so bei Nierensteinenzertrümmerungen und bei Gallensteinoperationen und bei den modernen genauso. Man fängt offensichtlich zuerst bei der akuten Operation an. Dann kommen die Steine, die möglicherweise akut werden, und schließlich wird man präventiv tätig. Ich bezeichne das boshaft formuliert manchmal so als Mallorca-Prophylaxe, man möchte nicht gern im Urlaub am Strand irgendwo so eine Kolik bekommen, also läßt man den Stein präventiv entfernen." :

KOMMENTAR: :

Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder gibt es immer mehr Kranke nach jeder Gesundheitsreform oder aber - und das ist der Befund der Experten: in Deutschland stürzen sich immer mehr Ärzte auf die Behandlungen, die besonders viel einbringen. PANORAMA bat die großen Krankenkassen um ihre Stellungnahme zu den brisanten Untersuchungen aus Hannover.:

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ECKHARD SCHUPETA: :

(Vorstand DAK) :

"Nach unseren Erkenntnissen dürfte der Schaden, der der gesamten gesetzlichen Krankenversicherung durch überflüssig und medizinisch nicht notwendige Leistungen entsteht, bei mindestens fünf Milliarden D-Mark im Jahr liegen. Ein Betrag, der von Arbeitgebern und Beitragszahlern gemeinsam aufgebracht werden muß." :

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HANNS DIERK SCHEINERT: :

(Vorstand DAK) :

"Wenn wir das Problem der medizinisch nicht notwendigen Leistungen lösen könnten im Bereich der niedergelassenen Ärzte, im Bereich des Krankenhauses und im belegärztlichen Bereich, dann hätten wir unser Sparziel erreicht, und Herr Seehofer könnte sich seine ganze Sparakrobatik schenken." :

KOMMENTAR: :

Für den normalen Patienten ist diese Auseinandersetzung längst zum Ärgernis geworden. Diese Studien bestätigen einen Verdacht, der seit Beginn der Gesundheitsreform besteht, daß sich nämlich einige Ärzte bei der Behandlung von Patienten nicht nur nach deren Krankheiten, sondern auch nach dem Honorarrahmen richten.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 01.08.1996 | 21:00 Uhr