Urlaub auf Rezept - Milliardenverschwendung für Kuren

von Bericht: Klaus Böcker, Bernd Seguin und Volker Steinhoff

JOACHIM WAGNER:

Hände, die einen Rücken massieren. © picture alliance Foto: 90072/KPA/Thomas

Guten Abend, meine Damen und Herren, den Begriff "Kur" gibt es in vielen Sprachen nicht. Der Grund: Das Kurwesen ist eine deutsche Spezialität, einzigartig auf der Welt. Über 15 Milliarden Mark geben Renten- und Krankenkassen jährlich für Fango-, Moor- und Thermalkuren aus. Diesen Wildwuchs will die Bundesregierung jetzt beschneiden - zu Recht, denn schon Johann Wolfgang Goethe wußte, daß eine "Kuranstalt" in vielen Fällen "mehr zur Zerstreuung und Hoffnung als zu eigentlicher Heilung" dient. Kritische Beobachtungen von Klaus Böcker, Bernd Seguin und Volker Steinhoff.

Milliardenverschwendung für Kuren
Die Bundesregierung plant zwecks Ausgabenbegrenzung der Krankenkassen Einschränkungen bei Kuren.

KOMMENTAR:

Früher ein Privileg der Adligen, heute Kassenleistung: die Kur, für die meisten voll bezahlt, für einige nur bezuschußt.

O-Ton BADENDER:

"Naja, so im Freundeskreis - man hört, der ist zur Kur und der ist zur Kur, und da haben wir gesagt: Mein Gott, in unserem Alter müssen wir auch mal zur Kur."

KOMMENTAR:

Die Kur, ein Grundrecht der Deutschen. Rund 15 Milliarden Mark kostet das die gesetzlichen Krankenkassen pro Jahr.

O-Ton

Bundesgesundheitsminister

HORST SEEHOFER:

"Wir geben vieles von diesen Geldern ja nicht für kranke Menschen aus, sondern zur Erhöhung des Wohlbefindens. Denn niemand kann mir erklären, daß ein Zuwachs der Kurausgaben um über 50 Prozent in drei Jahren medizinisch indiziert ist."

KOMMENTAR:

Um eine Kur zu bekommen, muß man eigentlich krank sein. Das muß ein Arzt bestätigen, eine Kasse genehmigen und auch bezahlen. Doch einige Krankenkassen interessiert offensichtlich weniger das Sparen als die Kundenwerbung

. O-Ton

Präsident Ärztekammer Hamburg

DR FRANK ULRICH MONTGOMERY:

"Wenn Sie sehen, daß manche Krankenkassen in regelmäßigen Abständen ihre Patienten anschreiben und sie fragen, warum sie nicht eine Kur nehmen, sie hätten seit drei Jahren keine mehr genommen, daß Rentenversicherungsträger Ähnliches tun, dann brauchen Sie nur noch einen Doktor zu finden, dem Sie glaubhaft Ihre Rückenbeschwerden vermitteln, und dann ist der Kurantrag schnell ausgefüllt."

KOMMENTAR:

Eine dieser Kassen, sagen Hamburger Ärzte, ist die DAK. Der ist das Ganze peinlich.

O-Ton

Vorstandsvorsitzender DAK HANSJOACHIM FRUSCHKI:

"Also im Einzelfall vermag ich derartige Abirrungen nicht auszuschließen. Sie liegen nicht in der Politik dieser Kasse und schon gar nicht im Interesse unserer Versichertengemeinschaft. Daß wir durch die Wahlfreiheit in diesem Jahr möglicherweise eine Anzahl von solchen Verfehlungen haben, nicht bloß bei uns, sondern auch bei anderen, vermag ich nicht auszuschließen, aber ...."

KOMMENTAR:

Noch dreister: diese Betriebskranken kasse. Sie bietet ihren Mitgliedern Karneval in Venedig, natürlich klinisch korrekt, garniert mit Fangopackungen und dem üblichen Anstandsprogramm. Zuschuß für jeden Kurlauber: 490,80 Mark. Und was den Kassen recht ist, ist dem Deutschen Bäderverband billig. Ihr Weg zur Kur, so die selbstverständliche Anleitung. Von Krankheit keine Rede.

Broschüre Bäderverband "Fast jeder von uns hat einen Anspruch darauf, die Kosten für eine Kur ganz oder teilweise ersetzt zu bekommen."

Mit all diesen Empfehlungen in der Tasche geht der Kuranwärter zum Haus arzt. Schon ein vages Krankheitsbild reicht offenbar für ein Attest.

O-Ton

Allgemeinmediziner DR. KLAUS WAGNER:

"Allgemeines Erschöpfungssyndrom kann durchaus die Grundlage für eine Kur beantragung sein, weil dahinter eine Depression stecken kann, eine Arbeits- überlastung, aber auch viele andere Dinge."

O-Ton Präs. Ärztekammer Hamburg

DR. FRANK ULRICH MONTGOMERY:

"Also jeder von uns, wenn er etwas älter wird, wacht morgens mit einem Zipperlein im Bett auf. Es ist nun mal nicht so, daß ein Mensch, der 65 Jahre oder 60 Jahre als geworden ist, völlig frei von Schmerzen jeden Tag erlebt."

KOMMENTAR:

Kur bewilligt, Traumziel erreicht.

Niemand muß simulieren, alle haben ihre Kur irgendwie verdient. Bad Feilnbach, kurz vor den Alpen, Heilbad Tannenhof. Hier hat man sich ganz auf den Kurpatienten eingestellt.

"Der typische Gast ist 45 bis 60 Jahre alt, angestellt tätig, war schon zur Kur und macht ansonsten zweimal im Jahr Urlaub" - so eine Studie für den Bäderverband.

0-Ton INTERVIEWER:

"Was machen Sie von Beruf?"

PATIENTIN: "Ich bin Telefonistin."

INTERVIEWER:

"Und Ihr Mann, wenn ich gleich mal weiter fragen darf?"

PATIENT: "Ja, ich arbeite im kaufmännischen Bereich, also den ganzen Tag am Schreibtisch, Bildschirm. Dabei verkrampft und verspannt sich natürlich im Laufe der Zeit einiges, und das hoffe ich dann hier bei dieser offenen Badekur

O-Ton PATIENT: "Ich bin Beamter in einer Bibliothek und komme hierher wegen Beschwerden in der Hüfte und in der Schulter."

PATIENT:

"Ich bin 1939 geboren, bin Kommunalbeamter im Dienste der Stadt Düsseldorf und habe aufgrund einer ärztlichen Diagnose mir dieses Haus hier ausgesucht, weil ich unter anderem - ich sag' bewußt: unter anderem - Probleme im psychosomatischen Bereich habe und unter anderem auch im Bewegungsapparat. Ich war auch schon mal mehrfach in Kur."

KOMMENTAR: Welche Kurgründe berechtigt sind, welche nicht, kann auch ein Arzt schwer beurteilen. Auffällig aber, daß immer die gleichen kommen.

O-Ton

Allgemeinmediziner DR. KLAUS WAGNER:

"Also die Leute aus geschonten Berufen, die es gewohnt sind, alle Vorteile zu haben, die beantragen am häufigsten Kuren. Die schwer Arbeitenden - ich darf mich selbst mit einbeziehen, ich hab' noch nie eine Kur gemacht und hab's überlebt - also mit anderen Worten: die beantragen in der Regel keine Kur."

KOMMENTAR:

"Gewußt wie" - das Motto von Beamten und Angestellten. Ganz wichtig auch: ein sicherer Arbeitsplatz. Vor allem Mitarbeiter von Großbetrieben gehen auf Kur. Der Bäderverband hat eine eigenwillige Erklärung.

O-Ton

Deutscher Bäderverband ANTONIUS WEBER:

"Da mag es sein, daß die großen Unter nehmen, Verwaltungen überproportional vertreten sind. Das hängt aber sicher auch damit zusammen, daß im kleineren Unternehmen die Anspannung möglicherweise geringer ist."

KOMMENTAR:

Der Gesundheitsminister hingegen kommt zu einem anderen Schluß:

O-Ton

HORST SEEHOFER:

"Es gibt Leute, die waren noch nie in ihrem Leben auf Kur, und es gibt andere Leute, die sehr genau wissen, wie sie alle zwei, drei Jahre ihre Kur nehmen können. Und das ist in sich ungerecht, wenn immer ein bestimmter Teil ein Privileg hat und ein anderer Teil dafür die Beiträge bezahlt."

O-Ton

Präs. Ärztekammer Hamburg

DR. FRANK ULRICH MONTGOMERY:

"Es ist nichts weiter als Urlaub plus Behandlungen, und die Frage ist, ob wegen der Behandlungen der Urlaub mitbezahlt werden muß. Ich glaube nein, den Urlaub kann jeder selber bezahlen, und die Behandlungen kann er zu Hause bekommen."

KOMMENTAR:

Zurück in Bad Feilnbach. Das Mittag essen ist vorbei, die Behandlungen auch. Jetzt ist Zeit für Wanderungen und Kaffeetrinken. So ein angenehmes Leben möchte man natürlich gern mit dem Ehepartner teilen. Also braucht der auch eine Kur, von den Kassen meist bezuschußt.

O-Ton

Heilbad Tannenhof HEIDRUN STEINBICHLER:

"Also speziell für unser Haus kann ich sagen, wir haben ungefähr ein Drittel an Ehepaaren, und der Rest ist zum Teil Bekannte, die sich bei uns gefunden haben, sich wieder her stellen."

KOMMENTAR:

Daß es Mißbrauch gibt, räumt selbst der Bäderverband ein.

O-Ton

Deutscher Bäderverband ANTONIUS WEBER:

"Es gibt Untersuchungen zum Mißbrauch, der bei etwa zwölf bis zwanzig Prozent liegt. Nur, damit wird man immer rechnen müssen, und wegen dieses relativ geringen Prozentsatzes kann man ja die anderen achtzig Prozent nicht einfach auch mit negativ beurteilen."

KOMMENTAR:

Dieser angeblich so geringe Mißbrauch kostet die Kassen jährlich immerhin mehrere Milliarden Mark.

O-Ton

Bundesgesundheitsminister HORST SEEHOFER:

"Wenn der Bäderverband erklärt, es gibt einen Mißbrauch zwischen zehn und zwanzig Prozent, ist es eine Ungeheuerlichkeit, weshalb man diesem Mißbrauch nicht entgegengesteuert hat.

Offensichtlich braucht man zur Bekämpfung des Mißbrauchs in Deutschland immer die Politik und einen Paragraphen, aus eigener Verantwortung ist man offensichtlich nicht bereit, solchen Mißständen zu begegnen."

KOMMENTAR: Es gibt sogar ein Modellprojekt in Hamburg und anderen Städten, welches das gesamte deutsche Kurwesen in Frage stellt: die Wohnortkur.

Fango auch hier, unter den Patienten ehemalige Kurortgäste.

O-Ton

PATIENT: "Ich habe eine sogenannte Vorsorgekur in Bad Salzuflen gemacht und dann auch hier in Hamburg, Reha-Zentrum. Ich muß sagen, daß die Anwendungen dort ungefähr gleich sind und auch den gesundheitlichen Effekt erbracht haben."

KOMMENTAR:

Doch die großen Kassen sind nicht am Modellprojekt beteiligt. Sie wollen offensichtlich ihre zum Teil kasseneigenen Kurkliniken am Leben erhalten. Einzige Ausnahme: eine kleine Hamburger Krankenkasse.

O-Ton

Hanseatische Krankenkasse BARBARA KRUSE:

"Eine klassische Kur in einem Kurort kostet uns zwischen 5 bis 6.000 D-Mark, zuzüglich der anfallenden Fahrkosten. Eine Kur am Wohnort, die sogenannte Wohnortkur, kostet uns 2.200 D-Mark, zuzüglich der anfallenden Fahrkosten."

KOMMENTAR:

Doch solche Sparchancen werden bisher kaum genutzt. Das Geld fließt weiter in die Kurorte, weil ganze Regionen davon leben. Ihre Lobby in Bonn ist stark. Die Leidtragenden sind andere.

O-Ton

Bundesgesundheitsminister HORST SEEHOFER:

"Letzten Endes gefährdet man damit die Versorgung chronisch kranker Menschen, weil für die dann zu wenig Geld zur Verfügung steht."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 04.07.1996 | 21:00 Uhr