Spekulieren mit dem Tod - Aids-Kranke als Anlageobjekte

Anmoderation:

JOACHIM WAGNER

Eine Aids-Schleife hat sich eine Frau an die Brust geheftet. © dpa Foto: Oliver Berg

Es gibt eine große Palette von Anlage- und Spekulationsobjekten: Aktien, Anleihen, Fonds, Optionen oder Lebensversicherungen. Relativ neu und noch relativ unbekannt ist der Handel mit Lebensversicherungen von Aids-Kranken. Das sind Spekulationen mit dem Tod. Während die Käufer der Policen auf ein möglichst schnelles Ende der HIV-Positiven warten, wollen diese mit dem Geld aus den verkauften Lebensversicherungen aktuelle Not lindern und ihr Leben mit teuren Medikamenten verlängern.

Aids-Kranke als Anlageobjekte
Relativ neu und weitgehend unbekannt ist der Handel mit Lebensversicherungen von Aids-Kranken.

Vor dem Beitrag von Jochen Graebert und Stephan Wels möchte ich mich von Ihnen verabschieden und Ihnen noch einen schönen Abend wünschen. Tschüß und auf Wiedersehen.

KOMMENTAR:

Richard aus Atlanta. Er war 17, als er sich Aids holte, jetzt ist er 28 - todkrank, obwohl man es ihm nicht ansieht. Seine Firma hat ihn gefeuert, durch die Krankheit ist Richard verarmt. Sein einziges Vermögen: eine Lebensversicherung über 20.000 Dollar. Die wird aber erst fällig, wenn er tot ist. Also will Richard sie verkaufen.

0-Ton (Übersetzung)

RICHARD:

"Mir bleiben im Monat nur 15 Dollar Haushaltsgeld, fast unmöglich, damit durchzukommen. Gelingt es mir, jetzt meine Lebensversicherung zu verkaufen, kann ich davon gut leben, meine Medikamente bezahlen und sogar noch ein bißchen reisen. Ich brauch’ das Geld jetzt, nicht erst wenn ich tot bin."

KOMMENTAR:

Ortswechsel: Heilbronn, die Firma Eurofinanz. Hier werden die Versicherungsverträge der Richards dieser Welt für den deutschen Markt angeboten. Ein Aktenordner voller Krankengeschichten. Schnäppchen für Privatanleger? Die Lebensversicherung eines Aids-Kranken im Wert von 100.000 Mark gibt’s hier schon für 70.000 - ein traumhafter Gewinn, wenn das Anlageobjekt schnell stirbt. Herr Schübel zeigt ein angeblich todsicheres Angebot.

0-Ton

ULRICH SCHÜBEL: (Kaufmann)

"Es ist ein Daniel B., er ist im absoluten Endstadium, full-blown Aids, Lebenserwartung haben wir etwa von 6 bis 12 Monaten. Also hier gibt es praktisch kein Restrisiko mehr, da würde also auch eine Wunderdroge über Nacht oder so nicht mehr helfen."

KOMMENTAR:

Daniels Lebensversicherung ist 100.000 Dollar wert. Je schneller er stirbt, desto höher der Gewinn.

0-Ton

ULRICH SCHÜBEL:

"Um jetzt die Police innerhalb von drei Monaten zur Auszahlung - dann würde der Anleger 21 Prozent Rendite erwirtschaften innerhalb von sechs 10,53."

INTERVIEWER:

"Aber das ist doch ein sehr - für den Anlager - ein relativ sicherer Fall?"

ULRICH SCHÜBEL:

"Es ist ein, ja, hundertprozentiger Fall. Man muß auch nach diesen Angeboten Ausschau halten."

KOMMENTAR:

Bei Richard liegt der Fall genauso. Kurze Restlaufzeit heißt das im Fachjargon. Richard wird es leicht haben, einen Käufer für seine Lebensversicherung zu finden.

0-Ton (Übersetzung)

RICHARD:

"Vor eineinhalb Monaten wäre ich fast gestorben. Das hat mir geholfen, so komisch das klingen mag. Jetzt ist es für mögliche Käufer noch klarer geworden: Die glauben, daß ich tatsächlich bald sterben muß."

KOMMENTAR:

Aids-Kranke, die voraussichtlich noch mehr als drei Jahre zu leben haben, sortiert Herr Schübel aus.

0-Ton

INTERVIEWER:

"Eigentlich ist ja das, was der Kunde macht, eine Wette auf den Tod?"

ULRICH SCHÜBEL:

"Eine Wette nicht, ‘ne Kalkulation."

KOMMENTAR:

Auch er kalkuliert mit dem Tod: Helmut Lutze, einer von Schübels Kunden. Für 10.000 Dollar hat er die Lebensversicherung eines Aids-kranken Amerikaners gekauft, jetzt wartet er auf dessen Tod.

0-Ton

HELMUT LUTZE:

"Die 12 bis 15 Prozent setze ich an für 36 Monate. Und wenn er jetzt 48 Monate lebt, was ich ihm herzlich wünsche, dann sind’s immer noch um die 10 Prozent. Aber die Möglichkeit, daß der bloß 24 Monate lebt oder nur 18 Monate, ist natürlich auch gegeben und sogar sehr wahrscheinlich. Und dann steigt die Rendite auf 20 bis 30 Prozent."

0-Ton (Übersetzung)

RICHARD:

"Der Gedanke, daß die jemand im Nacken sitzt, ist nicht gerade angenehm. Eigentlich habe ich vor, noch eine ganze Weile zu leben, da müssen die sich eben noch gedulden."

0-Ton

INTERVIEWER:

"Je schneller der Patient bzw. der Kranke stirbt, je höher die Rendite - finden Sie das makaber?"

HELMUT LUTZE:

"Nein, überhaupt nicht. Ich könnt’s auch makaber finden, daß ich neben allen Friedhöfen Blumengeschäfte aufmache, könnte man auch als makaber bezeichnen."

KOMMENTAR:

Atlanta vor wenigen Wochen, Ulrich Schübel auf Geschäftsreise. Er will dazulernen, hier in den Staaten, wo das Geschäft mit den Lebensversicherungen Aids-Kranker boomt: Hier investieren Anlager jährlich eine halbe Milliarde Dollar in den Tod ihrer Mitbürger.

Der Heilbronner Finanzmakler besucht den Arzt Dr. Joseph Loy. Den Mediziner und den Makler verbindet Geschäftliches. Dr. Loy taxiert die Lebenserwartung von Aids-Kranken, die ihre Lebensversicherung verkaufen wollen. Seine ärztliche Prognose bestimmt den Marktwert der Todeskandidaten.

0-Ton (Übersetzung)

DR. LOY:

"Das sind 3.500 Fälle, die wir grade bearbeiten. Wenn wir die medizinischen Daten um 12 Uhr mittags bekommen und alles glatt läuft, machen wir den Fall bis halb sechs verkaufsfertig. Die Händler kriegen unsere Gutachten noch am gleichen Tag."

KOMMENTAR:

Todkranke in Pappkartons, 1A Handelsware. Erledigte Geschäfte im Karton ganz unten, Deceased, verstorben.

0-Ton

INTERVIEWER:

"Was ist der Vorteil im Moment noch von Aids-Policen im Vergleich zu Krebs- oder Alzheimer-Policen?"

ULRICH SCHÜBEL:

(Kaufmann) "Bissel makaber ausgedrückt: Es läßt sich besser kalkulieren von seiten der market-maker. Das klingt jetzt ein bissel brutal, aber es ist so. Aids ist im Moment ‘ne kalkulierbare, doch kalkulierbare Krankheit, jeder kennt’s, jeder weiß, die Immunschwäche führt zum Tod."

KOMMENTAR:

Ein paar Kilometer außerhalb von Atlanta. Ulrich Schübel auf der Fahrt zu einem für ihn schwierigen Termin. Der Makler ganz nah an der Ware. In einer Arztpraxis trifft er den Aids-Kranken Richard. Der Arzt untersucht Richard, um dessen Lebenserwartung zu schätzen. Je näher sein Tod, desto höher sein Wert für den Makler. Schübel sucht sichere Anlageobjekte. Richard braucht eben dringend Geld, er will seine Lebensversicherung verkaufen. Auch wenn die Anlager ganz anders kalkulieren - seine ganze Hoffnung sind neue, extrem teure Medikamente, die sein Leben verlängern können.

0-Ton (Übersetzung)

RICHARD:

"Jetzt gibt es zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Hoffnung. Die neuen Kombinationstherapien sind ein Riesenschritt vorwärts, der vor elf Jahren noch nicht denkbar war. Und da ich es mit den alten Medikamenten schon so lange geschafft habe, hoffe ich, mit den neuen Behandlungen noch zwanzig Jahre herauszuholen."

0-Ton

HELMUT LUTZE:

"Nun, und ich hab’ hier eine Police gekauft, die eine Ablaufleistung von 10.000 Dollar hat. Und bei einer solchen Police ist nicht anzunehmen, daß derjenige dann sich teure Medikamente leisten kann. Was sich der leisten kann, sind vereinzelte Arztbesuche, er kann seine Wohnung weiterhin - seine Wohnungsmiete weiter bezahlen und fliegt nicht da raus. Und - es hilft ihm halt zu einem würdevolleren Verscheiden."

0-Ton

INTERVIEWER:

"Was würden Sie dem Anlager sagen, wenn Sie ihn treffen?"

RICHARD: (Übersetzung)

"Na, einerseits: Danke schön, aber andererseits auch: Machen Sie mal halblang, ich danke noch längst nicht ab. Es ist seine Investition, er hat sich dafür entschieden, aber ich bestimme, wann es so weit ist. Das würde ich ihm sagen."

KOMMENTAR:

Der Kaufmann am Krankenbett. Was geht in Ulrich Schübel vor? Bisher hat er das Geschäft mit dem Tod am Schreibtisch abgewickelt, jetzt lernt er ein Anlageobjekt zum ersten Mal persönlich kennen.

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ULRICH SCHÜBEL:

"Also, ich würde jetzt so weit gehen, daß ich die Police von Richard nicht verkaufen würde, weil ich ihn persönlich kenne. Das ist vielleicht noch der Punkt, der Unterschied dazu: Wenn wir Policen anbieten, kennen wir die Leute nicht, und es sollte auch die Distanz bewahrt bleiben auf die Dauer. Es sind anonyme Policen, und im Hintergrund stehen die Verkäufer. In so’m Fall, wenn man jemand persönlich kennt, ist doch ein bissel anders."

KOMMENTAR:

Den Tod vermakeln - das klappt offenbar nur im Schutz der Anonymität, eben dann, wenn Leben zur Restlaufzeit wird, wenn der Tod Renditen beschert, wenn menschliche Schicksale hinter Namen, Dollars und Prozenten verschwinden. Makabre Geschäfte, gleichzeitig letzter Strohhalm für die Kranken.

0-Ton

HELMUT LUTZE:

"Es ist keine Kapitalanlage, wie sie einem von Banken und so weiter empfohlen werden. Okay, ist es auch, ja, aber - es ist eben - eine auch humanitäre Investition. Und ich finde, ich hab’ also - man kann ein ausgesprochen gutes Gewissen dabei haben, wenn man weiß, daß man da Geld investiert hat."

0-Ton

ULRICH SCHÜBEL:

"Der humanitäre Gesichtspunkt ist an und für sich der, daß man seine moralische Bedenken etwas zur Seite schieben kann, indem man sieht, daß es für beide Seiten gut ist. Aber mit Sicherheit wird der kalkulatorische Faktor der entscheidende sein, um so ein Geschäft zu tätigen."

KOMMENTAR:

Irgendwann in den nächsten zwei Jahren wird Richard vermutlich sterben. Der Todestag des Kranken: Zahltag für den Anleger. Was empfinden Herrn Schübels Kunden, wenn sie die Todesnachricht erreicht?

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HELMUT LUTZE:

"Naja, dann sag’ ich: Okay, dann kauf’ ich die Nächste."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 24.10.1996 | 21:00 Uhr