Pharmaindustrie zahlte an 17.000 Ärzte Geld für umstrittene Studien
Die Pharmaindustrie zahlt jährlich etwa 100 Millionen Euro an Ärzte in Deutschland für die Mitarbeit an umstrittenen Studien. Das geht aus einer gemeinsamen Datenauswertung von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung mit dem Recherchezentrum Correctiv.org hervor. Die Journalisten hatten erstmals alle in Deutschland gemeldeten "Anwendungsbeobachtungen" der Jahre 2009 bis 2014 ausgewertet. Bei diesen Beobachtungen handelt es sich nach Einschätzung von Wissenschaftlern größtenteils um Scheinstudien, die vor allem dazu dienen, den Umsatz bestimmter Medikamente zu fördern.
Grundlage der Recherche waren Meldungen zu mehr als 1.300 Anwendungsbeobachtungen, die die Pharmaunternehmen an die Kassenärztliche Bundesvereinigung übermittelt haben (und die durch die Journalisten nun erstmals ausgewertet wurden). Demnach haben allein im Jahr 2014 rund 17.000 Ärzte an Anwendungsbeobachtungen teilgenommen und dafür im Schnitt 669 Euro pro Patient bekommen. Im Zeitraum 2009 bis 2014 flossen durchschnittlich etwa 100 Millionen Euro an Honoraren für die Übermittlung von Daten zu rund 1,7 Millionen Patienten.
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Die Pharmaindustrie führt Hunderte Anwendungsbeobachtungen durch - unter anderem zu Mitteln gegen Allergien wie Oralair. Bei der Anwendungsbeobachtung "ALTO" bekommen Ärzte 675 Euro für die Dokumentation von sieben Visiten.
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Das gemeinnützige Recherchezentrum correctiv.org hat alle Meldungen zu sogenannten Anwendungsbeobachtungen aus den Jahren 2009 bis 2014 in einer Datenbank zusammengetragen - inklusive der gezahlten Honorare.
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Das durchschnittliche Honorar liegt bei 669 Euro. Doch es kann auch weit darüber liegen, wie bei dem blutbildenden Medikament "Mircera" der Firma Roche: 965 Euro erhält ein Arzt für die Teilnahme - pro Patient.
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Ein anderes Beispiel aus der Datenbank ist die Studie "Transform" zu dem blutbildenden Epo-Mittel Aranesp. Der Hersteller zahlt den teilnehmenden Ärzten 583 Euro pro Patient. Dafür müssen die Mediziner oder jemand aus ihrer Praxen monatlich Daten wie die Blutwerte aus den Patienakten in eine Eingabemaske des Auftraggebers übertragen - über einen Zeitraum von neun Monaten.
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Ein weiteres Epo-Präparat aus der Datenbank stammt von Hexal. Hier bekamen die Ärzte 450 Euro pro Patient für die Weitergabe der Daten von fünf Visiten.
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Deutlich weniger gibt es in diesem Fall: Der Hersteller des Nasensprays Dymista zahlt 50 Euro für zwei Visiten.
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Wahrscheinlich das älteste Mittel unter den beobachteten ist Klostefrau Melissengeist. Hier hat der Hersteller eine Anwendungsbeobachtung aufgelegt zum therapeutischen Nutzen des Mittels bei Beschwerden durch die Wechseljahre. Der Lohn für die Ärzte: 225 Euro pro Patientin für die Dokumentation von drei Visiten innerhalb von acht Wochen.
Wissenschaftlich wertlos?
Der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Prof. Dr. Jürgen Windeler, bezeichnet in Panorama diese Anwendungsbeobachtungen als "wissenschaftlich wertlos". Der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, kritisiert vor allem die weit verbreiteten Anwendungsbeobachtungen bei generischen Krebsmedikamenten. "Ich vermute, dass man mit Hilfe von Anwendungsbeobachtungen Ärzte auf einzelne Hersteller einschießen will."
Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) teilte dagegen auf Anfrage mit, Anwendungsbeobachtungen seien ein "unverzichtbares Instrument für die Arzneimittelforschung". Denn anders als bei klinischen Studien würden hier Informationen über Arzneimittel unter Alltagsbedingungen gewonnen.
Kritik an dem nun erstmals bekannt gewordenen Ausmaß dieser umstrittenen Studien kommt jedoch auch von Karl Lauterbach, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. "Es ist ganz klar Ziel der Pharmaindustrie, über diese Anwendungsbeobachtungen Patienten zu rekrutieren", sagt Lauterbach. Das Ausmaß zeige, dass die bisherigen Regelungen nicht ausreichten. Lauterbach fordert deshalb in Panorama, dass Anwendungsbeobachtungen nur noch stattfinden dürfen, wenn sie "von dritter und unabhängiger Stelle geprüft und genehmigt werden."
Wieviel Geld für welche Präparate?
Erstmals kann jeder Patient und jede Patientin nun selbst recherchieren, ob das eigene Medikament im Rahmen einer Anwendungsbeobachtung gefördert wird und wie viel Geld die Pharmahersteller für bestimmte Präparate an Ärzte zahlen. Correctiv.org hat alle Meldungen der Jahre 2009 bis 2014 in eine frei zugängliche Datenbank übertragen, die ab Mittwochabend auf der Internetseite der Plattform verfügbar ist.
Links
Mehr zum Thema bei Panorama am 10.3.2016 um 21:45 sowie in der Süddeutschen Zeitung, auf correctiv.org, sueddeutsche.de und tagesschau.de.